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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs
Band 3-2  Seite 247

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Kommentar Seite 488

Aus: »Der bekränzte Weiher«


Die Wallfahrt

Frau Klara Mutschlechner, die Frau des Doktors Josef Mutschlechner, der Bezirksarzt war in einem Marktflecken Tirols, nicht weit von Innsbruck, nahm am zweiten Tag die Wallfahrt schon sehr zeitig wieder auf. Vor dem Dorfwirtshaus, in dem sie übernachtet hatte, trank sie in der dunstighellen Frühe stehend ein Glas warmer Milch, von einer unausgeschlafenen Magd mürrisch dargereicht, und aß ein Stück Schwarzbrot dazu, und während sie langsam aß und trank, und die getigerte Hauskatze, die auf lautlosen Pfoten herangekommen war, schmeichelnd um ihre Füße spielte, ging ihr Blick prüfend über den Himmel, an dem das Licht schon mächtig und mächtiger wurde. Dann zahlte sie und stellte das leere Glas auf das Fensterbrett. Das frühe Mahl würde nun vorhalten müssen bis zum Abend, bedachte sie; denn bis zum Abend, an dem sie in Altenweh, dem Ziel ihrer hilfesuchenden Wanderung eingetroffen sein würde, wollte sie ein freiwilliges Fasten auf sich nehmen, wollte bis zum Abend nur mehr gehen und beten.
 Doch während des Gehens und Betens, mit dem sie nun sogleich begann, nachdem sie sich noch einmal zu dem schnurrenden Tier gebückt hatte, schweiften die Gedanken immer wieder ab von dem frommen Sinn der Worte, die ihre Lippen sagten, und wandten sich in schwerer Sorge den beiden Töchtern zu, sich mit ihnen zu beschäftigen, mit ihnen, derentwegen sie die Wallfahrt unternommen hatte.
 Ehe Frau Klara die Zustimmung ihres Eheherrn erhalten hatte zu dem Vorhaben, ihren Kummer vor die wundertätige Mutter Gottes von Altenweil zu tragen, hatte sie ihm lang mit hartnäckigen Bitten im Ohr liegen müssen. Der fröhliche, gutherzige Mann, allzeit zu Späßen aufgelegt, war nicht so bekümmert gewesen über die abermalige, die zweite Heimkehr seiner Töchter, wie sie, seine schwersinnige Frau, die ihn drängte, zu tun, was er gar nicht gern tat, zum mindesten nicht gleich und auf der Stelle zu tun entschlossen war: die Töchter nämlich, leidenschaftliche, zärtliche Mädchen, die wiederzuhaben er sich unsäglich freute, dorthin zurückzuschicken, woher sie nun schon zum zweitenmal und ungerufen gekommen waren. Zurück nach Brixen sollten sie! wollte die Mutter mit Strenge, sofort zurück nach Brixen! in das elterliche Haus ihrer künftigen Männer, wohin sie eingeladen worden waren, um einen Vorgeschmack zu bekommen von dem Leben, in das sie sich später einmal, und das hieß: bald schon, zu finden hatten.
 Die beiden Mädchen, Zwillingsschwestern, Angelika und Agnes, schöngesichtig und von hohem Wuchs wie die Mutter - wie hatten sie gejubelt in Stolz und Glück, dagegen der Abschiedsschmerz sich nicht durchsetzte, daß es den Eltern wehgetan hatte fast, als sie, von den künftigen Männern geleitet, zur Fahrt über das Gebirge sich aufmachten, über die Grenze, in das Land, das ihre neue Heimat werden sollte, das fremder Herrschaft unterstand seit kurzem, nach unglücklich verlaufenem Krieg, dessen Menschen aber nicht andere geworden waren, weil die Fahnen, die über ihnen flatterten, die Farben gewechselt hatten. Traurig waren die Eltern zurückgeblieben im töchterleeren Haus, kein Frauenlachen tönte mehr und Röckerauschen und Tuscheln und Tirilieren. Aber dann, nach vierzehn Tagen schon, war die Tür aufgeflogen und die beiden Mädchen, Angelika und Agnes, waren hereingestürmt und hatten gejauchzt und geschluchzt, und der Vater hatte schallend dazwischen gelacht, wie schon lang nicht mehr, im fröhlichen Baß, der grauhaarige Unbedachte.
 Als es ans Erzählen ging dann, und die Mädchen zu berichten wußten, wie gut sie es gehabt hatten dort in der Fremde, die so fremd doch nicht war, die gleichen Berge standen hier wie dort, und rühmen mußten, wie die künftigen Schwiegereltern sie verwöhnt hatten, nachsichtig und geduldig, und errötend priesen, daß ihre Verlobten gar, die Guten, sie auf Händen getragen, begriffen sie selber nicht mehr recht, warum denn sie geflohen waren, kopflos wie scheugewordene junge Pferde, und schämten sich, dem Heimweh so kleinmütig nachgegeben zu haben. Und sie waren ja voll Liebe für die erwählten Männer, und bessere wußten sie nicht zu denken, und so waren sie denn nach einer Woche schon wieder abgereist, nach Süden, über das Gebirge, ins fremd-vertraute Land, zu den Geliebten, die ihnen Briefe geschickt hatten, nicht voll von Vorwürfen, so berechtigt die gewesen wären, nur voll von zärtlichen Bitten und lustigen Verspottungen, und auch manch kräftiges Wort stand in den Briefen, das sie an Liebesschwur und Treuebeteuerung mahnte.
 Die Ruhe im Doktorhaus hatte nicht allzulang gedauert. Denn einige Wochen später waren die Mädchen schon wieder und zum zweitenmal, von Heimweh getrieben, zurückgekehrt, und diesmal, sagten sie, wollten sie für immer im Vaterhaus bleiben, dessen Luft zu atmen sie nicht entbehren konnten, und Vater und Mutter wollten sie nicht missen, erklärten sie, und den Verlobten in der Ferne, denen ihr Herz immer noch gehörte, wollten sie bis zum Tode liebend ergeben sein, die Treue ihnen halten bis ans Ende der Tage, aber zu leben, vermeinten sie, zu leben vermochten sie nicht da unten. Sie hingen am Hals des Vaters und sahen ihn mit nassen Augen bittend an, und der hatte nicht die Stärke, sie von sich abzuwehren mit strengem Wort und auf den Weg zu weisen, der zu der Töchter Glück führte, vielleicht, nach menschlichem Ermessen, wenn es denn schon wahr sein soll, daß es der Frauen Glück ist, Vater und Mutter zu verlassen, um dem Manne anzuhangen.
 Von den Verlobten waren wieder Briefe gekommen, zwei Briefe nur diesmal, an Angelika einer und einer an Agnes, und in jedem stand mit verschiedenen Worten das gleiche. Die Männer verlangten beide mit leidenschaftlicher Strenge, was sie verlangen durften, die sofortige Rückkehr der Bräute und baldige Hochzeit, die bei ihnen, im fremden Land, ausgerichtet werden sollte, und die Mädchen würden nun nichts mehr von ihnen hören, so schrieben sie, die Erbitterten und Gekränkten, es sei denn, daß sie sich die Verzeihung bei ihnen selber holten.
 Fröhlicher war es nicht geworden im Doktorhaus, seit die Töchter dorthin zurückgekehrt waren. Die Mutter ging mit ernsthaftem Gesicht herum und sprach wenig, die Mädchen waren scheu und hatten verweinte Augen und schrieben Briefe, auf die sie keine Antwort bekamen, und hatten Sehnsucht, die Wankelmütigen, in der liebenden Verwirrung ihrer zwiespältigen Herzen. Und wenn sie das Haus verließen, zu einem Spaziergang oder einer Besorgung oder um nach der Post auszuschauen, gleich kam Frau Klara zu ihrem Mann in die Stube, groß und schön, daß es ihn immer noch verlegen machte wie seit jeher schon, kam herein, leicht vor ihm errötend, denn das wieder war es, was sie sich nicht hatte abgewöhnen können in all den Jahren ihrer Ehe, und bat ihn, sie eine Wallfahrt tun zu lassen zum Gnadenbild nach Altenweil, daß mit Gottes Hilfe das Herz der Mädchen stark genug würde, sich zu entscheiden. Er hatte ihr es bisher immer abgeschlagen und hatte sorgend gemeint, daß den Plan auszuführen zu anstrengend sei für sie, die, wenn sie auch hochgewachsen und stattlich anzusehen, doch von leicht zu erschütternder Gesundheit war, zarter und anfälliger, als sie es sich selber gern eingestand. Aber dann hatte er ihrem Drängen doch nachgegeben, der gutmütige Spötter, der nach der Art der Männer seines Berufs nicht recht an Außerirdisches zu glauben vermochte, und hatte es ihr erlaubt, und hatte vom Zweck ihrer Reise gesagt: nützt es nicht, so schadet es nicht, und dergleichen Redensarten mehr getan, und hatte die Brille abgenommen, mit unbewehrten Augen lustig sie anzuzwinkern, der alte Fuchs, überlegen und besserwissend.
 Und auch die Töchter, in allem dem Vater ja mehr nachgeraten als der Mutter, so ähnlich sie der sahen, daß man sie alle drei für Schwestern halten mochte, auch die Töchter hatten nur ein gerührtes Lächeln für die wohlmeinende Absicht der frommen Frau. Aber die weißen, faltenlosen Stirnen, hinter denen die Gedanken kraus liefen, hatten sie doch nach alter Sitte, wie sie es gewohnt waren aus der Kinderzeit, der Mutter beim Abschied hingehalten, daß die ein Kreuz darauf zeichne. Das hatte sie getan, und war dann aufgebrochen zu dem Bittgang, und war nun schon den zweiten Tag unterwegs.
 Die Morgenstunden dieses zweiten Tages waren dunstfrei und glasklar. Weiß glänzte im Licht die Straße, die neben dem Gebirgsfluß dahinlief, grau färbten sich Schuhe und Rocksaum der Wallfahrerin, und die Sonne, obwohl es schon September war, brannte heiß herab wie im Hochsommer. Die Weiden hingen ihre silbergrauen Fahnen schleppend ins Wasser, und als es Mittag geworden war, stand der blaue Himmel wie zitternd über dem Land. Kein Wasservogel warf sich hoch aus dem niedern Ufergestrüpp, kein Singvogel aus dem Waldjenseits des Flusses und kein weißer Wolkenball stieg vom Gebirge hoch, im Blauen lustig zu treiben. Er blieb leer, der sonneflirrende Himmel, über dem Fluß und den Wäldern und Hügeln und der betenden, wandernden Frau.
 Der Weg verließ dann den Fluß, der wildschäumend durch eine Felsschlucht sich wühlte, der sanftere Weg machte lieber eine ausbiegende Schleife, senkte sich in ein breites Tal hinab, in dem Kühe weideten, tieftönend klangen ihre Halsglocken her. In halber Höhe dann lief er auf einem Hang dahin, und weil eine grüne Wiesenmulde, wie eine Schüssel gewölbt, zum Bleiben lockte, setzte sich die müde Frau, eine kurze Rast im Schatten zu halten nach dem langen Marsch, den sie nun schon hinter sich hatte, und sich zu stärken für die Mühe des Wegs, der noch vor ihr lag.
 Sie war wohl ein wenig eingeschlummert, kein richtiger Schlaf war es, der sie umfing, nur so ein träumendes Dahindämmern, aber als sie daraus auffuhr, war die Sonne ein Stück weiter gerückt, oben am Himmel, und die grüne Grasschüssel war mit ihrem Licht randvoll angefüllt. Die Kuhglocken klangen sanft und vertraut her zu ihr, ganz wie im Heimattal, in dem das Doktorhaus stand. Die Füße taten ihr weh von den beiden Marschtagen, und ein wenig matt fühlte sie sich, das kam vom Fasten, denn gestern und heute hatte sie zu Mittag nichts gegessen, das gehörte zu ihrem Wallfahrtsgelübde. Und die Jüngste war sie doch auch nicht mehr, kam ihr plötzlich in den Sinn, zwei erwachsene Töchter hatte sie schon, sollte man sich da nicht alt fühlen dürfen? Sie bedachte, wie das wohl sein mußte, wenn man einst greisenhaft war, verrunzelt das Gesicht und krumm der Rücken! In der Sonne dann sitzen und ihre Stärke spüren, das wird man auch im Alter noch können, überlegte sie, und wenn man taub wird für das Menschenwort, daß es gleichgültig ist, in welcher Sprache man zu einem redet, man versteht keine mehr, der Schall der Glocken wird dann noch zu einem dringen! Und wenn die Augen auch schwach werden, so weit wird es immer noch reichen, daß man über ein Stück Wiese hinsehen kann, wie das so groß, das da vor ihr lag! Und dieses Wenige, dessen man im Alter noch bedurfte, war es nicht so, daß es überall zu haben war, diesseits und jenseits des Gebirges? Und es sollten die Töchter, die flattersinnigen, doch nicht in die Wüste gehen, wo kein Gras wächst, und nicht in die Türkei, wo keine Glocken läuten, inmitten der Berge sollten sie bleiben, wie je und eh.
 Frau Klara hatte sich erhoben und sah zu dem blauen Gebirge hin, das gezackt und großmächtig aufgetürrnt zu ihrer Rechten sich hinzog, mit weißen Schneehäuptern und grauglänzenden Wänden. Was alles das Leben einem auferlegte! sann sie, das unbegreifliche Leben, das einen dazu brachte, zu erbitten, was Schmerz zufügte! Und fast wär' ein wenig Bitternis aufgestiegen gegen ihren bubenhaften, graubärtigen Mann, den immer Unbedenklichen, nur in der Gegenwart Lebenden, der sich's auch jetzt und hier wieder leicht machen wollte und gerne noch lange seine Töchter um sich gehabt hätte, ungedenk, wie es enden mochte für die. Aber die Anhänglichkeit der Mädchen an die Eltern mußte niederbrennen zu einer sanften Glut, sollte anders stark auffahren in ihnen das Feuer der beständigen Liebe zu ihren künftigen Männern. Und nun war schon wieder verebbt ihr weniger Groll gegen den herzensguten Mann, da sie zurückdachte an die Zeit, da sie ihm gefolgt war, dem damals Schlanken und Bartlosen, und wie sie ein Leben gelebt hatte neben ihm, mit manchem Glück und manchem Schmerz, und manchem frierend Alleinsein, denn auch daran hatte es nicht gefehlt, aber es war doch schön und richtig und gut gewesen, nehmt alles nur in allem, und auch der Kummer hatte dazu gehört, wie der Schatten zum Licht. Nun mußten sie, die beiden Altgewordenen, zurückbleiben im leeren Haus, sie mußten sich abfinden damit, die Ergrauenden, andern Eltern erging es nicht anders, so war das nun schon, und wie von einem mächtigen Glanz erfüllt war sie plötzlich von der Zuversicht, daß ihre Wallfahrt alles zu einem guten Ende bringen werde, und betend machte sie sich wieder auf den Weg.
 Die Straße zog sich langsam wieder zur Höhe und erreichte einen mit spärlichem Grün bewachsenen Buckel, und da lag wieder der Fluß vor ihr, noch tief unter ihr, und die Straße, die zu ihm strebte, mußte zuerst einen Wald durchqueren, der hangabwärts sich breitete, ehe sie auf den Fluß dann stieß und die Brücke. Die Wallfahrerin begann den leichten Abstieg und freute sich der Kühle, die der Wald herhauchte, und eine Zeitlang noch überblickte sie den Fluß, der in seinem zu großen Bett grün und milchig schäumend daherkam, und sah die Holzbrücke silbergrau glänzen, eine schmale Holzbrücke, die wie auf hohen Storchenbeinen durchs seichte Wasser watete, jetzt im Spätsommer, wo überall aus dem Strömenden die weißen Kiesinseln aufblitzten - im Herbst wohl, wenn die Regen einsetzten, mochte es anders aussehen.
 Bald nahm der Wald die wandernde Frau auf, in seiner grünen Dämmerung schritt sie dahin, braungemorschte Nadeln bedeckten den Weg, geschuppte Zapfen lagen herum, und Tannen und Fichten ragten neben feierlich sich breitenden Buchen, und eine kühle Stille schwebte bis zu den hohen Blattgewölben hinauf. Und da war auch schon wieder der Fluß! Er war da, obwohl man ihn nicht sah, aber man vernahm sein leises Rauschen, das in die Ruhe des Waldes hereinschwätzte, und auch die Brücke war da, so wenig zu sehen wie der Fluß zu sehen war, aber es war zu hören, wie sie ächzte und trocken stöhnte unter einem Wagen, der dumpf über sie polterte.
 Nun blieb sie, zusammenfahrend, plötzlich stehen, die Wallfahrerin, und sah sich erschreckt um im Wald, und drehte sich ganz um sich selber und spähte und horchte mit angehaltenem Atem: was da mit gefährlich klingendem Schmettern soeben gebrochen war, das mußte wohl der Ast eines mächtigen Baumes gewesen sein, mit Donnern herabfahrend aus seiner Höhe, prasselnd durch niedriges Gezweig. Aber nichts war zu sehen, kein Wipfel schwankte und kein Farnkraut wippte, und wieder stumm lag der Wald. Jetzt schlugen Stimmen an das Ohr der Lauschenden, eine fluchende Männerstimme und die jammernde einer Frau, und das Räderrollen des Wagens auf der Brücke war nicht mehr zu hören, und da fiel ihr ein, daß auf der Brücke vielleicht ein Unglück geschehen sein mochte, auf der alten Brücke aus grauem Holz, die sie von der Höhe aus gesehen hatte, und im morschen Gebälk bricht eher etwas als am grünen Baum. Und nun fing sie zu laufen an, mit wehenden Röcken, und ihre Schuhe rutschten auf den Nadeln, daß sie bald gefallen wäre, und war am Waldrand, und sah den Fluß herblitzen, und sah in der Helle draußen die hochbeinig watende Brücke, die stand also noch.
 Das Befahren der Brücke war schon vor Wochen verboten worden, eine Tafel zeigte es an, und der Mann, der die Pferde am Zügel hielt, auf die Brücke einschimpfte, mit zorngerötetem Gesicht sie einen unbrauchbaren, wackligen Kasten schalt, der an allem die Schuld trage, der hatte Zeit sparen wollen und den Umweg über die neue Brücke gescheut, die weiter oben über den Fluß führte, und hatte es noch einmal gewagt mit der alten. Es war auch soweit alles gut gegangen, und die Pferde hatten schon den Uferboden unter sich gehabt, als der äußerste der hölzernen Pfeiler in die Knie brach, und der Brückenboden hatte sich einseitig etwas gesenkt, und der Wagen hatte an der Deichsel zu tanzen begonnen und dann wuchtig gegen das Geländer ausgeschlagen, das hellkrachend gesplittert war. Das Mädchen neben ihm am Wagensitz, seine Begleiterin, war ins Taumeln gekommen, hatte vergeblich sich noch anzuklammern versucht, und er hatte nicht auf sie geachtet, weil er mit den unruhig tretenden Pferden, die am Zügel rissen, zu tun hatte, und so war sie gestürzt und ins Wasser gefallen. Und sie hätte nicht so jammernd dazustehen brauchen im niederen Wasser, das kaum kniehoch, und dessen Strömung hier so gering war, daß ihre Füße den Boden nicht verlieren konnten, wenn auch der weite Rock um ihre Hüften sich blähte, und sie nicht sehen konnte, wohin sie trat, und das Ufer winkte kaum zwei Armlängen von ihr entfernt. Nun war die Wallfahrerin schon herangekommen und tat, was der sinnlos scheltende Mann, dessen silberne Westenknöpfe blitzten, nicht tat: sie streckte dem Mädchen am Fluß eine Hand entgegen, ihr zu helfen.
 Die Gestürzte tat zwei, drei zögernde Schritte, mit ängstlichen Augen blickend, griff hastig nach der rettenden Hand, klammerte sich fest daran, mit ihrem ganzen Gewicht, und mit den Füßen gab sie, unbesonnen wie sie war, den Boden auf und wollte aus dem Nassen gezogen sein wie ein Fisch, der am Haken hängt. Aber der Ruck war zu mächtig gewesen, jetzt verlor die Retterin selber den Halt, und dem eigenen Fall geschickt zuvorkommend, sprang sie freiwillig ins Wasser und stand auf sicheren Beinen und richtete das Mädchen auf, das nun einen Augenblick lang ganz und gar untergetaucht gewesen war, das Wasser troff ihr über das entsetzte Gesicht, und sie lachte, die Retterin, ermunternd, und das Mädchen stützend und führend, erreichte sie mit ihr das Ufer.
 Der Mann mit den Silberknöpfen an der Weste schien nicht übel Lust zu haben, seine Verdrossenheit, der er zuerst einmal mit Schimpfen über den baufälligen Zustand der Brücke Luft gemacht hatte, nun das Mädchen entgelten zu lassen, denn er funkelte es mit seinen schwarzen Augen an und knurrte: Wie kann man sich so dumm anstellen? und er drehte den Kopf voll Verachtung, die Augenbrauen hochziehend. Dein Sonntagsstaat ist verdorben! sagte er, und faßte heftig den nassen Rock des Mädchens, und schüttelte ihn, daß die Tropfen flogen, und: Die Weiberleut! wunderte er sich mit Geringschätzung. Steig' auf! sagte er dann böse zu dem Mädchen, und das senkte das hübsche, kindliche Gesicht demütig und kletterte gehorsam auf den Bock, und das feuchte Gewand glänzte.
 Sie seien in der Stadt gewesen, erzählte der Mann der Frau und wurde auf einmal ganz höflich, und nahm den runden grünen Hut ab, der mit einer Spielhahnfeder geschmückt war, und hielt ihn vor die Brust, wegen ihrer Hochzeit, sagte er, die in drei Tagen stattfinde, und sie hätten alles zur Zufriedenheit erledigt so weit, und jetzt führen sie heim, und in einer halben Stunde seien sie zu Haus, wenn nicht die da oben, und er wies mit dem Daumen auf das Mädchen am Bock, ohne hinzusehen, wenn nicht die da oben vorher nochmal ins Wasser fiele, denn sie müßten über noch eine Brücke. Dann setzte er den Hut auf und zwirbelte das schwarze Schnurrbärtchen, nahm seinen Platz neben dem Mädchen ein, das sich ganz schrnal machte. Grüß Gott! sagte er, und sah zur Brücke hin, und: So ein Glump! sagte er, und schnalzte mit der Zunge, und die Feder auf seinem Hut wehte, und die Pferde zogen an und der Wagen rollte davon. Der Silberbeknöpfte sah sich nicht mehr um, eigensinnig steifte er das Genick, das Mädchen doch wendete sich noch einmal und winkte dankbar mit der Hand zurück, aber mit einem Stoß der Schulter gab ihr der Bräutigam zu verstehen, daß sie das zu unterlassen habe.
 Frau Klara stand noch eine Weile, bis der Wagen hinter einem Wäldchen verschwunden war, und ein scharfer Peitschenknall drang noch einmal zu ihr her. Dann setzte sie sich an der Flußböschung nieder, neben einem üppig wuchernden Brennesselbusch, dessen grau bestaubte Blätter dunkel gesprenkelt waren von dem zornigen Tropfenregen aus den geschüttelten Röcken der Braut. Sie zog die nassen Strümpfe aus und wand sie aus, und auch aus dem Rocksaum, den sie auspreßte, troff das Wasser, und schlüpfte barfuß wieder in die Schuhe und setzte ihren Weg fort, und die Strümpfe schwang sie durch die Luft, sie zu trocknen. Sie ging im nun schon matten Schein der Sonne dahin, ein Frösteln überlief sie, sie schritt rascher aus und kam bald an die neue Brücke, auf der sie den Fluß überquerte. Sie hatte noch fast drei Stunden zu gehen nach Altenweil, las sie an einer Wegtafel, und so würde es wohl fast finster geworden sein, bis sie dort ankam.
 Wieder stieg der Weg in behaglichen Windungen einen Hügel empor und über den schon abendschwarzen Wald hinweg sah sie den mattglänzenden Fluß ruhig dahinziehen. Sie war nun schon recht müde und fror auch, und ein paarmal kam sie in Versuchung zu rasten, aber das erlaubte sie sich nicht, zu spät sonst würde sie in Altenweil eintreffen, und sie mußte doch heute noch ihre Knie vor dem Gnadenbild beugen. Immer neue Schleifen zog der Weg und stieg auf und stieg ab, der es so eilig nicht hatte wie die wandernde Frau, und mit Kummer sah sie ihn immer wieder weit vor ihr sich krümmen und lustig laufen, den ruhelos Übermütigen. Sie fror sehr, und dabei glühte ihr Gesicht, und ihre Hände flogen, und sie ging wie im Traum, und zu beten hatte sie längst aufgehört, die ganze Inbrunst ihrer Bitten wollte sie aufspeichern bis sie der Gnadenmutter ins Gesicht sehen konnte.
 Durch einige Ortschaften war sie gekommen. Es war schon abendlich still geworden, und die Leute saßen auf den Bänken vor den Häusern, friedlich nebeneinander, Männer und Frauen, ihr Tagwerk war getan, ihre Hände feierten, und manche der Sitzenden grüßten freundlich die Gehende, die noch nicht Ruhe gefunden hatte. Und als einmal eine Bäuerin im Kopftuch sich erhob, gerade als die späte Bestaubte an ihr vorbeischritt, da hatte es der Erschöpften geschienen, die Frau sei aufgestanden, ihr Platz zu machen, und mit einer einladenden Handbewegung habe sie auf die Lücke gedeutet, die zwischen den Sitzenden jetzt war, und die Wandermüde hatte schon einen raschen und freudigen Schritt zur Bank hin getan, aber trotz des Fiebers, das sie heftig schüttelte, war noch so viel Besinnung in ihr, im letzten Augenblick zu erkennen, daß es nur eine Täuschung war, mit deren Hilfe ihr ermatteter Körper sich eine Rast erlisten wollte. Und so war sie weitergegangen, immer weiter, mit schon wankenden Beinen, auf dem Weg, der nach Altenweil führte, und wenn sie ihm nur tapfer folgte, mußte sie bald nun dort sein, endlich. Und unter einem Lächeln fast mußte sie ihres Mannes gedenken, des so leicht Nachgebenden, der, sähe er sie jetzt, sie würde getadelt haben, daß sie die Wallfahrt nicht längst schon hatte abgebrochen, aber sie wußte, nur wer unter Mühsal ausharrt, wird belohnt werden von ihr, die im Dämmrigen thronte, der Mutter mit den sieben Schwertern im Herzen. Ihr Ohr würde sie neigen, die in Schmerzen Schimmernde, die Gnädige, ihrem Flehen, und erbitten und erflehen wollte sie doch nicht Gutes und Angenehmes für sich und ihren Mann, wollte erbitten und erflehen nur, daß ihr und ihrem Mann das Leid nicht erspart bleibe, die geliebten Töchter an die fremde Welt zu verlieren. So ging sie, und ging, und es wollte nun schon fast Nacht werden, und da, als der Weg sich wieder einmal senkte, da sah sie fern Lichter blitzen, das war Altenweil, und dort harrte ihrer die strahlend Bekrönte. Sie fing, die Taumelnde, zu laufen an, daß der Staub um sie stieg, aber sie lief nicht lange, lange leisteten es die zitternden Beine nicht, sie ging wieder im Schritt, und der Kopf tat ihr weh, und vor ihren Augen zuckte es unruhig wie Feuer. Endlich! sagte sie mit trockenen Lippen, endlich! und blickte zufrieden auf den Weg, der nicht mehr so mit Schleifen und Biegungen herumtat und sich wichtig machte, wie so oft schon heut', der pfeilgerade auf die Ortschaft losging. Sie begann zu beten, betend wollte sie vor die Gewaltige hintreten, und sie roch schon den süßen Weihrauch und sah in weißen Wolken ihn schweben, aber das war der Staub, der sich um sie erhob, und sah die Kerzen brennen vor dem Altar, viele rote Kerzen waren es, und die Flämmchen zuckten, und in ihrem Schein sah sie die steinbesetzten Griffe der Schwerter funkeln, die der Himmlischen ins Herz drangen. Sie vermeinte die Schmerzen zu spüren, in der eigenen Brust, und griff an die eigene Brust, die weh tat, so weh, und dann sah sie zwischen den Kerzen das Gesicht der Gnadentäterin, das lächelte, trotz der sieben Wunden, sah ihr weißes, süßes Gesicht mit den roten Wangen und dem runden, vollen Kinn, und sah die schwarzen Augen, die waren sanft und brennend zugleich, und das Gesicht neigte sich gegen sie, fragend, und da fiel die Wallfahrerin nieder auf die Knie, mitten auf der Straße, daß der Staub aufflog um sie, wirbelnd, und stammelte ihre
Bitte und redete von ihren Töchtern, von Agnes und Angelika, den guten Kindern, und von den wankelmütigen Herzen, die sie in der Brust trugen beide. Das Gesicht zwischen den Kerzen schien sich streng zu straffen, und wurde dann wieder milder, und dann war es nur mehr undeutlich zu sehen, der Weihrauch wallte in silbernen Ringen, nur die Kerzen schimmerten noch hindurch, gelb leuchtend. Die Flammen begannen zu schwirren, wie flügelnde Bienen, und summten auch, und flogen in goldenen Schleifen, und von dem holden Antlitz war nun fast nichts mehr zu erkennen, nur die Schwertgriffe blitzten grausam, und die Beterin auf den Knien streckte flehend die Arme und sagte: Hilf! und fiel mit vorgestreckten Armen, fiel auf die Straße hin, fiel aufs Gesicht, und lag mit Gesicht und Händen im Staub, und blieb so liegen.
 Es war wirklich Altenweil gewesen, der Marktflecken und Gnadenort, den die Wallfahrerin vor sich erblickt hatte mit glänzenden Lichtern, das ersehnte Ziel ihrer frommen Reise, in das gehend und betend einzuziehen ihr nicht mehr hatte vergönnt sein sollen. Man hatte die Ohnmächtige noch am Abend gefunden, auf der Straße lang hingestreckt, grau beschmiert Hände und Gesicht und die Kleider beschmutzt, und hatte sie in das Krankenhaus des Ortes geschafft, schwer fiebernd, und im Fieber wirr betend und redend. Die Nacht und den folgenden Tag hindurch lag sie ohne Bewußtsein im Bett, in einem freundlichen, hellen Zimmer, dessen Boden spiegelte vor Sauberkeit, und ein Schrank glänzte leuchtend braun, und blühweiß war der Vorhang am Fenster. Aber das alles sah sie nicht, weil sie die Augen nicht ein einzigesmal auftat, und daß man die alte Kuckucksuhr, die an der Wand hing, abgestellt hatte, damit der Schlag des hölzernen Vogels die Ruhe nicht störe der Hingesunkenen, war wohl überflüssig, ihr Schlaf war so fest, daß auch der schmetterndste Ruf nicht an ihr Ohr gedrungen wäre. Und die schwarze, schweigende Nonne war gekommen, in raschelnder, weißer Haube, und hatte eine Schüssel warmen Wassers gebracht und auf den Stuhl neben das Bett gestellt. Dann hatte sie ein wenig die Decke am unteren Ende des Bettes aufgeschlagen und einen Lappen in das Wasser getaucht und begonnen, die Füße der Kranken zu säubern, die staubig waren von dem langen Wallfahrerweg, und sie war ja barfüßig in den Schuhen gewesen, die besinnungslose Frau. Mit Bedacht und gründlich tat die Krankenschwester ihre Arbeit, wusch und rieb leise, mit beflissener Hingabe, Zehe nach Zehe, und mit einem wollenen Tuch trocknete sie die erfrischten und hüllte sie wieder in die Decke. Sie holte, lautlos gehend, frisches Wasser, und reinigte die Hände der Schlummernden, und zum drittenmal füllte sie die Schüssel und wusch das Gesicht vom Staube frei, Stirn und Nase und Wangen und Kinn, und die Bewußtlose lächelte im tiefen Traume dankbar und drehte bereitwillig nachgebend den Kopf, das Werk der Säuberung zu erleichtern.
 In der Handtasche der Fiebernden hatten sich Briefe gefunden, mit Hilfe derer man ihren Namen und ihren Wohnort und ihre Umstände hatte feststellen können, und man hatte unverzüglich ihren Mann verständigt, und als der, einen Tag später, gegen Abend, zu der Stunde, da man die Wallfahrerin aus dem Staub aufgerichtet hatte, mit den beiden Töchtern bei ihr eintraf, war sie schon tot, und zu Häupten der Toten brannten lautlos die weißen Kerzen, von den frommen Schwestern entzündet.
 Sie waren, der Vater und die Töchter, unter der Tür des Krankenzimmers stehengeblieben und hatten die schimmernd Bleiche angestaunt, die groß und unbeweglich dalag, das alterslos glänzende Gesicht in den Kissen ein wenig erhoben, wie lauschend in der tiefen Stille, und hatten zuerst fast keinen Schmerz aufgebracht bei ihrem Anblick: wie sollte man Leid empfinden können beim Anblick solch strahlend Entrücktseins?
 Aber dann warfen sich die beiden Töchter, Agnes und Angelika, am Bett der Mutter nieder, und herzten sie, und küßten sie, und weinten und schluchzten laut, und klagten sich an, mit hilflos jammernden Worten. Der Vater doch, der Ehemann, der Graubart, blieb noch eine Weile an seinem Platz unter der Tür stehen, und die Knie zitterten ihm, blieb stehen, ohne weinen zu können, mit trocken brennenden Augen, und wollte es sich nicht verzeihen, daß er ihren Bitten nachgegeben, und sie die todbringende Reise hatte tun lassen, und voll scheuer Trauer sah er auf die Hingestreckte, die Unberührbare, so schien es ihm, und so schien ihm in seinem Schmerz, auch die Lebendige, auch als sie noch atmete, sein sei sie nie gewesen, nie ganz sein, die schöne Frau, und immer im tiefsten für sich geblieben und abgesondert und allein. Da stiegen auch in ihm die Tränen hoch, unaufhaltsam, und rannen, und rannen ihm über die Backen, weiß niederströmend.
 Ins Doktorhaus schaffte man die Tote dann, die Wallfahrerin. Dort lag sie noch einen Tag lang aufgebahrt, und dann begrub man sie, im schönen Friedhof des Ortes. Und als die Trauerglocke scholl über das Dorf hin, und der Sarg in die Tiefe sank, da stand vielleicht schon, und freudige Glocken schlugen, die Braut neben dem mürrischen Bräutigam vorm Altar, die Ringe zu wechseln, die Verschüchterte, der die Tote aus dem Fluß geholfen hatte.
 Zur Beerdigung waren auch die beiden Männer aus Brixen gekommen, die wieder abfuhren nach fünf Tagen und die Mädchen mit sich nahmen, Agnes und Angelika. Und als der Zug den Brennerpaß hinabrollte, und das Tal sich weit öffnete, in fruchtbarer Fülle, und von allen Höhen die Rebstöcke herabstiegen, tief gestaffelt, in unabsehbaren Reihen, hölzerne, traubenbeladene Träger der Lust, und das Land in der Sonne leuchtete mit Kürbis und Äpfel und jeglichem Obst, da legten die Mädchen den Arm um den Nacken der Geliebten und erneuerten ein Versprechen, das
sie in Altenweil stumm der stummen Mutter gegeben hatten - und oft hält man einem Toten mit mehr Treue ein Versprechen als einem Lebendigen. Sie warteten nicht das Trauerjahr ab, wie das üblich ist sonst, nach acht Wochen schon traten sie, im schwarzen Kleid, am Arm der Männer vor den Priester, der sie zusammengab, und sahen so schön drin aus, wie sie auch im weißen nur je hätten aussehen können, und es waren die Mädchen gewesen, die sonst Zaudernden, die auf so beschleunigte Trauung gedrängt hatten, voll leidenschaftlicher Ungeduld. Zu erreichen, daß der Vater, der Witwer, zur Hochzeit gekommen wäre, sie hatten ihn bestürmt darum, mündlich und schriftlich, hatten sie nicht vermocht.
 Es ließ sich alles so weit recht glücklich an, vorläufig, es schien vortrefflich gehen zu wollen, einstweilen, und vielleicht blieb es auch so, es gefiel ihnen der Ehestand ausnehmend, bis jetzt – wer wollte mehr voraussehen und voraussagen? Der Toten mußten sie oft gedenken, in endlosen Gesprächen und Betrachtungen, und sorgenvoll forschten sie, hin und her überlegend, tausendmal erwägend jedes Wenn und Aber, ob sie Schuld wohl trügen, mehr oder weniger, an dem Schicksal der Mutter, die, für sie bittend, fortgemußt hatte, und es war nie ein Ausweg zu finden und eine feste Antwort. So saßen sie in Tränen oft da, und wurden wieder froh erst, wenn die Männer sie ihnen fortküßten. Sie waren auch, die jungen Frauen, sonst geistlichen Beistand selten suchend, zu dem Pfarrer gegangen, der sie getraut hatte, und hatten ihm von dem gesprochen, was sie schwer bedrückte, aber der verwies es ihnen, solchen Gedanken nachzuhängen, als vorwitzig und vermessen tadelte er es, am Ratschluß des Ewigen drehen und deuteln zu wollen.
 Und was den Vater betraf, der zur Hochzeit nicht kommen wollte und auch nicht gekommen war und der allein mit einer Wirtschafterin nun hauste, so hatte der, als die Töchter ihm vor ihrer Abreise schmeichelnd das Versprechen zu entlocken suchten, sich später, und bald schon, zur Ruhe zu setzen und zu ihnen zu ziehen, abwechselnd bei ihnen zu wohnen, so hatte der vereinsamte Graubart nur ausweichend geantwortet, mit manchem Vielleicht und Kann-sein. Er arbeitete viel im Garten, was früher nicht seine Gewohnheit gewesen war. Als mit dem Frühling die Schwalben kamen, nistete, wie alljährlich, ein Paar im Hausflur und erfüllte ihn mit Gezwitscher und blitzendem Sausen. Bald war die junge Brut da, weitaufgerissene Schnäbel streckten sich über den Nestrand, futtergierig, und im unermüdlichen Hin und Her hatten die Eltern zu tun, die Hungrigen zu sättigen, und blau wogte es im weißen Flur, voll stürmischen Lebens.
 Einmal, an einem strahlenden Tag, als mächtige Wolken hoch im Blau sich ballten, holte sich der alte Mann aus dem Schuppen eine Leiter, schaffte sie in den Flur, stieg hinauf zum Nest und löste es vorsichtig ab. Aufgeregt schnappten die jungen Vögel und hackten mit den Schnäbeln nach seinen Fingern. Er brachte seine Beute in den Garten, ging dorthin, wo in der Ecke, beim Zaun, die Regentonne stand. Auf dem schwarzen Wasserspiegel schwamm in langen, grünen Fäden das Moos. Mit einer plötzlichen Bewegung warf der Alte den Raub in die Tonne, das Wasser spritzte, die grauflaumigen Vögel gingen gleich unter, das Wasser trug sie nicht, aber das Nest blieb oben, drehend und schaukelnd.
 Noch tagelang und immer wieder kamen die Schwalben in den Hausflur, wild flatternd, und suchten jammernd vergeblich ihre Brut. Da befahl der zornige Alte, die Haustür immer fest geschlossen zu halten und sah streng darauf, daß man ihm gehorchte, und da blieben die Vögel endlich weg.
 
 


Drucknachweise und Anmerkungen:

S.247 Die Wallfahrt
Zuerst erschienen in: Das Innere Reich, 2, 1935/36, 5.408-421 [Juli 1935]. [E] Der Text ist fast identisch mit der Buchfassung, doch hat B. eine reflektierende Passage gegen Ende der Erzählung später gestrichen:
S.263, Z.31f.: deuteln zu wollen. Danach schließtsich in E folgenderAbsatz an: Schließlich war es ja auch an dem, daß man hätte sagen können, die Wallfahrerin; der die Muttergottes von Altenweil bis an die Tore der Ortschaft entgegengekommen war, sei in das verderbliche Fieber gefallen, weil sie einem fremden Mädchen, einer Braut auch, zu Hilfe geeilt war. Hätten die Töchter davon erfahren, es wäre ein Trost gewesen für sie, das auch, und ihr Gewissen wäre ruhiger geworden, vielleicht, aber es hätte ihnen doch auch den schönen Glanz getrübt, der um die Gestalt der für sie in den Tod wallfahrenden Mutter war. Und den Geistlichen hätte das Wissen davon nur fester in seinem Glauben gemacht, daß es nicht der Menschen ist, Zusammenhänge auszudenken, die nie und nimmer auszudenken sind.
In Valentin und Veronika. Drei Erzählungen (Düsseldorf. Merkur 1947) [D] erschien Die Wallfahrt mit einigen Abweichungen, die allerdings nicht in den Text der Gesamtausgabe eingegangen sind:
S.249, Z.32: Verlobten D: Verlobten unten im italienisch gewordenen Land
S.254, Z.31: geschehen sein mochte, auf D: geschehen war, warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Auf
S.255, Z.5: und D: und so ungerecht und komisch sind die Menschen, daß 5.2.59, Z.2: die in Schmerzen Schimmernde Fehlt in D.
S.259, Z. 11: Bekrönte. D: Bekrönte, und war wohl schon ungeduldig, daß sie so lang gezögert hatte, daß sie nicht früher schon längst schon gekommen war.

S.2,59, Z. 1,5: Feuer. D: Feuer. Den Lichtern im Tal war sie nun schon viel näher gekommen, es war Altenweil, es gab keinen Zweifel mehr, und:

S.26o, Z.13: Hilf D: Bleib
S.263, Z.10: voll leidenschaftlicher Ungeduld D: voll Leidenschaft, den Willen der Toten unversäumt zu erfüllen

S.263, Z.33f.: der zur Hochzeit [...] gekommen war und Fehlt in D.
S.26q, Z.12f.: und im unermüdlichen Hin und Her [...] zu sättigen Fehlt in D.
Die Aussage, »daß es der Frauen Glück« sei, ihrem Mann »»anzuhangen« (S.249, Z.3of.) ist eine bezeichnende Variation des Bibelzitats: »Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen.«
(Gen.2,24; ebenso Mk.10,7)