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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs
Band 3-2
Seite 169
Kommentar Seite
479
Aus: »Das treue Eheweib«
Die Frankreichfahrt
Die Regierung
der Vereinigten Staaten von Nordamerika war zwölf Jahre nach Beendigung
des Weltkrieges mit dem großherzigen und überraschenden Plan
hervorgetreten, den Hinterbliebenen gefallener Offiziere und Soldaten eine
Freifahrt nach Frankreich zu gewähren, in den besten und teuersten
Schiffs- und Eisenbahnklassen natürlich, ihnen durch umsichtige und
ortskundige Führer die großen Schlachtfelder zeigen zu lassen
und die Gräber der Toten. Im Laufe von zwei oder drei Jahren sollten
alle Kriegshinterbliebenen, Witwen, Mütter, Söhne, Töchter
und Väter der Gefallenen, gleichviel, ob arm oder reich, als Ehrengäste
des großen mächtigen amerikanischen Volkes, das wohl verstand,
sich seiner toten Helden in Dankbarkeit zu erinnern, diese Fahrt unternehmen.
Die ersten hundert Einladungen waren ergangen, es hatte begreiflicherweise,
oder auch erstaunlicherweise, wie man es ansehen mag, niemand abgesagt,
nun war das erste Schiff mit seiner Ehrenfracht unterwegs, schwamm schon
tagelang auf dem Wasser, morgen mittag sollte es, feierlich empfangen von
Kanonenschüssen, wehenden Fahnen und Truppenabordnungen, den französischen
Hafen anlaufen.
Zwölf Jahre waren
vergangen seit Kriegsende, ein Dutzend Jahre, achtundvierzigmal hatten
die Jahreszeiten gewechselt, seit die letzten Schüsse verhallten,
das ist eine lange Zeit. Aus Kindern waren Männer geworden, aus blutjungen
Mädchen reife Frauen, aus Frauen Greisinnen. Viele hatten ihre Männer
geliebt und hatten nach drei Jahren, nach fünf Jahren doch wieder
geheiratet, manchen waren auch die zweiten Männer schon wieder gestorben
und sie hatten sich zum drittenmal verehelicht und fuhren nun in Begleitung
ihres dritten Mannes zum Grabe des ersten.
Anne Brown, die Offizierswitwe,
die diese erste Fahrt mitmachte, dreiunddreißig Jahre alt, groß,
blond, schlank, mit einem kühlen Gesicht, saß vor einer Tasse
Kaffee und sah hin auf das Gewirr in dem großen Saal, und die Musikspielte,
und die Töchter der Gefallenen scherzten mit den Söhnen der Gefallenen,
und es war wohl klar, daß das keine Trauerfahrt war, aber eine Freudenfahrt
sollte es auch nicht sein, so war es eine gedämpfte Fröhlichkeit,
und so kam es vor, daß eine Frau hell auflachte, aber sich dann besann
und aus dem lauten Lachen ins leichte Lächeln überging, aber
lächeln, das konnte rnan doch wohl, jetzt, zwölf Jahre
nach dem Weltkrieg auf der Erinnerungsfahrt nach Frankreich.
Als Anne ein halbes Jahr
mit dem Infanterieleutnant Brown verheiratet gewesen war, hatte er sich
freiwillig zur Truppe nach Frankreich gemeldet, wie sich das ziemte für
einen Berufsoffizier. Anne hatte James gut verstanden, hatte eingesehen,
daß das sein mußte, sie hatte keinen Versuch gemacht, ihn zurückzuhalten,
sie hatte, als er ging, nur den Versuch gemacht, ihr kühles Gesicht
zu behalten. Der Versuch war mißlungen, aber immerhin, James, ihr
Mann, durfte sehen, daß sie, die Beherrschte, unbeherrscht war, wenn
es um sein Leben ging; es hatte ihm weh getan wahrscheinlich, sie so aufgelöst
vor Schmerz zu sehen, aber tiefinnen hatte es ihm auch wohl getan, das
mußte einem Mann doch gut tun, der ins Feld zog, wenn er sah, wie
sehr seine Frau um ihn bangte und alle Fassung verlor, die kühle Anne.
James Brown war ein Mann
gewesen, der immer fröhlich war, so obenhin, und immer traurig innen,
tief mißtrauisch gegen das Leben, im Bewußtsein, daß
alles vergänglich war auf Erden, alles sich wandelte, der darunter
litt, daß die Zeit vieles überschwemmte, wegschwemmte, fortwischte
und Neues herauftrieb, nicht nur das äußere Gesicht der Menschen
änderte und da eine Falte hinlegte und dort einen krummen Zug hinschrieb,
auch Gefühle wandelte, neue aufkeimen ließ und aufblühen
und wieder abwelken, stets und ständig und immerfort.
So war James gewesen,
ihr Mann, der sie liebte und den sie geliebt hatte, und der im großen
Glück zu ihr gesagt hatte: »Spürst du sie schon geringer
werden, deine Liebe? Änderst du dich schon?« Und sie hatte gelächelt
und gesagt: »Nie!«, und er hatte gelächelt und hatte gesagt:
»Wer weiß?« und »Wer weiß wie bald?«
und »Wenn ich falle, heiratest du einen andern!« und war ins
Feld gegangen und nach fünf Tagen von einer deutschen Maschinengewehrkugel
getötet worden. So eilig hatte er es gehabt, der Infanterieleutnant
James Brown.
Und jetzt, nach zwölf
Jahren, fuhr seine Frau Anne, die kühle, beherrschte Frau Anne Brown,
als Gast des großen und mächtigen und dankbaren amerikanischen
Volkes nach Frankreich, sein Grab zu sehen und den Ort, wo er die Kugel
erhalten hatte, und neben ihr saß Arthur, und mit Arthur war sie
verlobt, seit einem halben Jahr, und er hatte es nicht gewollt, daß
sie nach Frankreich führe, aber sie hatte darauf bestanden, und da
war er mitgefahren, auf seine eigenen Kosten natürlich, denn wenn
die amerikanische Regierung auch großzügig war in ihrer Dankbarkeit,
so weit ging das natürlich doch nicht, daß sie auch noch die
Fahrt bezahlt hätte für die Reisebegleiter der Töchter,
der Söhne, der Mütter und der Frauen der Gefallenen.
Da saß Arthur neben
ihr und war ein wenig bleich und still, und obwohl die See ganz ruhig war,
hatte er vielleicht doch die Seekrankheit, dachte Anne, sagte es ihm aber
nicht, das wäre nicht gut gewesen und hätte die Wirkung der Krankheit,
wenn sie schon im Anzug war, nur gefördert.
Ja, und dann war Anne
in Paris und Arthur war nicht bei ihr, denn die Blässe und das Zittern
waren auch auf festem Boden nicht von ihm gewichen, und es war also nicht
die Seekrankheit, die ihn plagte, die Blässe ging in Röte über,
er fieberte, es war die Grippe, ein starker Grippeanfall schüttelte
ihn, da blieb er, da mußte er bleiben im Krankenhaus der Hafenstadt,
und er sollte Anne wiedersehen in Paris, wenn sein Anfall vorbei war und
sie inzwischen die Schlachtfelder gesehen hatte und das Grab ihres Mannes,
das gut erhalten war, wie sie wußte, sie hatte ja ein Lichtbild von
dem Grab bei Saint-Mihiel, das Rote Kreuz hatte es ihr verschafft.
Ja, da war Anne nun in
Paris, ohne Arthur, der ihr fiebrig nachgesehen hatte aus seinem schmalen
weißen Krankenhausbett, der, als sie an der Tür gestanden war
und sich noch einmal umgesehen hatte nach ihm, ein wenig die Arme nach
ihr erhoben und »Anne« gesagt hatte, aber die kühle, beherrschte
Anne hatte ihm zugelächelt und hatte »Auf Wiedersehen«
gesagt, und war dann abgereist nach der Hauptstadt mit den anderen Kriegerwitwen
und Soldatenwaisen und Offiziersmüttern.
Der Empfang in Paris war
vorbei, und riesige Kraftwagen fuhren die Gesellschaft nun über die
Schlachtfelder. Anne sah die guterhaltenen Schützengräben und
das Gewirr der Drahtverhaue vor ihnen, und stieg in alte Unterstände,
in denen es modrig roch und in denen Ratten huschten, Ratten, Nachkommen
der langgeschwänzten Tiere, die vor zwölf Jahren hier ein schlaraffisches
Leben geführt hatten, und die jetzigen hatten es nun viel karger als
die damals: so wechseln gute Zeiten mit schlechten, aber alle lassen sich
ertragen.
Heut übernachtete
die Fahrtgesellschaft in einem alten Städtchen, das dicht hinter der
ehemaligen Front lag, und morgen sollte es weiter nach Saint-Mihiel gehen,
die Maashöhen entlang, und bei Saint-Mihiel würde Anne ein Grab
finden, das sie gut kannte. Sie hatte das Lichtbild ja oft angesehen, und
auch jetzt zog sie es heraus und betrachtete es und nahm aus ihrer Tasche
auch das Bild ihres toten Mannes, legte beide Bilder vor sich auf den Tisch,
sie saß in ihrem Hotelzimmer, und legte den Brief zwischen beide
Bilder, den ihr eben das Zimmermädchen gebracht hatte,
einen Eilbrief, der aufgedruckt
auf dem Umschlag den Namen des Krankenhauses trug, in dem Arthur an seiner
Grippe darniederlag, und die Schrift auf dem Umschlag war nicht die Schrift
Arthurs.
Sie öffnete den Brief
und las, was ihr der Arzt schrieb, und der schrieb, sie möge doch
gleich zurückkommen, unverzüglich, der Kranke fiebere stark und
verlange unaufhörlich nach ihr, und wenn auch nicht das Schlimmste
zu befürchten sei, ernst sei der Fall doch, und er verspreche sich
Gutes und die Heilung Beförderndes, wenn sie gleich und auf der Stelle
komme.
Anne, die kühle,
beherrschte Anne, sagte halblaut zu dem Bild ihres Mannes: »Höre,
James, was mir der Doktor da schreibt«, und las ausdrucksvoll und
mit guter Betonung den Brief des Arztes vor, und dann fragte sie ihren
toten Mann: »Sage, James, soll ich nun gleich hinfahren zu ihm, ohne
dein Grab gesehen zu haben?« Der tote Mann in der grauen Uniform
lächelte und sah sie an mit seinen Augen, die immer in der Tiefe traurig
und hoffnungslos gewesen waren und sagte: »Ich habe nie daran gezweifelt,
daß du einen andern heiraten würdest, wenn ich fallen sollte!«
Sie wollte schon sagen: »Nie!« wie sie es vor zwölf f
ahren am Bahnhof zu ihm gesagt hatte, aber vor seinem Lächeln und
seinen Augen mit der hoffnungslosen Überlegenheit unterließ
sie es.
Sie trat zum Fenster und
sah durchs Fenster auf die dämmerige Straße hinunter, da ging
Arm in Arm mit einem Mann die rothaarige Frau, die sie vom Schiff her kannte,
und der Mann, der neben ihr ging, war ihr Ehemann, und heute vormittag
war die rothaarige Frau durch den Graben gestolpert, in dem ihr erster
Mann vor zwölf Jahren sich verblutet hatte. Es war ein Bauchschuß
gewesen, wie sie wußte.
Anne schrieb einen Eilbrief
an den Krankenhausarzt, schrieb ihm, daß sie morgen zuerst noch das
Grab ihres gefallenen Mannes besuchen würde, um dann übermorgen
auf dem schnellsten Wege an das Bett ihres Verlobten zu fahren, und trug
den Brief selber auf die Post, durch die sommerwarmen Straßen des
Städtchens, über das eben der Mond heraufzog.
Am andern Nachmittag,
gegen fünf Uhr, stand Anne vor dem Grab, das zu sehen sie die Frankreichfahrt
unternommen hatte. Sie stand nicht vor dem Grab, sie kniete vor ihm, sie
war ganz allein, den Führer hatte sie weggeschickt, sie kniete und
hatte die Hände auf dem Grab, und ihre Tränen flossen und tropften
auf das Grab und wurden von der heißen Erde geschluckt. »James!«
sagte sie, und wieder holte sie sein Bild aus ihrer Tasche und sah ihn
an und sagte: »Du bist tot, James, aber er lebt!«
Ihre Tränen hörten
zu fließen auf, und dann legte sie sich ins Gras neben dem Grab,
legte sich auf den Rücken, sah in den blauen Himmel, wo gerade über
ihr eine kleine, dünne, weiße Wolke war, fast kreisrund von
Form, und sie beobachtete, wie das Weiße langsam vom Blauen aufgesogen
wurde, wie das Blaue, das neben dem Weißen schwarz wirkte, wie das
Schwarze also das Weiße in sich aufnahm, bis zuletzt nichts und gar
nichts mehr von dem Weiß da war und sie in ein tiefes, singendes,
unermeßlich strudelndes Schwarz starrte, wie in einen Trichter fast,
der alles in sich saugt.
So kam es, daß Anne
Brown, die dann wieder in Amerika lebte, zwei Gräber in Frankreich
hatte. Denn daß Arthur tot war, als sie im Krankenhaus eintraf, konnte
man ihr nicht verschweigen, wenn man ihr natürlich auch verschwieg,
wie alles gekommen war. Der Kranke nämlich, als man ihn einmal gegen
fünf Uhr nachmittags eine Minute lang im Zimmer allein gelassen hatte,
der Wärter war gegangen einen kühlenden Trunk für ihn zu
holen, war in seinem hitzigen Fieber aus dem Bett gestiegen und zum offenen
Fenster getaumelt, wo er in seinem liebenden Wahn wahrscheinlich Anne zu
sehen glaubte. Aus dem Fenster, als sei das eine Tür, war er ins Freie,
ins Blaue, ins Schwarze getreten. Der Wärter, der wiederkam mit einem
Glas in der Hand, sah noch das lange, weiße -Hemd wehen, wie bei
einem Engel, sagte er, hörte den Kranken mit silberner Stimme »
Anne! « rufen, und es sei ein schrecklicher und atembeklemmender
Eindruck gewesen, sagte der Wärter noch, zu sehen, wie das flatternde
Weiß verschwand und ein tiefes, dunkles, fast schwarzes Blau den
Fensterrahmen füllte.
Drucknachweise und Anmerkungen:
S. 169 Die Frankreichfahrt
Zuerst erschienen in: Jugend, 35, 1930, S.626-628 [1.Oktober]. -Auch
in: Ausritt. Almanach des Georg-Müller-Verlags München, 1931
[erschienen Oktober 1930], S.58-64, mit wenigen, unerheblichen Abweichungen.
Den Ort Saint-Mihiel (S.172, Z.5) kannte B. aus eigener Anschauung,
wie ein Brief vom 7. November 1917 an H. Sendelbach bezeugt.