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© Georg-Britting-Stiftung
Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Band 3-2  Seite 112
Kommentar Seite 468

Aus: »Das treue Eheweib«


Die Geschichte der Monika

Der große Krieg hatte den bekannten unglücklichen Ausgang genommen, Deutschland lag besiegt am Boden, schämte sich seiner Niederlage, begriff sie nicht, tat Buße dennoch, wand sich in Schmerzen und jubelte ingrimmig über seine Not in selbstanklagender Lust. Bruderkampf tobte durch das ausgehungerte Land und eine Teuerung erhob sich, in Ausmaßen, wie man es nie für möglich gehalten hätte, deren Ursache niemand ganz klar sah, am wenigsten das einfache Volk, dem mit dem lateinischen Wort Inflation auch nichts Rechtes gesagt war, und nur spüren mußte, daß ein Pfund Schweinefleisch bald so viel kostete wie einst die ganze Sau. Vergnügungsreisende der Siegerstaaten fielen in Schwärmen über deutsches und österreichisches Gebiet her. Die Geldkurse ihrer Länder standen hoch und sie praßten mit Wenigem schlaraffisch in Berlin und München und Wien. Und wie drollige und schwarzbefrackte Stelzraben wippend und lär-mend die Beutewiese abschreiten, abhüpfen, abflattern, schlaue Aasvögel, von überall her eingefallen, so taten sie, die Reisenden, und so klapperten von Bambergs Kirchenwänden fremde Zauberworte zurück und gelbhäutige Menschen beäugten spöttisch und staunend in Würzburg Mauer und Tor.
In Schwarzenbach, einem Dorf der bayerischen Berge, lebte die Witwe eines im Kriege gefallenen Postboten mit ihrer achtzehnjährigen Tochter von den kargen Bezügen der Hinterbliebenenfürsorge. Es reichte nicht dahin und nicht dorthin, die Schuhe hatten durchwetzte Sohlen, Schmalhans war Küchenmeister, die beiden Frauen mußten sich nach einer Erwerbsmöglichkeit umtun – und was wäre näherliegend gewesen im Alpenland als der Gedanke, aus dem Fremdenverkehr Nutzen zu ziehen?
Mit dem Frühjahr kamen nicht nur die Schwalben wieder und die Schlüsselblumen, auch voreilige Fremde tauchten auf, lagen an den Wiesenrändern herum, sich bräunen zu lassen. Der Haselstrauch rauschte mit grünen Blättern im Wind und weiße Frauenfinger probten, wie saftgeschwellt und bebend die weggebogenen Äste schnalzend in die Ruhelage zurücksprangen. Und die runde Frühsommersonne ging nicht mehr unbeachtet, aus Wäldern aufsteigend, in Wäldern untersinkend, ihren rosigen Weg. Die Fremden schmeichelten ihr wie der Primadonna einer großen Bühne und es hätte nicht viel gefehlt, daß sie in die Hände klatschten, wenn sie bezaubernd lächelnd abends unterging.
In dieser Zeit setzte die Witwe ein Zimmer ihrer kleinen Wohnung in den besten Stand, wischte und putzte, ließ keinen Kasten ungehoben, befestigte Vorhänge an den Fenstern, stellte einen Strauß Wiesenblumen auf den Tisch, nagelte einen Zettel: »Zimmer zu vergeben« an die Haustür, und, wie die Katze auf die Maus, lauerte sie auf einen Mieter. Sie hatte Glück über Erwarten, denn schon ein paar Tage später konnte sie einen hochgewachsenen Herrn im hellen Reisemantel über die krächzende Stiege in den ersten Stock geleiten. Der nahm den Hut nicht ab im Zimmer, warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, griff sich eine Blume aus dem blaubemalten irdenen Gefäß, steckte sie sich ins Knopfloch und während er sich prüfend in dem kleinen Spiegel betrachtete, sagte er: Gemietet! Dann lachte er ohne Grund schallend auf, sich immer noch im Spiegel musternd, drehte sich scharf um dann, schrie: Der Preis? und schlug die Witwe mächtig auf die Schulter, indem er sie belustigt anstarrte. Die Witwe nannte ihn, sie nannte ihn zögernd und mit ein wenig schlechtem Gewissen, er schien ihr reichlich hoch, aber er erlegte ihn seelenruhig für eine Woche im voraus und ließ sich auch nicht herausgeben auf den Schein, mit dem er zahlte, obwohl der Rest den Betrag der Miete für weitere zehn Tage gedeckt hätte.
Der Hochgewachsene war ein Deutsch-Ameri-kaner, hieß John Smith und sprach so gut und besser deutsch als mancher Berliner, der schnarrend sich nach dem Weg zur Bärenspitz erkundigte. Die Bärenspitz war ein hoher Berg, und wenn der Amerikaner aus seinem Zimmer den Arm streckte, konnte er ihn greifen, so dicht lag er vorm Fensterbrett. Die Tannen standen zierlich und nadelgerade, und auf den handtellergroßen Waldblößen lagen die gefällten und geschälten Stämme kreuz und quer und über– und durcheinander wie Zündhölzer. Herr Smith fühlte sich wohl in seiner Einsamkeit. Mit seinen klaren, grünen Augen beobachtete er, wie Rehe vorsichtig sich vom Waldrand lösten, und mit seinem vortrefflichen Feldstecher hinüberlugend saß er, die Beine unterm Tisch, fast erschrocken Aug in Aug mit den Tieren. Aber wenn er in die Hände klatschte, sie zu verscheuchen, merkte er, daß viele hundert Meter hinüber waren, und daß der armselige Schall grad noch über die Straße flog, Spatzen aufwirbelte und dann in der blauen Luft zerging.
Monika, die Tochter des Hauses, brachte ihm jeden Morgen Milch, Butter und Brot aufs Zimmer. Oft hieß er sie bleiben, und wenn die Sonne lustig auf den weißen Brettern tanzte, er seine Buttersemmel kaute, die süße Milch trank und abwechselnd die Bärenspitz betrachtete, die vorm Fenster glänzte, und wiederum das frische Frauenzimmer, das ihm gegenüber saß, wurde er strahlender Laune, lachte und plauderte, daß die Witwe einen Stock tiefer in der Küche es hörte und dachte: Gott sei Dank, er ist zufrieden und bleibt wohl noch eine Woche.
Das Mädchen ließ sich erzählen, wies drüben über dem großen Wasser zugehe, und John erzählte gerne. Von dem sagenhaften Geldkönig mit dem zerknitterten Apfelgesicht, der nur Reisbrei aß, nichts sonst als Reisbrei, aber auf goldenem Teller gereicht, der seinem Hund ein Haus gebaut hatte, größer als das, in dem sie beide jetzt saßen, und der eine große, gelbe, feuergelbe Katze sein eigen nannte, die er mit Kanarienvögeln fütterte. Die Vögel, erzählte John Smith, hockten trillernd auf einem künstlichen Baum, und während der sagenhafte apfelgesichtige Geldkönig seinen Reisbrei vom goldenen Teller löffelte, sah er zu, wie die feuergelbe Katze die feuergelben und trällernden Vögel sich vom Baum pflückte. Dann erstarrte Monika vor Schrecken, und die grünen Augen des flachshaarigen John schienen ihr zu leuchten wie die Augen der bösen Katze, aber sein trompetendes Lachen holte sie in die Wirklichkeit zurück und sie lachte befreit mit.
Drei Wochen blieb Herr Smith. So plötzlich, wie er gekommen war, reiste er wieder ab. Die Witwe war traurig, einen so guten Gast bekam sie so bald nicht wieder, und auch Monika lief einige Tage mit geröteten Augen herum. Aber sie hatten gelernt, wie einträglich es sein konnte, Fremde zu beherbergen, und stellten in der Folge noch ein zweites Zimmer zum Vermieten bereit, während sie sich selber mit der Küche als Wohnraum begnügten und zusammen in einer Kammer schliefen. Zwar so viel wie der Amerikaner zahlte niemand mehr und es gab oft ein wüstes Feilschen des Preises wegen und Unzufriedenheit auf beiden Seiten.
So verging der Sommer, der Herbst kam, ein früher und kalter Herbst, und der Oktober brachte schon Schnee. Die Fremden saßen längst wieder in den großen Städten. An einem weißen Februarmorgen kam aus der Küche ein dünnes, zartes Winseln, wie von jungen Katzen, wie von jungen Katzen, denen die Augen noch verklebt sind, kurz zuerst, stoßweise, und dann ging das Winseln in ein langes, fadengleich sich hinziehendes zittriges Weinen über. Türen schlugen auf und zu, Frauenstimmen wisperten aufgeregt, der Boden knackte, das Winseln vertröpfelte, aber in Pausen meldete es sich immer wieder, hoch und fast wie triumphierend jetzt. Nicht junge Katzen lagen im Stoffrestenest auf der Ofenbank, nein, der Monika ein Kind im Arm. Die Witwe weinte und jammerte, während sie Windeln wusch und Krankensuppen kochte, knurrte böse die Tochter an, während sie ihr die Kopfkissen zurechtschüttelte, schrie zornig auf die Ungeratene ein, die bleich und matt im Bett lag und stumm alles über sich ergehen ließ. Der Vater war weit, weit in Amerika, über dem großen Wasser drüben, wie sollten sie dahinkommen? Leute, die John Smith hießen, gab es viele, Johann Schmidt: wie häufig ist der Name! und wie groß ist New York, groß und unabsehbar! Nach kurzem Bemühen gaben es die beiden Frauen auf, den Mann zu finden, der wohl nicht einmal ahnte, wenn er durch die schwarzen Wolkenkratzerschluchten hastete, daß in einem grünen Tal der bayerischen Berge ihm ein Sohn heranwuchs.
Der Unwille der Witwe gegen den ungebetenen kleinen Gast saß wohl nicht sehr tief, sonst hätte sie ihn nicht so eifervoll betreut und wohl auch nicht so glücklich gelacht, wenn der kleine Hans sie mit festen Fäusten ins Gesicht schlug. Und bald, nach Großmutterart, trieb sie es völlig närrisch mit dem Kind, und war von Herzen froh, daß es da war, und hätte es sich gar nicht mehr wegdenken können. Zornig nur wurde sie, nach der Weise der einfachen und sparsamen Leute, wenn sie bedachte, wie billig der flachsköpfige und mädchenverführende Amerikamann da zu einem Kind gekommen war, für das er nichts zu zahlen hatte, obwohl man doch sonst im Leben nicht das geringste umsonst bekam und für jeden Hund tief in die Tasche greifen mußte.
Monika, die junge Mutter, saß in der ersten Zeit viel am Fenster und sah in den Schnee hinaus, lange, und wenn sie den Blick dann wendete zum Ofen, von dem die Funken flogen, dachte sie vielleicht an die Geldkönigkatze und die feuergelben Kanarienvögel. Den kleinen Hans nährte sie an der Brust, und er gedieh, und die ersten Worte, die er sprach, waren nicht amerikanisch, er sprach deutsch und bayerisch und war vergnügt und kugelrund.
Ein Jahr ging dahin und ein zweites und drittes. Von der Witwenpension und dem Geld, das sie im Sommer durch Vermieten einnahmen, konnten die beiden Frauen gemächlich und sorgenlos leben. Hans lief schon auf kurzen strammen Beinen über die Dorfstraße, und daß er keinen Vater hatte, bekümmerte ihn vorerst wenig.
Vielleicht aber bekümmerte es Monika, die Mutter, doch die Quelle des Kummers, wenn sie ihn empfand, mußte tief und versteckt sitzen, wie eine stille Gewalt, nicht nennbar und nicht genau zu erspähen. Mit Mühe fast besann sie sich, daß in Amerika ein Mann war, flachshaarig und mit grünen Augen und einer Stimme wie eine Trompete, und daß da ein Kind herumlief, krähte wie eine Kindertrompete, das ihr Kind war und seins. Nur drei Wochen war John Smith dagewesen? Hatte sie ihn geliebt? War das gestern gewesen oder vor drei Jahren, kam er wieder oder kam er nie mehr wieder oder war er gar schon tot? Monika war von einem Gleichmut, der die Witwe manchmal erboste, daß sie sich oft sogar fragte, ob die Dahinträumende ihr Kind wohl liebe, wenn sie die ruhige und wie verdrossene Art sah, in der sie mit dem Hans umging, als sei er irgendein Kind und nicht ihr eigenes.
Wie eine Schnecke war sie, Monika, das Mädchen, Monika, die Mutter, ein Traumgehäuse um sich gewölbt, drin saß sie, von den zauberischen Wänden geschützt, durch nichts berührt, und das Leben, das wirkliche Leben, kam nur bis ans Gehäuse, pochte dran, klopfte dran, rüttelte dran. Monika lächelte und blieb drinnen und hörte nur wie im Halbschlaf die Kindertrompetenstimme des kleinen Hans.
Eine Gehstunde von Schwarzenbach entfernt liegt das Dorf, wo alle zehn Jahre von den Bewohnern der Leidensweg Christi im Spiel vorgeführt wird. Heuer traf es sich, daß gespielt wurde, und das war ein großes Ereignis, denn die bäuerlichen Künstler genossen viel Ruhm, aus aller Welt kamen Zuschauer und auch Leute aus dem Lande von jenseits des großen Wassers, von denen sogar besonders viele. Monika und ihre Mutter brauchten nicht zu fürchten, ihre beiden Zimmer nicht an den Mann zu bringen. Die Nähe des Spieldorfes war verlockend und sie hatten schon frühzeitig für den ganzen Sommer vermietet.
Wie einmal Monika im Garten arbeitete, kamen die Dorfstraße daher zwei Damen, eine junge und eine ältere, offenbar Mutter und Tochter. Sie waren gut und ein wenig auffallend gekleidet, Ausländerinnen anscheinend, wie es deren diesen Sommer viele zu sehen gab. Vor dem Hause der Witwe blieben sie stehen, besahen es sich genau, und als sie die Hausnummer gelesen hatten, sagte die Junge: »Das ist es wohl! John hat es mir oft beschrieben! « Sie sagte es auf deutsch, ein wenig hart, im Tonfall unserer Landsleute, die sich drüben seßhaft gemacht haben. In diesem Augenblick kam Hans herangetrabt. Die Junge lachte, fuhr ihm über den blonden Kopf und die beiden Damen, die Monika gar nicht gesehen hatten, gingen weiter. Monika schaufelte noch ein weniges, dann begann sie nachzudenken, und es kam ihr in den Sinn, daß die junge Dame die Schwester ihres amerikanischen Liebhabers sein mochte, der ihr weiß Gott was von Schwarzenbach und seinem Aufenthalt dort erzählt hatte. Gewiß hatte er von ihr, von Monika, nicht gesprochen, und vielleicht war die Junge gar nicht seine Schwester, vielleicht war sie seine Braut oder gar seine Frau.
Seine Frau, dachte sie, und richtete sich auf und blieb gestützt auf die Schaufel stehen, bewegungslos. Seine Frau vielleicht, dachte sie, sicher seine Frau, und warf die Schaufel hin, und ging, ein wenig taumelnd zuerst, in die Richtung, in die sich die beiden fremden Damen gewandt hatten. Sie erblickte sie dann und das war schon ein Stück außerhalb des Dorfes, und der Anblick schien ihren wankenden Knien Kraft zu geben, sie zitterte nicht mehr, sie spannte sich, und mit langen Sätzen, daß ihre Röcke flogen, wie eine Jägerin auf der Jagd, hetzte sie hinter den beiden her, auf dem Weg, der entlang einem nicht breiten, aber tiefen und lautlos strömenden Bach führte, und auf der grünlichen Flut sah sie ihr Spiegelbild, vorwärts stürzend, Sprung auf Sprung, und auch die Röcke flatterten ihrer geisterhaften Begleiterin auf dem Wasser. Nun war sie bei den Damen, und tat noch einen Sprung, nun war sie vor den beiden Damen, und wandte sich um und sagte: » Sie kennen einen John Smith?« Die Junge sah erstaunt und erschrocken auf die Keuchende und sagte etwas zu der Älteren, was Monika nicht verstand, es mußte Englisch sein. »Ob Sie Herrn John Smith kennen?« wiederholte sie ihre Frage und ihre Stimme klang dunkler als sonst. Nun lachten die beiden verlegen und ungewiß, was sie von der Fragerin halten sollten, und die Junge antwortete: »Ja.« Das »Ja«, das die Junge mit klarer Stimme gesprochen hatte, traf Monika wie ein Stoß vor die Brust, daß sie fast getaumelt wäre. »So« , sagte sie, » Sie kennen ihn? Dann wissen Sie vielleicht auch, daß ich ein Kind von ihm habe?« Die ältere Dame zog die Junge an sich. »Komm!« sagte sie, »das ist vielleicht eine Wahnsinnige.« Und die Junge sagte: »Nie würde John das getan haben.« Und die Ältere sagte noch: »Wir wohnen drüben in X. «, und sie nannte den Namen des Spieldorfes, »und ich heiße«, und sie sagte einen Namen, den Monika nicht verstand, sie horchte auch nicht recht zu, sie horchte auf etwas ganz anderes, schiens. »Wenn Sie uns was zu sagen haben, so suchen Sie uns dort auf«, sagte die Ältere noch, und dann setzten die beiden ihren Weg fort.
Die Ältere trug ein dunkelblaues Kleid, das in einem runden Ausschnitt den braunen Nacken freilegte, einen festen, fleischigen und gesunden Nacken. Der Jungen Kleid war gelb, war viereckig ausgeschnitten, und die Haut ihres Nackens war weiß, mit Flaum besetzt, wie mit Goldhärchen. Von Nacken zu Nacken sah Monika, ohne sich vom Fleck zu rühren, vom braunen fleischigen zum weißen goldflimmernden, vom runden zum viereckigen Ausschnitt, so wendete sie den Kopf hin und her und her und hin. Dann hob sie einen faustgroßen Stein vom Boden auf, sah noch, wie ihr Spiegelbild das auch tat, und sprang den beiden nach und versuchte der Jungen mit einem wilden Schlag den Kopf zu zerschmettern. Sie traf daneben, traf nur die Schulter, was schmerzhaft genug sein mochte, denn die Überfallene schrie hell und entsetzt auf. Als Monika Miene machte, abermals zuzuschlagen, drangen die Amerikanerinnen im Gegenangriff mit den Sonnenschirmen auf die Rasende ein. Sie erhielt einen Hieb über den Kopf, wich zurück, rutschte aus, schwankte, fiel in den Bach und klammerte sich an einem Strauch fest, der seine hängenden Gerten über das Wasser breitete. Die Junge hatte wieder aufgeschrien, als sie Monika stürzen sah, aber die Ältere griff mit kräftigen Fäusten zu und zog das Mädchen auf die Böschung herauf, daß sie nur mit den Beinen noch im Wasser hing. »Weg! Weg!« schrie Monika, und die beiden gingen und die Liegende blickte ihnen nach, bis sie hinter einer Bodenwelle verschwunden waren.
Ihre Beine waren noch im Wasser, das war kühl, und nun ließ sie sich tiefergleiten, ganz langsam nur, und hielt die biegsamen Weidengerten gefaßt und hing nun wieder bis zur Brust im Wasser. Und wie sie hing und die kleinen Bachwellchen munter gegen ihre Brust schlugen, zerging das Traumschneckenhaus, in dem sie verkrochen gesessen hatte all die Zeit, alle Wärme ging von ihr, und nackt und frierend wie ein armer Regenwurm, wie eine triefend nasse Wasserpflanze schaukelte sie langausgestreckt. Mit einem Schlag sah sie, was sie sonst nie gesehen hatte, sah klar und überscharf ihr Leben, wie unterm übermäßigen Licht eines Scheinwerfers, sah im unerträglichen Weiß einer gespenstischen Landschaft das Spiel, das gespielt wurde, in dem sie mitspielte, in dem ihr mitgespielt wurde, und sah die riesigen tintenschwarzen Schatten, den die Spieler warfen. Lustig, daß die Braut von John Smith sie in den Bach stieß! Lustig, da hing sie nun und dort gingen die Siegerinnen! Einen Scherz erlaubte sich mit ihr das Leben, einen Scherz von stürmischer und bitterer Art, und die teuflischen, grellen Scheinwerfer waren auf sie gerichtet, daß ihr die Augen brannten von dem allzuvielen Licht, und daß sie sehen mußte, was sie nicht ertrug zu sehen, und so schloß sie die Augen und wie erlöst versank sie wieder in Schlaf und Traum. Das Schneckenhaus wölbte sich wieder, sie dehnte sich, fast behaglich, und weil ihre Arme schmerzten, ließ sie den Strauch los, die Weidenruten sprangen zurück, der Bach trug die Müde gern, nahm sie gern mit. Sie ging unter, die Flut brauste um sie, sie tauchte noch einmal auf, sie drehte sich, ihr Rock blähte sich, und dann schwamm sie, das Gesicht ins tröstliche Wasser gedrückt, wie eine große Luftblase bachabwärts.
Das klatschnasse Stoffbündel, das der Schmied an einer langen Stange, an dem scharfen, krummen Eisenhaken der langen Stange ans Ufer zog, die plätschernde und rieselnde Gewandkugel barg tief innen, wie die Nuß den Kern, Monikas lächelnde Leiche. Sie lag im Gras, und eilige Rinnsale, Bäche und Flüsse schlängelten sich und wanden sich und flossen und schossen fort und dahin. Eine Graskuppe, groß wie eine Faust, nicht größer, wurde von zwei sich zweimal kreuzenden Wasserfäden zur Insel gemacht. Der schillernde Goldkäfer, der auf seinen Wegen und in jeder Richtung immer wieder auf das Strömende stieß, summte leise, summte laut, breitete die Flügel, flog hoch und davon über Gras, Insel und Fluß.
So verhielt es sich mit der Monika, so lief ihr kurzes Leben ab, so starb sie, wie wir alle sterben müssen und wissen auch nicht, ob wir mehr tun als nur träumen. An die Witwe, die den Enkel aufzog, und die ihn auch vor dem Gesetz an Kindesstatt angenommen hatte, kamen in der Folge viele Briefe mit ausländischen Marken, und da zeigte es sich, daß der Amerikamann doch so seine Vermutungen haben mußte, was die Möglichkeit betraf, in Schwarzenbach einen Sohn zu haben, und die Witwe wußte es sich nicht zu erklären, wieso ihm die Ahnung davon auf einmal aufgestiegen war. Aber er erfuhr aus ihren Antwortbriefen, daß er das Richtige glaube, und er erfuhr so auch von dem Tod des Mädchens Monika, und er schickte von da an reichlich Geld, was die Monika zwar nicht wieder lebendig machte, aber dem lebendigen Hans sehr zugute kam.
Und eines Tages dann ging ein Herr im hellen Reisemantel über den kleinen Friedhof von Schwarzenbach, überragte hoch die vielen moosbewachsenen Gedenksteine, wie eine Pappel war er über dem geduckten Unterholz der Kreuze, und vor einem niedrigen Grabstein stand er lange, und was er sich dachte, als er so darauf niedersah, das ist seine Sache. Später ging der Hellbemantelte ins Postbotenhaus und sprach freundlich mit dem kleinen Jungen, aber als er der Witwe anbot, das Kind nach Amerika mitzunehmen, wollte die es nicht, und warum sollte er das Kind nicht der alten Frau lassen, die sonst nichts hatte auf Erden, aber er hatte noch zwei Kinder.
Er saß dann in seinem alten Zimmer im ersten Stock, die Bärenspitz grau und leuchtend vor sich, und sah mit seinen klaren grünen Augen hinüber. Er sah ein Gewitter aufziehen, dunkle Wolken kamen, schwarz wallend, und verdeckten die Bärenspitz bald, und über den Sattel herein triebs wie graugrüner, weißlicher Rauch, der säumte schön und drohend die schwarzen Wolken. Unruhiges Licht rührte sich dahinter, die ersten fahlen Blitze zuckten, denen kein Donner folgte, dann rauschte der Regen nieder. Der Regen ging in Hagel über, weiß schäumte es durch die Luft, die Schloßen knatterten, schlugen auf das Fensterbrett, harte, spitzige, böse Körner. Dann fielen keine Körner mehr, an ihrer Statt kamen bläulichschimmernde, durchsichtige Kugeln, haselnußgroß und größer. Der Eiswirbel wurde heftiger, es krachte und strudelte wild, und Kühle drang durchs offene Fenster in die Stube zu dem unbeweglich sitzenden Mann. Ein Schwall der Eisgeschosse wogte zu ihm herein, wehte in weißen, langgezogenen Streifen schräg in die Stube. Von der Welt draußen, dem Dorf, den Bergen, dem Himmel war nichts mehr zu sehen, der grünäugige Mann saß allein, und nur das unendliche, fließende, stürmende, himmlische Eis war um ihn.
Tags darauf, unter einem wieder blauen Himmel, reiste Smith ab, nach Amerika.