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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Band 3-2  Seite 163
Kommentar Seite 478

Aus: »Das treue Eheweib«


Das betrogene Fräulein

Wie soll ich diese Geschichte erzählen, die wahr ist, und weil sie wahr ist, ein übles Licht auf uns alle wirft, die wir drin vorkommen, wie soll ich sie erzählen, wie soll ich sie vortragen, daß wir nicht gar zu schlecht abschneiden im Urteil der Braven und Unbescholtenen, die unsre Richter sind?
 Im Frühjahr 1916 lagen wir auf den Maashöhen in stark ausgebauten Schützengräben. Es war nicht viel los dort, um diese Zeit, wir schliefen, schrieben Briefe und spielten Schach und Tarock, und unser schlimmster Gegner war nicht der Franzose, sondern der Regen, der Regen, der Regen.
 Der fiel seit Wochen, beharrlich und grau von einem niedern grauen Himmel, trübte und verwirrte unsre Herzen, machte uns zu allem Unguten bereit, und ihm muß wohl auch die Schuld zugeschoben werden an dem bösen Plan, den der Leutnant Hinterhauser ausheckte und bei dessen Durchführung wir ihm halfen.
 Wenn ich hinzusetze, daß der Leutnant Hinterhauser sich vor dem Krieg auf den Pfarrerberuf vorbereitet hatte, so tu ich das nicht, damit seine üble Tat sich noch schwärzer male, ich sage es, weil es die Wahrheit ist und ich hier die Wahrheit und nichts als die Wahrheit erzählen will. Er hatte übrigens, Hinterhauser, schon manchmal geäußert, daß er zum Pfarrer doch wohl schon verdorben sei, und wir hatten ihm nie widersprochen, und daß er umsatteln werde, nach dem Krieg, aber bis dahin war wohl noch weit, davon zu reden lohnte sich gar nicht.
 Der Leutnant Hinterhauser also, als der Krieg ausbrach, Beflissener der Gottesgelehrsamkeit im ersten Jahr, und nun seit fast zwei Jahren Soldat, ein hübscher Kerl mit braunen Backen und gesunden Zähnen, erzählte uns, als wir vier Offiziere der Kompagnie im Unterstand zusammen saßen, daß er im letzten Urlaub ein weibliches Wesen mit allerhand Reizen kennengelernt habe, das ihm half, die Heimattage, die wenigen, angenehm zu verbringen. Zwar habe er das Fräulein in gutem Andenken behalten, in sehr gutem sogar, aber mit allzu heftigen und dringenden und verliebten Briefen habe es sich an ihn gedrängt, habe zu schwärmen begonnen vom nächsten Zusammensein, und wie sie das genießen und auskosten wollten, und er, nun er, mit ihm stünde es anders, er habe gar nicht die Absicht, die Liebende wieder zu sehen, weil er, ganz einfach, genug von ihr habe, und darum habe er lange darüber nachgesonnen, wie er der Stürmischen sich so entledigen könne, daß ein dicker Schlußpunkt ein – und für allemal das Ende bringe.
 In seiner Not, erzählte er uns, habe er zu einem Mittel gegriffen, das er selber verwerflich, abscheulich, wie vom Teufel ihm eingegeben nennen müsse: er habe dem Fräulein durch seinen Burschen schreiben lassen, daß er bei einer gewaltsamen Erkundung vor dem feindlichen Drahtverhau tot liegengeblieben sei. Er habe seinem Burschen Karl den Brief selber in die Feder vorgesprochen, einen langen und trübseligen Brief, und für das Fräulein sei er nun tot und seit Wochen schon begraben.
 Ein wenig gruselte es uns, als wir in das braunbäckige Gesicht Hinterhausers sahen, der für irgend jemanden da draußen tot war und hier saß und rauchte und uns beichtete. Wir waren alle alte Soldaten, allerhand gewöhnt, vieles gewöhnt, aber es gruselte uns doch ein wenig, wenn wir es auch nicht merken ließen.
 »Ja«, sagte Hinterhauser, »aber damit beruhigte sich das Fräulein keineswegs.« Es nahm, erzählte er, einen Briefwechsel mit Karl, seinem Burschen, auf, schrieb jammernde Briefe, daß es einen erbarmen konnte, erkundigte sich mit tausend Fragen, wo sein Herr begraben liege, wie die Art seiner Verwundung und ob er gleich tot gewesen sei? Wie seine letzten Worte gelautet hätten, wollte die
Trauernde wissen, nach jeder Einzelheit habe sie gierig und unermüdlich geforscht, als könnte das ihrem armen Herzen ein wenig Trost bringen.
 Und Hinterhauser, verstrickt in sein Lügengewebe, gab eine eingehende Schilderung seines eigenen Todes, erfand rührende letzte Worte, erzählte er uns, die sich seiner zerschossenen Brust entrungen hätten, und Karl, der geduldige Bursche, schrieb alles, wie es sein frevelnder Herr wollte.
 Aber das Fräulein, ein hartnäckiges Wesen, war immer noch nicht zufrieden. Es schickte dem Burschen Wurst und Schnaps und wollene Unterwäsche allwöchentlich und fragte und forschte und bohrte, und schrie nach einem Andenken an den Toten, nach einem Ding, das er im täglichen Gebrauch gehabt habe, nach seinem Taschenmesser zum Beispiel, das es damals, in den verflossenen Urlaubstagen, bei ihm gesehen hatte.
 Und Hinterhauser kaufte sich beim Marketender ein neues Messer und schickte das alte durch seinen Burschen dem Fräulein, dessen rührende Liebe zu dem Toten zu beobachten ihm eine aus Freude und Scham gemischte Aufregung bereitete.
 »Und wahrhaftig«, sagte Hinterhauser, »wenn ich mich traute, dem Fräulein jetzt zu sagen, daß ich noch lebe, wenn ich den Mut hätte, es in meine Karten schauen zu lassen, wenn ich mich nicht so schämte, alles aufzudecken – jetzt hätt ich wahrhaftig Lust, das treue Wesen wieder zu sehen, aber, nicht wahr, jetzt kann das alles nicht mehr sein!«
 Im Unterstand brannte nur eine einzige Kerze, wir tranken heißen Kaffee aus unseren Feldbechern, und Hinterhauser sah von einem zum andern und versuchte die Geschichte wie eine lustige Geschichte zu erzählen, aber obwohl wir ihm gern den Gefallen getan hätten, konnten wir nicht recht lachen.
 »Ja«, sagte Hinterhauser, »aber sie gibt noch immer nicht Ruhe, gibt keine Ruhe. Es ist toll, was sie jetzt will!«
 Die Franzosen hatten eine Mine herübergeschickt, das taten sie manchmal nachmittags, täppisch scherzend, eine einzige Mine, die war in der Nähe unseres Unterstandes niedergegangen, es rieselte hinter den Holzbohlen, und die Kerze verlöschte von dem Luftdruck.
 Wir saßen im Dunkeln, und Hinterhauser sagte schnell aus dem schützenden Finstern heraus: »Sie will ein Bild von meinem Grab!« Ich zündete das Licht wieder an.
 »Ja«, sagte er, » ich hab mir hinten in der Feldtischlerei Farbe und Pinsel verschafft, hab nun hier meinen Namen drauf gemalt«, und er zog aus der Tasche eine kleine, runde Blechtafel, drauf stand zu lesen:

Hier ruht der
Lt. d. R. Hinterhauser, xtes Infanterieregiment
Gefallen am 21. Februar 1916.

»Du hast so einen Kasten«, sagte Hinterhauser zu mir. »Jetzt gehn wir auf den Friedhof hinter unsrer zweiten Stellung, da nagle ich die Tafel auf ein Holzkreuz, und du knipst mein Grab!«
 Wir kletterten hinter ihm aus dem Unterstand, es war am Nachmittag um vier Uhr, ein grauer Märzhimmel war über uns, es war kalt, aber es regnete gerade nicht, und die Posten standen gelangweilt in ihren Nischen. Die Kompagnie vertrauten wir dem ältesten Feldwebel an und gingen im Gänsemarsch durch den Kampfgraben, gingen ein Stück den Laufgraben zurück, dann kam Wald. Wir stiegen aus dem Graben, gingen ein Stück in den Wald hinein, lautlos über das feuchte Moos, zu dem Friedhof, den die Preußen angelegt hatten, zu dem Waldfriedhof mit den schiefen Kreuzen.
 Hinterhauser nagelte sein Täfelchen auf das Kreuz eines noch ganz gut erhaltenen Grabes, es schallten seine Hammerschläge durch den Wald, und ich nahm meinen schwarzen Kasten und drückte ab, während die andern verlegen lächelnd beisammen standen.
 So war es, so taten wir an diesem grauen Märztag, es war nicht schön, wir zitterten, das war der kalte Wind, was sonst?
 An dem Abend begann es wieder zu regnen, es hatte wohl zu lange ausgesetzt gehabt, denn es troff und schäumte mit verdoppelter Stärke vom Himmel. Wir saßen wieder um den Ofen herum, tranken viel und mehr als sonst, aber es blieb doch ungemütlich, und ich konnte mich wehren, wie ich wollte, ich sah immer wieder ein Gesicht mit braunen Backen sich verwischen, verformen, verrutschen, das Fleisch zerschmolz, die gesunden Zähne blieben, und dann war das wie ein Totenschädel, was über dem Kragen Hinterhausers saß und mich freundlich anfletschte.
 Ich ging übrigens den Tag darauf wieder zum Friedhof zurück und nahm Hinterhausers Täfelchen vom Kreuz, damit die ursprüngliche Inschrift, die den Musketier X. als gefallen meldete, wieder die Wahrheit sprechen konnte. Das, schien mir, war ich dem Musketier X. wohl schuldig, der ein wackrer Mann gewesen sein mußte, denn er war gefallen, und das ist schon eine Sache, die Achtung einflößt – und unbesehen darf man solch einen Mann wacker nennen.
 Es hat in diesem Krieg, den den Weltkrieg zu nennen man übereingekommen ist, auf deutscher Seite an die zwei Millionen Tote gegeben, und als man das am Kriegsende übersah, war auch Hinterhauser unter ihnen.
 Er war unter ihnen, war gefallen wie eben viele fielen in diesem Weltkrieg – wie müßte man sich denn auch benehmen, was sollte man denn auch davon halten, was sollte man denn auch mit sich anfangen, wenn sein Tod mehr und ein anderer gewesen wäre als der übliche und häufige und billige und kostbare und blutige und wackere Soldatentod?
 Und schließlich steht auf einem solchen, wenn auch unpassenden Spaß doch nicht die Todesstrafe, doch auch nicht für einen zukünftigen Pfarrer, wenn es sich auch für einen solchen schon gleich gar nicht schickt, so zu spaßen, und, wie gesagt, da waren ja noch zwei Millionen Tote, die nicht so übel gescherzt hatten und doch dran glauben mußten, die Verluste der Feinde gar nicht eingerechnet.
Und wacker diese wie jene und auch Hinterhauser!
 Die Trauer des betrogenen Fräuleins, wenn sie bei Kriegsende noch anhielt, hartnäckig wie die Liebende war, ist das vielleicht anzunehmen, bezog sich zuletzt also doch auf einen toten Mann und war im tiefsten nun berechtigt und in ihrer Würde wieder hergestellt worden. Das Grab, dessen Bild die Treue auf ihrer Kommode stehen hatte, blumenbekränzt, unterschied sich wenig von dem, in dem der Geliebte wirklich lag. Das bißchen Unterschied spielt da keine Rolle.
 Ich aber, Hinterhausers Mitschuldiger, bin ungestraft geblieben und lebe noch, und wenn ich an jene Monate zurückdenke, habe ich nur Regen, Regen, Regen in Erinnerung, der uns wusch in vielen Tagen und Nächten, wohl auch jene Schuld abwusch von uns, so daß ich mir diese Geschichte zu erzählen traue und zu hoffen wage, daß wir nicht gar zu schlecht abschneiden im Urteil der Braven und Unbescholtenen, die unsre Richter sind.



 

Drucknachweise und Anmerkungen:
S.163 Das betrogene Fräulein
Die erste Fassung von 1928 ist u.d.T. Hinterhauser und sein Fräulein in Bd.l abgedruckt. B. hat den Text für die Veröffentlichung im Treuen Eheweib überarbeitet; vorherige Zeitungsdrucke folgen der Fassung von 1928.
Der Text in E I, S.233-239, enthält folgende Abweichungen:
S.166, Z.14f: xtes Infanterieregiment Gefallen am 21.Februar 1916
E1: 21.bayerisches Infanterieregiment Gefallen am 11.Februar 1916
S. 167, Z.1-3: Fehlt in E 1.
S. 168, Z.5: Fehlt in E 1.