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Jakob Lehmann

Georg Brittings Gedichte

„Raubritter" — „Der Morgen" — „Die Goldene Forelle"

Didaktische Vorüberlegungen

Spezielle Lernziele für die Betrachtung von Ly­rik sind in den Rahmen des allgemeinen Lern­zieles einzupassen, nämlich den Jugendlichen in seiner Suche nach einem hinreichenden Selbst- und Weltverständnis mit Hilfe der Literatur zu unterstützen. Die damit gefor­derte Rückkoppelung des Literaturunter­richts am Bedürfnis des jungen Menschen, also an einem Gebrauchswert, bedeutet kei­nesfalls den Verzicht auf die sogenannte schö­ne, hohe. Literatur oder Dichtung etwa zu­gunsten bloßer Gebrauchsliteratur in der politischen oder gesellschaftlichen Aus­einandersetzung. Sie verlangt aber die immer wieder neu zu bedenkende Motivation der Schüler durch eine klare und einsehbare Ziel­setzung. Diese könnte die Arbeit am Gedicht unter drei Aspekten angehen; das Gedicht als ästhetisches, als historisches und als gesellschaft­liches Gebilde.

Gerade weil wir heute in Gedichten nicht mehr autonome, selig in sich selber ruhende, „besonders edle oder schonungsbedürftige Gegenstände" sehen, die „unter Glasstürze und Vitrinen"' gehören, sind wir gehalten, den uns vorliegenden Text in seinen spezifischen Quali­täten aufgrund sorgfältiger Analyse zu erschlie­ßen und seine ästhetischen und — eng damit verbunden — seine semantischen Informationen in von uns zu organisierenden Kommunikati­onsprozessen den Schülern zugänglich zu ma­chen.

In die Reichweite dieses Prozesses, der Ernst macht mit dem Appell des Dichters an den Leser, dieser „möge der Enthüllung, die" er (der Schrift­steller) „durch das Mittel der Sprache vorge­nommen" hat, „zu objektiver Existenz verhel­fen"2, fallen auch

die gesellschaftlichen Zusammenhänge, der ge­sellschaftliche Kontext des Dichters und seines Werkes. Nur so kann der Schüler erkennen, daß der Schriftsteller die Dinge mit anderen Augen sieht, als man es gewohnt ist, daß er Herkömmliches in Frage stellt und den Le­ser verunsichern möchte, so daß dieser auf­gerufen ist, über die Frage: Wie sind die Dinge nun wirklich? zu einem selbständi­gen, neuen Bewußtsein zu kommen.

H. M. Enzensberger, zit. nach H, Kügler: Literatur und Kommunikation. Ein Beitrag zur didak­tischen Theorie und methodischen Praxis. Stuttgart t971, S. rro f.

J. P. Sartre: Was ist Literatur? Ein Essay. Rowohlt Verlag, Hamburg 1958, S. 30.


Dabei wird der Schüler feststellen, daß der Schriftsteller mit seinen Mitteln arbeitet, also mit sprachlichen und formalen Qualitäten, deren Analyse den Leser in seiner Konimu­nikationsfähigkeit bereichert. In gleicher Weise wird ihm verständlich, daß das Gedicht etwas Historisches darstellt, und zwar als zeitlich fixierbare Auseinandersetzung mit anstehenden Problemen und mittels zur Verfügung stehen­der oder vom Autor neu geschaffener Mittel. Solche Einsicht erst ermöglicht, von einer oft nur suggerierten bzw. geheuchelten museal- statischen Bewunderung weg zu einer dynami­schen, nie zu Ende kommenden geistigen Auseinandersetzung zu gelangen, die in den tradierten Werken interessante Modelle versuch­ter Weltbewältigung erkennt und Gewinn daraus zieht für die zeitgenössische Aufgabe gegen­über ähnlichen Mächten und Wirklichkeiten. Solche Kenntnis schafft Distanz, indem sie Gewordenes auf seine Ursprünge, Bedingun­gen und Voraussetzungen zurückführt, und läßt die Gegenwart als ein bloß Vorläufiges, keineswegs Abgeschlossenes und somit als He­rausfordernug zu möglicher Umgestaltung auf Kommendes hin erkennen. Den Sinn dafür zu entwickeln, daß Dichtung jeweils das ge­schichtlich Mögliche realisiert, hat Adorno den geschichtsphilosophischen Takt ge­nannt. Daß ein literarisches Werk dabei als „freies ästhetisches Gebilde die Realität hin-


ter sich" 3 lassen kann, unterstreicht seine Eig­nung für die uns aufgetragene emanzipatori­sche Erziehung der Jugend.

In diesem Sinne erscheint die Beschäftigung mit zwei bzw. drei in ihrer Entstehung zeitlich auseinander liegenden Britting-Gedichten gerechtfertigt. Sie bieten — auch für schwäche‑

. re Schüler — keine besonderen Schwie­rigkeiten, sind — bei viel Gemeinsamem — in ihren formalen und inhaltlichen Unterschie­den besonders signifikant, machen damit die Entwicklung des Dichters deutlich und erhellen in Anlaß und Intention seine Beziehungen und seine Stellung zur Zeit, in der sie geschrieben wurden. Brittings Naturauffassung ist Teil sei­nes Wehbildes; das Zurücktreten dieses Themas im modernen Gedicht widerlegt nicht die alte Erkenntnis, daß Wesentliches über sich selbst erfahren kann, wer sich der Natur zuwendet, und sei es unter dem Aspekt der Urnweltver­schmutzung. Ausgaben und Auflageziffern von Britting-Gedichten, die Nachfrage nach ihnen in Bücherreihen und Buchhandlungen, ihre Verbreitung in Zeitungen und Zeitschrif­ten, Anthologien und Lesebüchern, der Um­fang der mit ihnen befaßten Sekundärliteratur und die Zugehörigkeit der Leser zu bestimm­ten Schichten, Lebensaltern, Berufen usw.

— 3 U. Karthaus: Die geschichtsphilosophische Sonnenuhr. In: Deutschunterricht 1-1.6/1972, S, ior


könnten — in Gruppenaufträgen erarbeitet die Frage nach der Geltung und Wirkung Brit­tings in unserer Zeit beantworten helfen und in der Konfrontation mit der Entstehungszeit ein Urteil erleichtern. Hierbei würde der Schü­ler den Öffentlichkeits- oder politischen Cha­rakter von Dichtung erfahren.

Raubritter

1,1 Zwischen Kraut und grünen Stangen

2 Jungen Schilfes steht der Hecht,

3 Mit Unholdsaugen im Kopf dem langen,

4 Der Herr der Fische und Wasserschlangen,

5 Mit Kiefern, gewaltig wie Eisenzangen.

6 Gestachelt die Flossen: Raubtiergeschlecht.

11,1 Unbeweglich, uralt, aus Metall,

2 Grünspanig von tausend Jahren.

3 Ein Steinwurf! Wasserspritzen und Schwall:

4 Er ist blitzend davongefahren.

I 1 7.1 Butterblume. Sumpfdotterblume, feurig, gelblich rot,

2 Schaukelt auf den Wasserringen wie ein Seeräuber­boot.

Neben Sonne und Mond, Gewitter und Regen, den Jahres- und Tageszeiten gehören Korn und Mohn, Weiher und Bach, Vogel und Fisch zu den bevorzugten Bestandteilen der Din::welt in Brittines l'jiturlyrik. Darauf verweisen auch seine Titel für Gedichti)l-nde, wie Rabe, Roß und Hahn (1939), Unter hohen Bäumen (195ri, Der unwerstörte Kalender (r96. sowie Regenlieder und Gedichte vom Strom als Unterabteilun­gen der Gedichtdnmlum; Der irdische Tag (1935), der unser Gedicht entnommen ist.

Lassen wir die Schüler — bei auffallenden äuße­ren Merkmalen einsetzend zusammenen, was sie an bemerkenswerten Bau- und Bestand­teilen dieses Gedichtes finden, dann kann eine Erörterung und Ergänzung des Gefundenen an Hand einer genaueren Analyse der sechs, vier bzw. zwei Verszeilen umfassenden drei Strophen beginnen.

Die erste Strophe gibt eine eindrucksvolle Be­schreibung des Hechtes in seiner Umgebung. Steht als einziges Verbum für den über die sechs ersten Verszeilen sich hinziehenden Satz be­zeichnet das Fehlen jeder Bewegung in dieser Strophe, wobei der vierfache weibliche Reim­ausgang mit der a-Lautung und die gleichmäßige trochäische Taktfüllung in den vierhebigcn er­sten beiden Verszeilen den Eindruck des Statisch- Unbewegten unterstreichen. Erst mit der genaue­ren Beschreibung des Tieres. die im wesentlichen eine durch Metaphern und Vergleiche vermittelte Wiedergabe der Eindrücke von dem Tier lei­stet, wird der Rhythmus unruhiger. In Verszei­le 3 und 4 wird die trochäische Taktfüllung einmal, in 5 und 6 zweimal daktylisch unterbrochen, und in denselben vier Verszeilen treten einsilbige Auftakte hinzu. Die Gefährlichkeit und das Unberechenbare des stehenden Tieres beunruhigen den Leser


den Tieres beunruhigen den Leser gleichsam auch vorn Metrum und Rhythmus her. Die Lautung (Zischlaute in I, 2, 4; die Folge u o— au — o in I, 3 und die harten Konsonanten, alliterie­rend kr — gr in I, i, dann k— — st in I, s/6) unterstützt diesen Eindruck von einem Nicht-Geheueren. Auch die Syntax trägt da­zu bei: vier Zeilen lang affektiv nachgestellte Attribute, in der Häufung und Wiederholung (mit . . in 1, 3 und 5) die Ebene der gegen­ständlichen Beschreibung (langer Kopf, Kiefer, stachlige Flosse) übersteigend und damit un­verkennbar übertreibend, Angst einjagend. In betonter Endstellung dieser Strophe nach der Zäsur des Doppelpunktes ein "summa sum­marum", das (zumindest assoziativ) zur überschrill zurücklenkt und im männlichen konsonantisch harten Vcrsal.g:gang an Verszeile 2 anknüpft: Rattlytierg,25,..-hleCht.

In der zweiten Strophe gelten die beiden ersten Zeilen mir pointiert hingestellten Wortzusammensetzungen, verblas aneinander gereiht, nochmals der Charakteristik des Untieres, wobei jetzt das Bild sich weitet bzw. an Tiefe gewinnt durch seine Einl7ettung in eine zeitliche Dimenson: Das uralt assoziiert grünspanig tausend Jahre, rund auch Metdill gehört hierher: mehr Mn Sinne der Abstrabierungstendenz etwa beim Märchen, weniger in Zusammenhang mit Ei­senzangen in einem schwerlich zu stützenden menschlichen Bezug. den der Titel


chen Bezug. den der Titel nahelegt, zu in­terpretieren. Das Bild, das von der Natur entsteht, bleibt ohne Dämonisierung und Sinnbildlichkeit, es wahrt seine Eigenstrudigkeit, indem es in solch kleinem Ausschnitt „das Außerordentliche und Großartige in der Na­tur"' erfahrbar macht. Im Elementaren — die Dinge in ihrem Bereich belassend — sucht Britting einen Weltzusammenhang zu fassen, der ohne solchen Tiefgang nicht zu erreichen wäre.

Die dritte Zeile bringt die einzige Handlung in dem Gedicht; aber ein zusammengesetztes Substantiv (mit unbestimmtem Artikel und Ausrufezeichen) genügt dafür. Die Wir­kung wird ebenfalls substantivisch angedeutet, dann folgt (hinter einem Doppelpunkt) das Er­gebnis im Tempus der Vollendung,: Er ist Blitzend davongefahren. Es ging so schnell, daß man nur den Vollzug registrieren kann. Wieder helfen Lautung, Unruhe in Versmaß und Rhythmus, Stauungen und Synkopen sowie syntaktische Mittel zusammen, diesen plötz­lichen Einbruch in das Statisch-Monumentale dieses Naturausschnitts sinnlich mitemp­finden zu lassen. Aber Britting geht es nicht um suggestive Beschwörung von verzauberten Eindrücken, die den Leser gefangen nehmen und in ein Gefühlspathos verstricken möch­ten.


Das Motiv des Steinwurfs (übrigens in Steht ein Fischer in der Flut aus Rabe, Roß und Hahn wieder aufgenommen) knüpft an die kind­liche Naivität der -Übertreibungen in I an. Der Kontrast zu den vorangehenden Verszeilen 11, r und z ist groß; die hier erzeugte Stimmung wird — so als sei dem Dichter selbst nicht geheu­er — restlos zerstört, und der Verdacht verfe­stigt sich, daß Britting auch das in Strophe 1 Ge­staltete nicht ernst nimmt. Anders formuliert: Britting entzieht sich der dialektischen Span­nung zwischen realistischer, naturkundlicher Schilderung und symbolverhafteter Transzendie­rung ins Menschliche durch das gleichsam au­genzwinkernde Mittel der grotesken Ver­fremdung.

Ein Blick auf die letzte, nur zwei Zeilen umfassende, aber auf ie sieben Hebungen ver­längerte Strophe vermittelt zunächst den Ein­druck von einem Idyll der äußeren Ruhe: Das (im Gedicht dritte und letzte) Verb wieder im Präsens; die Nachwirkungen des Steinwurfs und Wegschnellens des Hechtes in den Wasser­ringen; die Farbangaben als Nachzittern des Gefährlich- Lauernden (vgl. dazu die blitzend- hellen Vokale i — i — i ie zwischen den dunklen) und Seeräuberboot für die auf dein

C. Heseillaus: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan

Die Rückkehr zur Bildlichkeit des Spradse. Bagel Verlag, Düsseldorf 1961, S. 351.


Wasser schaukelnde, erst mit dem volkstümli­chen, dann mit dem botanischen Namen ge­nannte Blume als abschließende Rückver­bindung an den Titel des Gedichts. Man fühlt sich an eine magische Pan-Stimmung erinnert; aber die Assoziation Seeräuberboot — Raubritter ist wenig zwingend; sie ent­stammt der naiven Optik mit ihren Übertrei­bungen der ersten Strophe und bestätigt unse­re Vermutung, daß Britting hier mit dem Mittel der grotesken Verformung gearbeitet hat. Bei aller Sinnlichkeit der Brittingschen Natur­bilder gibt es öfter auch das „Metallische", „allem Gefühlig-Verwandten entgegengerich­tet"5, wie es auch das Märchen als Stilmittel kennt. In dem Gedicht Neben einer Weide lie­gend heißt es: Es flimmert die silberne Weide, / Darunter der Raubknecht steht, 1 Von seinem Schuppenkleide / Glanz durch die Wellen weht.' In Steht ein Fischer in der Flut lesen wir: Als sei er aus Perlmutt, / Blitzend, wie Silber tut, / Zieht er dahin, I Der mohren­schwarz schien.' Und wie in einer Reihe ande­rer Gedichte der Hecht als Raubfisch ange­sprochen wird, heißt es in dem Gedicht Auf dem Fischmarkt: Das Raubzeug, wüst und gestachelt . . . und vorn Hecht: Das schreckli­che

1). Bude: Georg Britting. Geschichte %eines

S. 62. G. Britting Gesamtausgabe. Gedichte 1919-1939. a. a, 0., 8. 29. ebd. S. 142


Haupt.' Auch hier also immer wieder das Bemü­hen um Distanz, ein Umbiegen ins Harte, Kühle und dadurch ein betonter Verzicht auf vermenschlichende Bilder. Dieses gleichsam Achtung zollende und gebietende Abrücken von den Dingen der Natur beläßt sie in ihrem dem Menschen unzugänglichen Bereich und damit für den Betrachter in Gleichgültigkeit oder auch in undurchdringlicher Rätselhaftigkeit.

„Der magische Glanz der Naturdinge tritt durch die untertreibende Groteske um so rätsel­hafter", aber eben nicht im Wechselspiel von Verlockung und Schauder, sondern einfach in ihrer Undurchdringlichkeit hervor. "Das Ma­giSche ist gebrochen, um die schillernde Unzu­länglichkeit der Natur hervorzutreiben."9 Vgl. dazu in dem Gedicht Gras die Strophe:

Wie sich die Eisenringe wetzen!

Gelbes Gold das Schuppenhemd.

Die gestielten Augen widersetzen

Sich den Menschenaugen fremd"

Das ist wohl deutlich genug, obwohl auch hier — wie es einmal Piontek formuliert hat — alles eingewoben bleibt in die Bilder und Reflexion nicht herausgelöst wird. Mit scharfem Blick

G. Britting Gesamtausgabe. Der unverstörte Kalen­der. Nadlgclassene Gedichte. IvIiinchen 1965, S. 29. C. Heselhaus: e. a. o., S. 353.

" G. Britting Gesamtausgabe. Gedichte 1919-1939. a. a. o., S. 28.


versucht Britting die Wirklichkeit der natur lichen Dingwelt zu durchdringen, um die da­hinter sich verbergende andere (eigentliche?) Wirklichkeit zu erforschen. Dazu geht er hier den Weg über die groteske Verformung.

Daß es daneben noch andere, ebenfalls über den Expressionismus hinausführende Wege gibt, mag vor der eingehenden Betrachtung des Gedichtes Die goldene Forelle ein kleiner Ex­kurs verdeutlichen.

Der Morgen

1,1 Der Morgen graut über die Dächer

2 Stumm herauf.

3 Er reißt den silbernen Fächer

4 Des Himmels auf.

11,1 Kühl durch die Windgemächer

2 Rinnt grün das junge Licht

3 In den Tag, der mit Schlag und Gelächter

4 Anbricht.

Drei Sätze auf zwei vierzeilige Strophen verteilt: zwei auf die erste, einer auf die zweite Strophe, und drei Reime, davon einer viermal und damit die beiden Strophen zusammenknüpfend, die beiden anderen zweimal zur Endreimbindung eingesetzt, — vermitteln ein übersichtlich geglie­dertes, sehr eingängiges und in sich abgerundetes Ganzes. Im ersten Satz steht gleich am Anfang der ersten Verszeile das Thema-Wort, als Sub­jekt syntaktisch hervorgehoben und betont.


Während das Wort Dächer als einzige Ortsan­gabe (für Dorf oder Stadt) fungiert, erleben wir den Tagesanbruch ohne sonstige landschaftliche Kulisse in einem bewegten dynamischen Vor­gang. Britting gestaltet ihn durch die vokalisch- lautlich kräftigen Folgen von der Tiefenlage o — au — ä u — cau (I, 1, 2) zur folgenden hel‑

leren Lage ei — ä i sowie durch die, eine starke Bewegung ausdrückenden, Richtungs­Komposita graut . . herauf und reißt . . . auf Schließlich stellen sich auch die metrische Fül­lung der Takte (immer wieder daktylisch durch­setzt) und der steigende Rhythmus in den Dienst der Sprachwerdung dieser auf Bewegung und Ge­schehen abzielenden Motive. Eine weitere Ver­sinnlichung oder Konkretisierung bleibt aber aus. Die nicht alltäglichen Bilder des stürmisch vom jungen Morgen aufgerissenen silbernen. Fä­chers und der Windgemächer deuten auf die Ab­sicht des Dichters, nicht zu schildern oder zu beschreiben, sondern zu stilisieren».

Zwar bleiben die Sinneswahrnehmungen der Temperatur und Farbe sowie des Akustischen, das von stumm in I, z bis zu Schlag und Gelächter in II, 3 (fanfarenbetont durch den Schlagreim Tag... Schlag) anwächst, in echt Brittingscher Wei­se in gelungenen Metaphern eingefangen und tut auch der in den Sog der Aufwärtsbewegung zwin-

" Vgl. dazu die Untersuchung von D. Bode a. a. o., S. 58 f.


gende Rhythmus das Seine (vgl. dazu das Urteil Walter Höllerers: „Viel schafft d.er Rhythmus. Mehr noch erreicht das Bild.")` In immer neuen, das ich ausklammernden Ansätzen versucht Brit­ting, die -unausschöpfbare Fülle des Na­turgeschehens in den Griff der bildenden Dichter­sprache zu bekommen. Aber sie stehen im größeren Rahmen des Versuchs, das Eigentliche, das Wesen, das von Umgebung und Subjekt Unabhängige des gewählten Ereignisses herauszuschälen und dar­zustellen. Dietrich Bode nennt es einen „großarti­gen Abstraktionsprozeß", der im Bild „eine Essenz des Vorgangs" zu gewinnen bemüht ist. Wilhelm Worringer spricht in seinem Werk, das den, gera­de diese damalige Umbruchssituation kenn­zeichnenden, Titel „Abstraktion und Einfüh­lung"4 trägt, von einem „Kampf zwischen dem Menschen und dem Naturobjekt". Diesem Kampf gilt neben der grotesken Verfremdung des Raub­ritter-Gedichts in den vorliegenden Morgen-Versen Brittings Bemühen um Abstraktion; es ist gleich­sam die andere Waffe des Dichters im eben ge­kennzeichneten Gefecht. Auch der Zwang zu objektivieren, den sich der Dichter auferlegt, klammert jede Beziehung zum Menschen, jede emotionale oder gefühlsmäßig-mitempfindende Begleitung aus und überwindet damit die expres‑

W. Höllerer: Georg Britting. In: Weltstim­men. 1952, S. to°. " a. a. o., S. 58.

" W. Worringer: Abstraktion und Einfühlung. 12. Aufl. 1921, S. 49. " D. Bodc: a. a. 0., S. 59


sionistische Tendenz hin zum Menschen und zu seiner Verschmelzung mit der Natur.

Dies als Einblick in einen Stil- und Epochen­wandel und in die Vorbereitungen einer neuen Naturlyrik unseren Schülern zu gewähren, gehört mit zu den Lernzielen unserer Gedichtsbetrach­tung. Vergleiche mit anderen Morgen-Gedichten, wie etwa I-Iofmannsthals „Vor Tag", Dehmels „Die stille Stadt'', Carossas „Alter Baum im Sonnenaufgang" oder auch Weiss' „Morgen­Leis" können in Gruppenarbeit das Gesagte noch verdeutlichen und die „Kraft des Formens und Verformens ... an der Realität" nachweisen und aufspüren lassen.

Die goldene Forelle

1,1 Da schie ßts heran — die goldene Forelle

2 Hängt an dem Haken, schüttelt wütend dran

3 Und wirll sich hoch und peitsch! im Sturz die Welle.

4 Und reißt sich tiefer nur den Eisenzahn_

11,1 Der Fischer zieht sie an der Schnur heran,

2 Und aus dem Dunklen hebt er sie ans Helle.

3 (Dort sprang sie manchmal hin, nach der Libelle,

4 Und fand noch stets, daß man nicht atmen kann

111.1 In dem vom Licht durchblitzten Ungewässer,

2 Hel gern zurück in die vertraute Flut

3 Lind atmete undfand es da viel besser.)

IV, I Uns wird —wohin? ins Licht? ein Angler heben.

2 Und ob wir dann zu atmen und zu leben

3 Vermögen in der ungewohnten Glut?


Wie der Hecht gehört auch die Forelle zu den immer wieder gewählten Motiven der Britting­schen Gedichte, und zwar von der Sammlung Der irdische Tag (1935) über Lob des Weins (1944) und Unter hohen Bäumen (1951) bis zu seinen nachge­lassenen Gedichten in der Ausgabe Der unverstör­te Kalender (196 5 ). Dabei übernimmt sie — frei­lich in ganz friedlicher Weise — das eine Mal die

Rolle des Hechts: Im Bach ... / ... / Ohne Regung
die Forelle steht, / Wie aus Glas und rötlich bemalt"; zum

andern ist es ihr Springen und ihr Dahinflitzen,
das den Dichter immer wieder beeindruckt: EH-

ritze und Forelle blitzt / Wie Feuer in der Glut"; In dem Bache die Forellen / Springen wie der Heuschreck schier", oder: Was macht jetzt die Forelle, / Die Som­mers wie ein Pfeil hinscho ß?". Schließlich ist es die Jagd auf sie, ihr Fang mit der Hand: o hätt ich die

geschickte Fänger- hand — / Ich holte mir die goldene Forelle ..."

" G. Britting Gesamtausgabe. Gedichte 1919-1939. a. a. o. S. 95.

17 ebd. Gedichte 194.o-1951, S. 163.

19 ebd. S.1-74.

"2 ebd. S. 222. " ebd. S. 2 1 2


Damit ist bereits unser Thema angeschlagen, das in dem vorliegenden Gedicht freilich eine Behandlung erfährt, die sich schon durch die Sonettform von dem Raubritter-Gedicht unter­scheidet. Wir erwarten entsprechend der strengen Form und ihrer strophisch-metrischen Gliederung mit symmetrischem Bauwillen ein gedanklich be­herrschtes Sprechen mit — dem Einschnitt zwi­schen Quartetten und Terzetten gemäßen — anti­thetischen Aussagen, die im mächtigen Schlußklang einer Lösung zugeführt werden. Und was finden wir bei Britting?

Die erste Strophe kennzeichnet der unmittelba­re Einsatz mit einer alle Aufmerksamkeit auf sich ziehenden, heftigen Bewegung. Der deiktische Einstieg mit dem deutenden Da und einem balla­desken (vor Aufregung auch noch Aderten) Es erhöht die Spannung; der Gedankenstrich setzt eine Fermate, gleichsam zum Atem-Anhalten; dann aber suggerieren fünf Verba (schießt, schüt­telt, wirf, peitscht, reißt) den dramatischen Vorgang und werden dabei noch unterstützt durch die Partizipialform wütend und das Bewegungssub­stantiv Sturz. Auch der zwischen hoch und tiefer aufgerissene Gegensatz, die Alliteration bei hängt. und Haken, schießt und schüttelt (mit lautma­lerischem Nachklang in peitscht) und die spit­zen Vokalklänge ü ü (I, 2), ei ei ei (I, 314) stehen zusammen mit dem über vier Verszeilen durch Enjambement und dreimaliger und-Fügung ausgreifenden einen Satz im Dienste der unmittel‑


baren Gestaltung der unaufhaltsamen Bewegung. Aufregung verrät auch der Rhythmus, der neben der Zäsur in i auch noch durch den Stau in 2: Synkopenwirkung bei Hängt an . . . gekennzeichnet ist. In instinktiver Abwehr einer Gefahr, die durch das Versetztwerden in ein Ganz-Anderes (in dem man erfahrungsgemäß geblendet wird und den Atem verliert) sowie den unaufhaltsamen Riß des Eisenzahns wahrgenommen wird, bäumt sich die Kreatur, die eben noch in vollendetem Einklang mit ihrem Element beim Heranschie­ßen stand, mit allen Kräften des Lebens auf.

Im Gegensatz dazu beruhigt sich in der II. Strophe die Bewegung im Satzbau (jeweils eine Verszeile trägt eine Satzhälfte), im gleichmäßig gewahrten Metrum und gleichförmigen Rhyth­mus: in gelassener, unbeirrter Bewegung geht der Fischer seinem Handwerk nach. Nur in der An­gabe der Richtung, die die Schnur nimmt, taucht nochmals der Gegensatz aus dem Dunklen ans- Helle auf. An ihm knüpft assoziativ — in einer Art Rückblende — die Erinnerung des Fisches an und erstreckt sich wiederum mit Enjambement in das erste Terzen hinein. Wie bei gelegentlichen Jagdausflügen (nach der Libelle) beunruhigt ihn der Kontrast zwischen dein ungewohnten Ele­ment (Ungewässer, vom Licht durchblitzt), in das man sprang und in dem man nicht atmen konnte, und dein vertrauten der Flut, wo man atmet und es viel besser fand, so daß man gern dorthin zurückfiel. Die Einrückung in Klammern


weist auf den Exkurs, der, in dichter Einfühlung gestaltet und in seiner Wirkung dem inneren Monolog angenähert, den Berichten von Men­schen in Todesgefahr entspricht, wonach ihnen besonders eindrucksvolle Teile ihres Lebens blitz­artig durchs Gedächtnis schossen.

Zum Menschen wendet sich das zweite Terzett. Das Uns bezeichnet den (eigentlich schon beim ersten Terzett von der Sonett- form geforderten) Neueinsatz. Der fragende Blick in unsere ver­hüllte Zukunft knüpft in seiner rhythmisch- metrischen Gestaltung (mit Zäsur, Gedanken­strich und parenthetischen Fragen) an die Dra­matik der ersten Strophe an. Der Angler ent­puppt sich als ein Bild des Todes (neben vielen anderen Figuren, die diesen Totentanz, aus dein unser Sonett genommen ist, bestreiten). Die Schlußfrage knüpft an das Erleben der Forelle und ihre instinktmäßige Abkehr von dem Unge­wohnten und seiner Helle jetzt wieder aufge­nommen durch das steigernde Wort Glut in beton­ter Endstellung — an. Noch einmal bricht der schon erwähnte Gegensatz auf: vertraute Flut ungewohnte Glut (III, a und IV, 3); auch die Wie­derholung des Verbums atmen (in III, 3 und IV, 2) und die Variante von fand es da viel besser durch zu leben vermögen bringen die zwei Pole in Erinne­rung, um die das Gedicht kreist und mit ihm der große Zyklus, in dem es steht. Der Tod wird zur anderen Seite des Lebens: Hier die Fülle und strahlende Helle, die sich tausendstimmig be‑


merkbar macht und mit ihren Farben, Klängen, Düften und Bewegungen in einen sinnlichen Rausch versetzt, der zur Gestaltung, zur Aussage im Gedicht drängt; dort das Dunkle, die Unge­wißheit, gleichsam als Kontrapunkt, ebenfalls allezeit gegenwärtig und mit dem Hinweis auf Endlichkeit und Vergänglichkeit. mahnend und drohend. Dort das Bemühen seiner Gedicht­sammlung Der irdische Tag, hier das Nichtauswei­chen in der Folge Die Begegnung.

Brittings Dichtung geht beide Wege und ringt sich durch zur Liebe zum Leben, mag es auch noch so vergänglich sein.

Aus Brittings Biographie wissen wir, daß die meisten dieser Totentanz-Sonette mit häufig po­pulären Motiven und gerade ob ihrer Naivität wirksamen Bildern in den vierziger Jahren ent­standen, wo einmal der Zweite Weltkrieg mit sei­nem Massensterben und -morden den Tod — nach Brittings eigenen Worten — zu einem unerschöpfli­chen Thema machte, andererseits sehr viele Dichter zum Sonett ihre Zuflucht nahmen vor der stilisti­schen „Unsicherheit alles Schöpferischen in tota­litärem Staat"21. Das NS-Kulturdiktat entpuppte sich angesichts der tödlichen Realität, in die seine Ideologie geführt hatte, als leere, gedankenfeind­liche Macht, so daß — und das reichte bis in die Wir­ren der ersten Nachkriegszeit — die meisten Auto­ren, vor allem die im Lande gebliebenen, Halt an der festen Gefügtheit des Sonetts und antiker


Strophenformen suchten und fanden. Andres, Ber­gengruen, Hagelstange, Haushofer, Holthusen, Kaschnitz, Niebelschütz, Pentzoldt, Schnack, Reinhold Schneider und andere gehören hierher.22

Britting freilich erlaubt sich einen. freien Um­gang mit den Formzwängen des Sonetts. Er rauht gleichsam seine Glätte und Eleganz auf und macht es seiner zupackenden, urwüchsigen Sprache zu­gänglich durch die Mischung von weiblichen und männlichen Versausgängen, durch Unreinheiten der Reime, die meist auf fünf beschränkt bleiben, und durch ein individuell variiertes Reimschema. Der Rhythmus verläuft nicht in einem glatten Fluß, sondern weist affektive Hervorhebungen, Stau­ungen, Zäsuren und Synkopen auf. Die Opposi­tion setzt nicht beim ersten, sondern beim zwei­ten Terzett ein, wodurch das antithetische Bau­prinzip zwar gewahrt wird, nicht aber die strenge Symmetrie.

Vielleicht liegt auch darin mit ein Grund für die Tatsache, daß Brittings Lyrik neben der moder­nen bislang noch immer ihren Platz behauptet hat im Sinne des Wortes von Heinz Piontek,

D. Bode: a. a. o., S. 91.

22 Übrigens weiß man auch seit dem Erscheinen seines „Arbeitsjournals [938-1955", daß selbst. Bert Brecht während des Balkanfeldzugs an den holprigen famben seines „Arturo Ui" gefeilt und geschliffen und über diese Tätigkeit vermerkt hat: „es sind gute exerzitien". (Nach R. Baunigart: Leben in der dritten Person. In: Süddt. Ztg. v. 17./18. 2. 1973).


das er in seinem Nachruf auf Britting geprägt hat: „Diese toten Dichter sind nicht zum Ver­stummen zu bringen." 23

Gleiches gilt von seinem großen Thema: Der Mensch und die Natur. Die immer neuen Versu­che, diesen gewaltigen Partner Natur sprachlich zu bewältigen, könnten zur kümmerlichen Ku­lissentechnik der heutigen Trivialliteratur mit re­quisitenähnlichem Einsatz von Himmel und Wolken, Tier und Baum oder zu den stereotypen Landschaftsbildern mit künstlichen Versatz­stücken in Film und Fernsehen ein wirksames Ge­gengewicht abgeben, das auch unsere Schüler zur Auseinandersetzung provoziert. Sie stieße dann Sicher auch auf die Problematik, ja die Frage nach der Existenzberechtigung der sogenannten Naturlyrik in chaotischer Zeit, die Bert Brecht mit seinen Versen aus dem Gedicht „An die Nachgeborenen" angesprochen hat:

„Was sind das für Zeiten, wo

Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist

Weil es ein Schweigen über so viele -Untaten einschließt! '24

Seit wir aus Brechts oben zitiertem „Arbeits­journal" wissen, wieviel ihm an solchen „Ge­sprächen über Bäume" lag und seit wir eine wachsende Anzahl von Neuerscheinungen von Gedichtbänden erleben, und dies obwohl man den Tod der Lyrik mit Unfehlbarkeitsanspruch ver­kündet hatte, sollten wir mit apodiktischen Ur-


teilen vorsichtiger sein und unsere Arbeit, beim Schüler für das Gedicht Interesse zu wecken, ent­schieden und beharrlich fortsetzen.

Die drei Britting-Gedichte wurden der Georg Britting Gesamtausgabe in Einzelbänden entnom­men, und zwar Raubritter: Gedichte 1919 bis 1939. München 1957, S. 43; Der Morgen: ebd. S. 8; Die gol­dene Forelle: Gedichte 1940-1951. Nymphenburger Verlagshandlung, München 1957, S. 68.

z3 1-1. Piontek: Georg Brittings lyrischer Nachlaß. In: Siiddt. Ztg. v. 17.1 18./19. 4. 1965.

" B. Brecht: Gesammelte Werke Bd. 9, Werksausgabe edi­tion suhrkamp, Frankfurt a. M. 1967, S. 723.