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© Georg-Britting-Stiftung
Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Band 3-2  Seite 176
Kommentar Seite 479                            » Hier irrt Goethe « und auch Britting! Klicken Sie mal.

Aus: »Das treue Eheweib«


Flandrischer Fasching

In Flandern geht immer Wind, im Krieg wenigstens war es so, ich erlebte es nie anders. Und durch Flandern laufen viele Landstraßen, und die beiden Seiten dieser Landstraßen säumen hohe Bäume, Pappeln natürlich, und der Wind beugt die Pappeln, daß sie nach vorn geneigt, wie Bittende, unter dem wolkenverhangenen Himmel stehen. Und einmal sah ich im Wind vier Männer eine Bahre auf einer dieser Landstraßen tragen – aber das gehört jetzt nicht hierher, das ist kein rechter Anfang für diese Geschichte, davon will ich erst am Schluß sprechen. Weg also Landstraßen und Pappeln, und einen anderen Schauplatz her!
Jeder feste Tritt wirbelte modrige Staubwolken auf, und da wir nicht gewohnt waren, leise aufzutreten, unsere genagelten Stiefel waren auch nicht dazu angetan, so hing wie Rauch der Staub in der Luft. Der kleine, zierliche Reismüller, aufgeregt wie immer, eine tapfere Zappelpuppe mit einem weißen Knabengesicht, schrie: »Legts euch doch endlich hin!« Seine helle Befehlsstimme, auf die er, der ehemalige Unteroffiziersschüler, so stolz war, fuhr wie ein scharfer Peitschenschlag durch den Saal. Aber es nützte natürlich nichts, es gehorchte ihm niemand, und er hatte hier und jetzt auch gar nichts zu befehlen.
Zwei qualmende Öllampen baumelten von der Decke herab und gaben gerade so viel Licht, daß nicht einer dem andern ins Gesicht trat. Von der Galerie, die in halber Wandhöhe rund um den Saal lief, scholl ein langanhaltendes Donnergepolter: ein Berg aufgetürmter Stühle war ins Rutschen gekommen und eingestürzt.
Einzelne lagen bereits am blanken Boden, den Tornister oder den Brotbeutel als Kopfkissen, und versuchten zu schlafen. Aber das wollte ihnen nicht so recht gelingen. Nicht weil Boden und Tornister zu hart gewesen wären, dem Müden ist jedes Bett weich, aber im Auge und im Herzen trug jeder noch die Bilder der letzten Tage, und die wehrten es den schläfrigen Lidern zu sinken.
Von der Bühne herunter trompetete der Reismüller schon wieder und immer noch: »Ruhe! Ruhe! Hinlegen!« Er hatte sich seinen Schlafplatz auf einer halbaufgerollten, grün bemalten Leinwand zurechtgemacht, einer Wiese, er hockte auf der Wiese zwischen den Blumen, den Rücken an die Windmaschine gelehnt, und verzog ärgerlich sein trotziges Bubengesicht. Ich saß im Einsagekasten, und wenns auch etwas eng war da drunten, dafür war es warm, und ich war für mich allein in meinem kleinen Haus, und das war auch etwas wert. Heinrich, der Lange, ging witternd und schnüffelnd, eine brennende Kerze tragend, mit der Hand sie vorm Luftzug schützend, zwischen den verstaubten Versatzstücken umher. Ich legte die Hände aneinander gleich zwei aufgeschlagenen Buchseiten, tat, als läse ich im Buch, tat, als sei ich im Amt, und als er eben an mir vorbeistrich, den Kopf wie suchend zum Boden geneigt, flüsterte ich ihm zischend zu: »Heinrich, mir graut vor dir!«
Aber dieser Heinrich, wohl ein Teufelsbeschwörer wie jener Heinrich Faust des Schauspiels, war wie durch Zauberei plötzlich verschwunden. Neugierig kletterte ich aus dem Kasten, fand die Tür an der Bühnenrückwand, trat hindurch, zu ihm, der einen Spieß schwang. Blechhumpen standen herum, silberne Kronen, Schwerter und Sturmhauben. An verrosteten Nägeln hingen Perücken, zerzauste, verstaubte, graue und schwarze und blonde, und falsche Bärte, verfilzt, und im flackernden Kerzenlicht wars wie in einer Menschenfresserhütte in der Südsee, bei Kopfjägern, wo abgeschnittene Feindschädel an Lederstricken baumeln. Eine Spinne hatte ein Netz gesponnen zwischen einem langen, spitzen, pechdunklen Bart und einem hellfarbenen Mädchenscheitel mit Hängezöpfen. Das schaukelte, das Netz, im Luftzug, und Heinrich sagte: »Das Vieh!« und hielt die Kerze unter das reglose Tier, das unter dem Feuerstich auf einmal viele Beine bekam, zappelte, zu zappeln aufhörte, ein Klumpen wurde, zerschmolz mit dem Netz, das stinkend verglomm, keine Flamme gab, sich nur in der Glut zusammenrollte, verging. »Hier schlafe ich«, sagte Heinrich und stützte sich auf seinen Spieß. Nun, wie er wollte, warum nicht hier? »Gib auf das Licht Obacht«, sagte ich, stieß mit dem Fuß an einen Helm, der scheppernd aufschrie und eine Strecke weit rollte, ließ den Mann bei den Zöpfen und Bärten, und ging.
Es war kalt im Saal, und ich hatte auch Hunger, aber keinen Bissen zu essen, gar keinen Schlaf, und so stolperte ich dem Ausgang zu. Es war zwei Uhr nachts, stockdunkel draußen, es regnete, und der Wind pfiff. Ein Reiter klapperte die Straße daher, den Mantelkragen hochgeschlagen. Schwarz tauchte er vor mir auf, unförmig, Pferd und Mensch in eins verfließend, und als es unterm Huf des Gauls blitzte, ein Funke aus dem nassen Stein sprang, wie sah das tröstlich aus, das warme, gelbrote, kleine, trockene Lebendige! Ich wollte ein Gespräch mit dem Reiter beginnen, es trieb mich, ihm etwas zu sagen, irgend etwas, ich Schwarzer, der unter der Tür stand, vorm Regen geschützt, ihm, dem Schwarzen, der durch die Nachtgassen ritt, zwischen Häusern, unter einem unsichtbaren Himmel, im nassen Mantel und auf nassem Gaul. Vielleicht, wenn noch ein Funke gesprungen wäre unterm Huf, ein trockener, roter, ich hätts getan, aber das Pflaster antwortete nicht mehr feurig, nur schallend, und der Schall verlor sich, und ich trat wieder in den Saal zurück.
In einem strohgeflochtenen Korbsessel lag, die Beine weit von sich gestreckt, der Wachhabende, und es kostete ihm Mühe, die Augen offen zu halten. Die Ausdünstung der vielen nassen Uniformen roch widerlich. Es war ein schauerlicher Anblick, die vielen wie im Tod hingestreckten Schläfer. Manche hatten den Mund halb offen und röchelten schwer im Traum. Die meisten hatten die Knie hochgezogen, die Hände in den Taschen vergraben und sich wie Hunde zusammengekrümmt. An der einen Längsseite des Saales waren die Gewehre zusammengesetzt. In der Ecke, auf ein Paar Zeltbahnen, schlief der Offiziersstellvertreter Ketteler, mit einem Mantel zugedeckt. Er war der einzige unverwundete Säbeldienstgrad der Kompagnie und führte sie.
Wir waren den ganzen Tag im Gefecht gewesen, gegen Engländer. Die Teufel waren unglaublich zäh. Sie trugen flache, kleine, schüsselähnliche Eisenhütchen und waren langbeinig, das fiel uns auf, alle langbeinig. Die mageren Waden der langen Beine waren mit gelben Binden umwikkelt und außen an den enganliegenden Uniformröcken waren Brusttaschen angebracht. Aufregend waren sie für uns, die Brusttaschen, die bei uns nur an Generalsröcken zu sehen waren. Und diese langbeinigen, gelben Generale, keinen Dicken hatten wir gesehen, so schien es uns, waren alle tapfer, und so waren wir den ganzen Tag uns im Schlamm gegenüber gelegen und hatten geschossen und hatten getroffen und waren getroffen worden, und als der Abend kam – und das hatten wir schon gemerkt, hinter jedem, aber hinter jedem Tag kam ein Abend – und als er also kam, der Abend, waren wir abgelöst worden, und nun waren wir hier im Alarmquartier, in diesem kleinen flandrischen Ort, aber jeden Augenblick konnte es wieder losgehen.
Ich wünschte dem Wachhabenden »gute Nacht« und wand mich vorsichtig zur Bühne vor. Im Schlaf schrie einer laut und wirbelte mit den Armen. In das gähnende schwarze Loch des Kastens ließ ich mich hinabplumpsen, zog meine wollene, wärmende Tuchhaube über die Nase und schlief ein.
Da war die Spinne wieder in der Menschen-fresserhütte, und die spann zwischen zwei Schädeln, aber kein Netz spann sie, sie spann ein Seil, ein graues, dickes, ekelhaftes Seil, und das Seil begann zu schaukeln, hin und her zu schaukeln, und auf einmal legte es sich um meinen Hals. Ich zappelte mit vielen Gliedmaßen, wie die Spinne unter dem Kerzenfeuerstoß in der Gerümpelkammer, ich hing wie an einem Galgen, und die toten Fratzen grinsten, und ein Häuptlingskopf fing an zu reden, der tote, abgeschnittene Kopf, aber natürlich verstand ich nichts, er redete irgend etwas Negerisches, und die Schlinge um meinen Hals zog sich immer enger zusammen, und der Häuptlingsschädel schrie immer lauter. Was wollte er nur von mir, der Bursche, der ozeanische, der grinsende? Und weil ich ihn immer noch nicht verstehen wollte, wurde er wütend und sagte wütend tocktocktock zu mir, und jetzt verstand ich und wachte auf, durch das helle, klatschende englische Gewehrfeuer. Ich fuhr aus meinem Kasten, taumelnd aus dem Traum in die Wirklichkeit.
 An mir vorbei schoß der kleine Reismüller, schon feldmarschmäßig hergerichtet, den Helm auf dem Kopf, den Sturmriemen um das Kinn, den Tornister auf dem Rücken, als habe er so, in voller Ausrüstung, geschlafen. Die Lampen an der Decke glänzten matt im Dunst. Mitten im Getümmel stand mit weißem Gesicht der Offiziersstellvertreter Ketteler und schrie mit überschnappender Stimme: »Gewehr in die Hand nehmen und auf die Straße!«
Geschrei und Staub und Aufregung. Farblose Augen im sommersprossigen Gesicht, stand unschlüssig einer, das Gewehr am langen Riemen über die Schulter gehängt, und mit der linken Hand streichelte er die Wand, zärtlich und wie abschiednehmend. Die Verzauberung war ihm geschehen, deren wir uns alle in schlimmen Stunden erwehren mußten. Und er war ihr jetzt gänzlich verfallen, sah man an seinem ratlosen und furchtsamen Gesicht. Der kahle, staubige, ungemütliche Saal hatte sich ihm in eine lauwarme, rosigbeglänzte Höhle verwandelt, und die harten Bretter des Bodens, auf denen er eben noch geschlafen hatte, lockten ihn wie weiche, schwellende Polster. Auf ihnen liegenbleiben dürfen bis zum jüngsten Tag: wie schön wäre das! ja, nur hier so stehenbleiben dürfen, und die Wand streicheln: welch ein Glück! Er seufzte, und dann sah er auf, sah ein paar verspätete Männer zur Tür hasten, die ihn gar nicht beachteten, genug mit sich selber zu tun hatten, sah in ihr trauriges und abweisendes Gesicht, und denen schloß er sich nun an.
Sie mußten durchgebrochen sein, die Langbeinigen, mit den flachen Eisenschüsseln auf den Köpfen, und den dünnen Lippen in den glattrasierten Gesichtern, und mußten schon im Ort sein. In der Luft gingen die Kugeln, das klang dünn, wie wenn man Papier mit einer Nadel ritzt. Es war schon zum Handgemenge gekommen, das die Kraft ihres Anlaufes gebrochen und zersplittert hatte. Sie mußten sich zurückdrängen lassen, die Englischen, das ging langsam, aber es ging. Nur am Ortsrand klammerte sich ein Trupp an, der die Straße verrammelte, ein Hindernis auftürmte aus Schränken und Tischen und Matratzen und allem möglichen Hausrat, und obwohl wir ihnen mit Handgranaten kamen, sie hielten sich.
Da raste hinter uns im Morgengrauen eine Gestalt die Straße herauf, und das Pflaster klapperte wild unter den Stiefelschlägen. »Ein Hanskasperl!« schrie einer. Wie eben von einem Maskenball kam da der Kerl, in einem weiß und rot gewürfelten Clownanzug, nur die spitze Zuckerhutmütze fehlte, und kletterte, der Hanswurst, auf die wakkelnde Barrikade. »Hei! Hoi!« heulte er, der Närrische, und warf Handgranaten, die wir ihm zureichten, und zappelte und warf und heulte die Engländer an. Wirklich, so war es, und so ist es tatsächlich geschehen, so tat ein Vermummter, im allerersten Tagesgrauen, ein weiß- und rotgefleckter Kerl, und die Engländer, die dabei waren, wenn von denen einer noch lebt, und das ist ja durchaus möglich, die wissen es noch, so wie wir es noch wissen. Der Maskierte sang irgend etwas, in langen Tönen, als wärs ein Vergnügen, und war doch kein Vergnügen, aber er sang, niemand weiß warum, er sang, an dem kalten Februarmorgen, im Jahre neunzehnhundertfünfzehn. Und dann war auf einmal eine Stille. Nicht lang, so fünfzehn, so zwanzig Sekunden, aber das ist sehr lang, da knallte es nicht, bei uns nicht und drüben nicht, jeder nestelte wohl neue Handgranaten los. Der Rotweiße sang nicht mehr, stand oben auf dem Schrank, ich stand tiefer. Vor meiner Nase tanzten die roten und weißen Rechtecke der Narrenhose. Die weißen waren grau, heller als das Grau des Morgens, und die roten waren blutrot, rot wie Blut, ein anderer Vergleich fiel mir nicht ein in diesem Augenblick der vollkommenen Stille. Und jetzt duckte sich der Hanswurst in die Knie, und ich fühlte, er bereitete sich zum Sprung, und das Bein ging weg von meiner Nase, und die Barrikade war leer, und er, der Kerl, war jetzt drüben und drunten bei den Generalen mit den modischen Röcken und den vornehmen Brusttaschen. Wild knallte es von allen Seiten, das Tagesgrauen wurde lichter, brüllend und lachend hüpften wir dem Scheckigen nach, und dann war der Ortsrand wieder unser.
Ja, das war Heinrich, der Lange, der hatte in der Theaterrumpelkammer, sich zu wärmen, und auch um sich einen Spaß zu machen, den Hanswurstanzug übergestreift, und hatte ihn so schnell nicht wieder herunterkriegen können, und hatte so kostümiert mitgefochten, und lag nun mit uns im flachen Graben, den wir, wenig belästigt, rasch aushoben.
Wir duldeten auch nicht, daß er sie wieder auszog, die Narrenhülle. Einer hatte entdeckt, daß heute Faschingsdienstag sei, das hatten wir ganz vergessen gehabt, was wußten wir vom Kalender? Aber es war wirklich Faschingsdienstag, wir rechneten nach und es stimmte. Nachmittags brachten die Feldküchen zum Essen, zum Büchsenstampf, Schnaps, reichlich Schnaps, einen fürchterlichen, braunen, beißenden Fusel, und den tranken wir gierig.
Und später sah ich eine große Spinne am Grabenrand, groß und grau, wie so ein englischer Schüsselhut. Ich wollte sie töten, aber als ich zuschlug, prallte meine Faust nicht, wie sie es erwartete, auf einen weichen, zuckenden, blutspritzenden Leib. Sie polterte auf Hartes, es dröhnte, es war natürlich nur so eine Helmschüssel, und der Kopf mit dem glattrasierten Gesicht war nicht darunter. Es war ein harmloser Helm, und der Verlierer mußte sich hinten vom Kammerunteroffizier (der mag geflucht haben!) wieder einen andern geben lassen.
Ja, es war lustig in unserem Graben, in unserem flachen, neugebackenen Graben, und es regnete nicht, und das war eine große Gabe Gottes, die wir zu schätzen wußten. Nur einmal, nachmittags, wehte ein weißer, hageliger Schnee über uns weg, der aus einer bräunlichen Wolke fiel, während gleichzeitig die Sonne fahl leuchtete. Die spitzen Kristalle knisterten wie Sand, und wie Sand trieb sie der Wind in kleinen, drehenden Säulen von uns fort, in die Luft wieder, und es blieb keine feuchte Spur von ihnen zurück.
Die langbeinigen Generale drüben schossen nicht her, und so schossen wir auch nicht hin, so ritterlich waren wir schon, wenn wir auch keine Generalsröcke trugen, und Heinrich-ohne-Furcht, der rot-weiß-gefleckte, hatte den meisten Schnaps zu fassen gekriegt und war wohl betrunken und schrie immerzu: »Morgen ist Aschermittwoch!«
Die kleine Puppe, Reismüller, der Unteroffizier, der in diesen Tagen zu seinem Stolz vertretungsweise unsern Zug führen durfte, sah mit scheelem Aug auf Heinrichs närrischen Anzug. Er war sowieso immer der Meinung, daß wir ja, vielleicht, soweit ganz gute Feldsoldaten sein mochten, aber für gewisse Selbstverständlichkeiten des militärischen Wesens keine Empfindung besaßen. »Morgen ziehst du aber den Kittel wieder aus«, sagte er zu Heinrich, »so läuft kein deutscher Soldat herum!«
»Ja, ja, ist schon gut, reg dich nur nicht auf, Korporal!« sagte Heinrich, ohne den Kopf zu ihm zu heben. Der kleine Reismüller zuckte zusammen bei dem Wort Korporal, das an Stelle der Bezeichnung Unteroffizier üblich geworden, aber ihm verhaßt war, als vorschriftswidrig und allzu vertraulich. Aber er wagte auch nicht, es sich zu verbitten, man hätte ihn nur ausgelacht. Heinrich lag auf dem Bauch im Graben und wühlte mit der Hand eine kleine Mulde aus dem Boden. »Gute Erde, das«, sagte er, »sie bekommt so vieles von uns zu trinken, allerhand Zeug, von unserm Blut, von unserer Notdurft auch, brav schluckt sie alles.« Er grub die Mulde tiefer, ein kleiner, spitzer Trichter entstand, dessen Wände er mit den Fingerspitzen glättete. Dann schüttete er aus einem Feldbecher vorsichtig in den Trichter etwas Schnaps, der drin wie in einem Sektglas schäumend und Bläschen werfend stand. »Sie soll auch davon haben«, sagte er und füllte den kleinen Trichter wieder mit Erde zu, drückte sie ebnend fest, daß man die Stelle nicht mehr erkennen konnte. »Denn heute ist Faschingsdienstag«, sagte er, »und morgen ist Aschermittwoch!«
Der war morgen und sollte seinem trüben Namen alle Ehre machen, aber das wußten wir heute noch nicht, heute, heute tranken wir Schnaps, und gaben der guten flandrischen Erde davon ab, und waren lustig und es war Grabenkarneval.
Und wenn ich die Gabe des zweiten Gesichts hätte, die ich aber nicht habe, so könnte ich nun etwas schildern, was einen Tag später war, und was ich dann einen Tag später mit natürlichen Augen sah, aber heute, am Faschingsdienstag, nicht sehen konnte.
Da ist also eine flandrische Landstraße, und die eine Hälfte der Straße ist mit runden Steinen gepflastert, die andere Hälfte ist ungepflastert, und naß glänzt es auf beiden Hälften. Hohe Bäume, Pappeln natürlich, hier in Flandern, stehen die Landstraßen entlang, und natürlich geht ein Wind, hier in Flandern, und er biegt die Pappeln, daß sie alle gebeugt stehen, alle nach einer Richtung gebeugt stehen, in einer bittenden Haltung. Um was bitten sie den grauen, wolkenverhangenen Himmel, denn nur ihn können sie um etwas bitten, wen denn sonst noch? Die Straße ist lang und hört wohl nimmer auf und geht durch ebenes Land, das wie ein Meer ist, ein Landmeer, als Schiffe hier und da ein Bauernhof, steuerlos dahintreibend. Und jetzt kommen die Straße daher vier Männer, die tragen eine Bahre, und auf der Bahre liegt etwas Verhülltes, etwas in einer braunen Decke Verhülltes, so mit einer alten, braunen Schützengrabendecke verhülltes Längliches. Die Männer gehen mit dem Wind, der sie beugt, wie er die Pappeln beugt, und das Langgestreckte auf der Bahre rührt sich nicht. Das ist etwas Totes, etwas unwiderruflich Totes, das sieht man an der braunen Schützengrabendecke, an ihren Falten: wer einen Blick dafür hat, der sieht es, daß unter solchen Falten nur Totes sich bergen kann. Ein Windstoß, ein besonders heftiger, jagt die Straße herauf. Die Pappeln wackeln, beugen sich knarrend, die Männer beugen sich nach vorn, und die schamlosen Finger des Windes heben einen Zipfel der braunen Decke, und man sieht etwas Rotes, etwas viereckiges Rotes, dann fällt der Zipfel wieder darüber, und was man sah, war Blut, würde jeder denken, der um diese Zeit, an diesen Tagen solche Bahren durch Flandern tragen sah.
Es war aber nicht Blut, der tödliche Steckschuß ins Herz gab kein Blut, gar kein bißchen Blut, nur den trockenen Tod. Es war nur ein rotes Viereck von Heinrichs Hanswursthülle gewesen, das der Wind entblößt hatte, an diesem Aschermittwochnachmittag des Jahres neunzehnhundertundfünfzehn.


 
 
 
 
 



 

Drucknachweise und Anmerkungen:
 

S.176 Flandrischer Fasching
Die früheste Fassung von 1916 u.d.T Der weiß-rotgefleckte Sieger ist in Bd.I abgedruckt.
U.d.T Der Hanswurst erschien im Simplicissimus (30, 1926, S.62of. [25.Januar]) eine gegenüber dem hier vorliegenden Druck erheblich kürzere, teils in den Formulierungen übereinstimmende Fassung, die die ›tödliche‹ Pointe freilich noch nicht enthält, sondern endet (z.T. leicht verändert) mit S. 182, Z.29 - S. 183, Z.27 und S. 184, Z.21-25.
Eine ›mittlere‹ Fassung, die dann häufig nachgedruckt wurde, erschien u.d.T. Fasching 1915 zuerst in: Vossische Zeitung, Nr.44, 21.2.1928. [D] Sie weist folgende Abweichungen auf.
S. 176, Z. 12 - S. 177, Z. 18: Jeder feste Tritt [...] zum Boden geneigt D: Jeder feste Tritt wirbelte modrige Staubwolken auf. Der Reismüller schimpfte: »Herrgottsakrament, legt's euch endlich einmal hin!« Es wurde nicht still. Aus einem Eck des halbdunklen Saals schrie einer: »Ruhe! Ruhe! « Aber das Stimmengewirr wollte nicht abschwellen. [/]Zwei qualmende Öllampen baumelten von der Decke herab. Sie verbreiteten gerade soviel Licht, daß nicht einer dem anderen ins Gesicht trat. Auf der Galerie, die ringsum den Saal lief, polterte etwas krachend zusammen. Da war ein Berg aufgeschichteter Stühle umgestürzt. [/] Tornister und Brotbeutel als Kopfkissen, so lagen die meisten bereits am blanken Boden und versuchten zu schlafen. Das ging schlecht. Die Aufregung des Gefechts, aus dem wir knapp zwei Stunden heraus waren, zitterte noch zu sehr nach. [/] Auf der Bühne schimpfte der Reismüller immer noch: » So schlaft's doch endlich! « Erlag auf einer grünen Waldwiese, eng an die Windmaschine gedrängt. Ich hatte es mir im Souffleurkasten bequem gemacht. Etwas eng war's freilich da drunten, aber warm. Heinrich ging schnüffelnd zwischen den verstaubten Versatzstücken herum. Ich tat die Hände zusammen wie zwei aufgeschlagene Buchseiten, tat, als läse ich darin, als sei ich im Amt, und
S. 180, Z. 15-21: Ich fuhr [...] Dunst. Fehlt in D.
S. 180, Z.25 - S.181, Z.8: Der Abschnitt lautet in D: Geschrei und Staub und Aufregung. Ein dicker Knäuel wälzte sich fluchend zum Ausgang. Einzelne Furchtsame drückten sich in den Ecken herum, andere suchten nach ihren Gewehren, die Galerieschläfer polterten die Treppe herab.
S.181, Z.12: Ort sein. D: Ort sein! Ein Unteroffizier treibt mit weit ausholenden Armbewegungen das letzte Häuflein aus dem Saal. Eine Lampe ist umgeschmissen worden. Das Petroleum stinkt. [/] Ich bin schon draußen! Die erschreckten Ortsbewohner haben sich in den Kellern verkrochen.
S.181, Z.14-20: Handgemenge gekommen [...] Hausrat, D: Handgemenge gekommen. Ein langer Schlagetot lehnt an einem Eckstein. Da knickt er. Das traf. Er fährt mit der Hand zum Mund: Blut! Längelang schlägt er aufs Pflaster. Das Gefecht dreht sich dem Ortsausgang zu. Dort hält ein Trupp fest stand. Sie haben die Straße verrammelt mit Matratzen, allem möglichen Hausrat.
S.183, Z.15-21: die wir [...] zurück Fehlt in D.
S.183, Z.28 - S.18q, Z.2o: Beide Abschnitte fehlen in D.
Im Text von E I, S.114-125, nahm B. eine Veränderung vor:
S.185, Z.3of: neunzehnhundertundfünfzehn D: neunzehnhndertundsiebzehn
Die sprichwörtlich gewordene Wendung »Heinrich, mir graut vor dir!« (S.177, Z.19) stammt aus Goethes Faust 1(V 461o).