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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs
Band 3-2
Seite 287
Kommentar Seite
492
Aus: »Das
gerettete Bild«
Das gerettete Bild
Der schwarze
Weiher glänzte, aus den Baumwipfeln herab drang ein Vogelton, sie
waren im Schatten gelagert hier, die zwei Freunde, der schlafende und der
wachende. Hinter ihnen dunkelte der Wald und rauschte tief auf manchmal,
und vor ihnen breitete es sich zu einem sanft gemuldeten Wiesental, an
das weiterhin Kornfelder sich heranschoben, von Obstbäumen gesäumt.
Eine Wasserjungfer, grün schillernd, mit Flügeln wie aus Goldglas,
sauste in geradem Flug über den Weiher daher, hielt auf den Wald zu,
und wer weiß, was sie dort locken mochte im Dämmern? In blindem
Eifer streifte sie dabei des Schlafenden Gesicht, daß der, erwachend,
nach ihr griff, sie aber nicht zu fassen bekam, die Flinke, die schlank
wendete und wieder auf das Wasser hinausflog, und sie hatte wohl schon
wieder vergessen, was im Wald sie gewollt hatte.
Der so geweckt worden
war, Leonhard, richtete sich auf und gähnte und sah zu dem Freund
hinüber, der mit dem Rücken an einen Baum gelehnt saß und
ihn nicht beachtete, und so sagte er schläfrig-zornig, und mehr wie
zu sich selber denn zu ihm: » So ein Sonntag! Gibts etwas Langweiligeres?«
Der andere wandte den Kopf nicht, er hatte zu tun mit seinem Versuch, eine
Ameise von ihrem Weg abzubringen, indem er Rindenstückchen und kleine
Steine vor ihr niederwarf, für sie waren es Balken und Felstrümmer,
schwindelnd und mühsam zu überklettern, aber aus der Richtung
drängen ließ sie sich nicht, die Schwarze, Unscheinbare, anders
als die leichtsinnige Wasserjungfer, aber dafür glänzte die auch
goldgeflügelt. Nun überschüttete der Gewaltige, der zornig
über ihr tobte, die Wandernde mit einem Sturzregen von Tannennadeln,
daß sie begraben war eine Zeitlang im Finstern, aber dann kam sie
wieder ans Licht, und während sie den Weg fortsetzte, von dem nicht
abzuweichen sie sich vorgenommen hatte, sagte der so mit ihr spielte: Wir
können ja auch in die Stadt gehen. Leonhard schüttelte ablehnend
den Kopf, der ein wenig zu groß fast auf seinen schmalen Schultern
saß, und sagte: Nein! und sagte: Ich will nicht schon wieder den
Mädchen in die Arme laufen! Franz, von der Ameise nun ablassend, die
das nützte und im Gewirr eines Grasbüschels verschwand, lachte
laut auf, fast zornig, und lachte dann nicht mehr, und machte ein ernstes
Gesicht, und fragte vorwurfsvoll, und ein wenig wohl war auch Neid in seiner
Stimme: Warum hast du es immer mit so vielen? Leonhard war selber unzufrieden
mit sich, und so wiederholte er die Frage und fragte: Ja, warum? Aber Antwort
kam von nirgend her, und so schwiegen sie beide wieder und sahen in das
Tal hinaus und horchten auf das taumelnde Summen der Bienen, aber zu sehen
war nicht eine, zwischen den Gräsern mochten sie geschäftig sein.
Nach einer Weile sagte
Franz von seinem Baum her: Du, man spricht davon, die Hanna Wagenpfeil
soll wieder da sein. So? tat Leonhard wenig neugierig. Er lag wieder lang
ausgestreckt, den Kopf erhöht ins Moos gebettet, daß er auf
den Weiher hinaus sehen konnte, und er hatte nicht recht hingehört,
aber dann fand der Sinn der Worte zu ihm, und ihm fiel ein, wer diese Hanna
Wagenpfeil war, und plötzlich, und während eine weiße Wolke
über den Wald hinzog, stand lebendig vor seinen Augen, als wärs
nicht vor drei Jahren, als wärs gestern gewesen, was er einmal erlebt
hatte mit ihr, wenn man schon so ein Geringes ein Erlebnis nennen wollte.
Er war mit Freunden an
einem Sonntagmorgen auf dem Platz vor der Kirche gestanden, und sie hatten
ihre Bemerkungen gemacht über die zur Messe Wandelnden, die das wußten,
und die sich alle bemühten, nicht unsicher zu werden vor den dreisten
Gaffern. Die Kirchenfenster hatten in der Sonne geblitzt, wie sie das nur
an Sonntagen tun, Tauben flogen ums Turmdach, und ein kühler Wind
hatte geweht. Da war das Brautpaar gekommen, der Kaufmann Jobst und an
seinem Arm die Hanna Wagenpfeil, die eben erst achtzehn geworden war, und
die wie immer wie von weit her aussah, die Dunkelhäutige mit dem Katzengesicht,
wie aus fremdem Lande stammend, und sie war doch auch nur aus der kleinen
Donaustadt Peinting, wie sie alle.
Und da hatte die Hanna,
als sie an ihm vorbei mußte, und so nah, daß sie ihn streifte,
da hatte sie ihn angesehen mit einem langen Blick, und das Blut war ihr
in die Wangen geschossen, und hatte sich losgemacht vom Arm des Verlobten,
und war zur Kirchentür gelaufen mit wehenden Röcken, verfolgt
von dem lauten Gelächter der jungen Männer, in das Leonhard schallend
mit eingestimmt hatte. Er schämte sich dessen, noch jetzt und hier,
am Weiher, wenn er daran dachte, und wie er dessen schon damals sich geschämt
hatte, aber in seiner Verwirrung hatte er nichts Besseres zu tun gewußt,
und Jobst, der Verlassene, hatte verlegen und gutmütig und seinen
Ärger verbergend mitgelacht.
Kurz darauf mußte
dann geschehen sein, von dem niemand genau wußte, wie es sich damit
verhielt, aber einiges sickerte dann doch durch, wie das immer ist. Manches
Mädchen wohl will sich einen ungeliebten Bräutigam vom Hals schaffen
und scheut, das zu erreichen, auch vor Ungewöhnlichem nicht zurück,
aber so aufs Ganze wie die Hanna Wagenpfeil geht doch so leicht nicht eins.
An dem Kaufmann Jobst, der sie liebte und der sie heiraten wollte, obwohl
sie arm war und er reich, und es gibt kaum einen größeren Beweis
der Liebe als das, in Peinting nicht und nirgendwo sonst, an ihm hätte
sie fast sehr übel getan. Drei Tage vor der Hochzeit, als man schon
alles vorbereitete für die Feier, ging die Braut, die doch jetzt Wichtigeres
zu tun hatte, nachmittags in den Wald, ließ sich nicht zurückhalten,
obwohl die Mutter schalt, ging in den nahen großen Wald, noch einmal
zu überdenken, was nun vor ihr lag, ein langes Leben nämlich
neben einem ungeliebten Mann.
Sie hätte dem Bräutigam
doch auch sagen können: Ich mag nicht, oder es geht nicht, ich liebe
dich nun einmal nicht, oder dergleichen, oder hätte in die große
Nachbarstadt fliehen können, zu einer verheirateten Freundin, und
von dort dem Jobst schreiben können; so etwas schreibt sich leichter,
als es sich sagt, Gesicht gegen Gesicht. Aber so handelte sie nicht. Sie
sah nur: da ist der Mann, den ich in drei Tagen heiraten muß, nach
dem Willen meiner Eltern, und wenn der nicht lebte, so müßte
es nicht sein. Ihr war wohl zumut, wie schon manchmal einem verängstigten
Knaben, dem seine Verzweiflung nichts Besseres zu raten weiß, als
das Schulhaus in Brand zu stecken, um dem verhaßten Unterricht zu
entkommen, und der mit Keulen also, man hat es erlebt, nach Mücken
schlägt, belustigend und entsetzlich zugleich in seiner heillosen
Verwirrung. Hanna, die Braut, trieb sich den langen Nachmittag im schwarzen
Wald herum, mit schweren Gedanken, und kam abends heim, nicht mit leeren
Händen, sollte es sich zeigen, sie brachte Pilze mit, viele Pilze.
Und sagte dem Bräutigam, die habe sie für ihn gesucht, für
ihn sich hundertmal gebückt, und nur für ihn seien sie bestimmt,
für ihn ganz allein.
In der Laube im Garten
ihrer Eltern stellte sie den dampfenden, Teller auf den grünen Tisch,
und der so zärtlich Überraschte begann zu essen, und sie schmeckten
ihm gut, so gut wie lange nichts, die von seiner Braut gesammelten und
zubereiteten Pilze des schwarzen Waldes. Er schmauste, und sie sah ihm
zu, und was dabei in ihr vorging, wer wollte das ergründen? Und ob
sie es gedrängt hatte zu rufen: Hör auf! Wirf den Löffel
weg! wer weiß das? Aber man weiß, daß sie es nicht rief,
wenn es ihr auch auf der Zunge geschwebt haben mochte, sie rief nicht,
sie saß mit brennenden Augen und brennendem Herzen neben dem Esser
und sah, wie er den Teller leerte.
Sie blieben eine Stunde
in der Laube noch, in der sie allein
saßen, die Mutter nur
kam ab und zu vorbei, der Schicklichkeit halber, und warf ein Wort herein
und freute sich der Liebenden. Und der Glückliche küßte
Hanna wieder und wieder, die sich nicht wehrte, und das war während
der ganzen Brautzeit nicht allzuoft vorgekommen; sie war seinen Liebkosungen
immer gern ausgewichen, und wenn er sich auch oft deswegen gegrämt
hatte, er hatte es sich dann immer und schnell mit der mädchenhaften
Scheu der Geliebten erklärt. So freute er sich um so mehr jetzt, weil
er zu spüren glaubte, daß sie in seinem Arm zitterte, und meinte
zu merken, daß ihre Lippen bebten, wenn er seine darauf legte, und
meinte, daß ein Feuer in ihr zu erwachen beginne, das er zu schüren
gedachte und das seine Nächte erhellen sollte: bald, in drei Tagen
ja schon, sollte die Hochzeit sein.
Später, als es für
ihn Zeit wurde zu gehen, ließ sie es sich nicht nehmen, ihn nach
Hause zu begleiten, obwohl er fand, daß sich das nicht gehöre,
aber sie bestand darauf, und da duldete er es, innerlich jubelnd. Sie ging
neben ihm her durch die Straßen und spähte, ob er stolpere,
ob ein Schwanken ihn ankomme, und beim Abschied unter der Haustüre
sah sie ihn noch einmal forschend an, als er sie küßte, zum
letztenmal küßte in diesem Leben, aber das wußte er nicht.
Er erwachte in der Nacht,
und fand sich naß von Schweiß am ganzen Körper, und der
Magen schmerzte, und die Eingeweide brannten, und er erbrach sich, und
das war gut für ihn. Er ließ den Arzt holen, und glaubte sterben
zu müssen, und krümmte sich und schrie. Was er gegessen habe?
fragte der Arzt, und als er hörte: Pilze! sagte er: Da müssen
giftige darunter gewesen sein! Und woher er die Pilze gehabt habe? Von
seiner Braut, sagte der Kranke.
Der Arzt tat, was in solchem
Fall zu tun ist, und fragte so nebenbei, ob seine Braut denn so wenig von
Pilzen verstehe, da müßten die giftigen die mehreren gewesen
sein! Er sah den Kranken so merkwürdig dabei an und sagte, er ginge
nun heim, und weil das Haus der Braut auf seinem Wege liege, wolle er sie
von dem Vorgefallenen unterrichten, und morgen in aller Frühe komme
er wieder, und er ging, und da war es zwei Uhr in der Nacht, und der Himmel
war mondlos und voller Sterne..
Er kam zu dem Haus der
Braut und blieb stehen am Gartenzaun und sah eine helle Gestalt im Dunkel
der Büsche schimmern, und rief die Gestalt an, die näherkam,
es war ein junges Mädchen, es war Hanna Wagenpfeil, erkannte der Arzt,
in einer kleinen Stadt kennt einer den andern. Und als er ihr sagte, er
käme von ihrem Verlobten, dem Kaufmann Jobst, fragte sie schnell und
erwartend, indem sie sich fest gegen das eiserne Gitter preßte, daß
er im Sternenlicht ihr gieriges Gesicht sehen konnte: Ist er tot?
Das war eine Frage, die
dem Arzt zu schaffen machte, und er bestand darauf, ihre Mutter sprechen
zu müssen, und sprach mit der Mutter, die ein bleiches Gesicht bekam,
und der Vater kam dazu, der es nicht glauben und nicht fassen konnte, aber
vielleicht glaubte und faßte es die Mutter, wenn sie es auch nicht
zeigte, sie war ja eine Frau. Hanna, herbeigerufen, widersprach nicht,
wenn sie auch nichts zugab, sie schwieg, sie schwieg verstockt, und als
der erregte Vater sie da schallend mitten ins Gesicht schlug, daß
sie taumelte, weinte sie nicht, schrie sie nicht, sank sie auf einen Stuhl,
deckte das brennende Gesicht nicht mit den Händen, behielt die Hände
auf dem Schoß, und der rote Fleck in ihrem Gesicht leuchtete mit
dem Rot des Fliegenpilzes.
Es wurde dann alles im
stillen abgemacht. Dem dicken Kaufmann Jobst war, ihm sinke der Boden unter
den Füßen hinweg, die Welt, er hatte sie immer vergnüglich
und gut gefunden, war ein drachenmäuliges Ungeheuer geworden, weit
aufgesperrt das Glühmaul, und er schon zwischen den Zähnen des
Untiers. Aber er schwieg, der Arzt und die Eltern schwiegen, und das Mädchen
wurde zu Verwandten in einer anderen Stadt geschickt, und aus der Hochzeit
wurde natürlich nichts.
Ein Geraune erhob sich
daraufhin in der kleinen Stadt. Man erzählte sich merkwürdige
Dinge, warum die vielbesprochene Hochzeit nun niemals stattfinden würde,
man munkelte dies und das und immer Böses und traf annähernd
das Richtige, aber laut und anklägerisch sagte es niemand. Der Kaufmann
Jobst gesundete rasch wieder, und die Behörde hatte keinen Anlaß,
sich einzumischen, denn wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter.
Man weiß ja, was böse Zungen alles daherreden, sagten die vernünftigen
und bedächtigen Leute, so etwas Unerhörtes tut ein junges, unbescholtenes
Mädchen nicht, beschwichtigten sich selbst, der eigenen Tochter dürfte
man
ja sonst nicht mehr trauen, so redeten sie, die Guten. Nur die jungen Mädchen
zischelten und wisperten aufgeregt und hielten es in ihrem Herzen für
durchaus möglich, und wünschten heimlich, und nicht ohne ein
kleines Entsetzen, daß es gewesen sein möge, und die jungen
Männer fanden, wenn sie unter sich davon sprachen, daß es eigentlich
nicht ohne Schwung gewesen wäre, wie die Hanna getan, und nannten
es großartig, und die leidenschaftliche Tat fand ihren Beifall zwar
nicht gerade, aber die Haltung und die wilde Entschlossenheit der widerspenstigen
Braut forderte doch ihre Achtung heraus und ihren schaudernden Beifall.
Das alles hatte sich vor
drei Jahren zugetragen, lang war das her, besann sich Leonhard, und das
Gerede hatte sich gelegt, und der Kaufmann Jobst saß glücklich
verheiratet in der Nachbarstadt, warum sollte Hanna da nicht zu ihren Eltern
zurückgekehrt sein, wie Franz das gesagt hatte? Vor Leonhard bildete
der Weiher eine kleine Bucht, und in der Bucht schwammen, grünleuchtend,
die flach aufliegenden großen Blätter der Seerose, und dazwischen
hoben einige der dicken, weißen Blüten ihr wächsernes Haupt,
und
Wasserläufer schossen wie
schnelle Botengänger zwischen ihnen hin und her. Es war ein schönes
und fremdartiges Gewächs, die Seerose, fand Leonhard, in ihrem bleichen,
kühlen Wachsglanz, und ganz anders als die gesunden und bunten Bauernblumen,
die an allen Wegrändern stehen in ihrer derben Gewöhnlichkeit.
Es hielt ihn nun auf einmal nicht mehr hier am Weiher, eine sonderbare
Ungeduld hatte ihn erfaßt, die er selbst nicht recht zu deuten wußte,
und er stand auf und sah, daß auch Franz sich erhoben hatte, und
so sagte er zu ihm mit gespielter Gleichgültigkeit: Wenn du also meinst,
können wir jetzt in die Stadt gehen. Sie gingen, und stiegen über
einen Baum, der vermorscht über den Weg lag, und aus seiner zerrissenen
Brust trieb wehendes, hellgrünes Strauchwerk empor und schlug nach
ihnen.
Anderthalb Stunden später,
es war jetzt sechs Uhr des Nachmittags geworden, saßen sie nebeneinander
in einem Wirtsgarten der Stadt, und von der Kegelbahn her hörten sie
das harte Aufschlagen der Kugel, den langhinrollenden Donner, der ihren
Weg begleitete, das Zusammenpoltern der Kegel und die übermütigen
Schreie der Spieler. Das wollte eine Sommernacht werden, mit Mond und vielen
Sternen und leisem Windrauschen im Gebüsch. Hier und dort scholl ein
Mädchenlachen auf, und während die Eltern fest und behaglich
hinter ihren Steinkrügen saßen, schwärmte die Jugend aus,
aufgetrieben von der Verlockung des zauberischen Dunkels. Vorm Zaun standen
Arm in Arm die Mädchen, und Kühnere drangen in den Garten vor,
von Zurufen angefeuert, bekamen Bier angeboten und tranken und wehten wieder
davon, es war ein ewiges Hin und Her zwischen Garten und Straße,
und immer wieder donnerte dazwischen der Klang der Kugeln und der Kegel.
Die Kreszenz, sagte Franz
plötzlich, da steht sie! Wo? fragte Leonhard. Schau nicht um, sagte
Franz, hinter dir, am Zaun! Leonhard trank, und mit der Schulter machte
er eine abwehrende Bewegung. Die geht nicht, die wartet auf dich, sagte
Franz und sah in seinen Krug hinein.
Leonhard sah sich nicht
um, wie ihm der Freund das geraten hatte, was hätte er sich auch umsehen
sollen? Er sah das Gesicht des Mädchens deutlich vor sich, und er
kannte den entschlossenen Zug um den Mund, den es hatte, wenn es etwas
erreichen wollte. Er wußte auch, was es erreichen wollte, und wenn
es auch nur ein kleiner Gang mit ihm war, den er ihm versprochen hatte
gestern, so wollte er den doch jetzt noch nicht tun, vielleicht später,
der Abend war ja noch lang, das hatte noch Zeit, fand er ein wenig verdrossen,
dem es die Frauen zu leicht machten.
Der Wirt, der eifrige
und kluge, hatte Papierlaternen in den Bäumen entzündet, und
da rissen nun die roten Lichtkugeln im Geäst ihre Feueraugen auf und
warfen einen schwankenden Schein auf die Tische. Glühkäfer waren
aufgeschwirrt aus allen Büschen und scheuten auch den Wirtsgarten
nicht und nicht die schwatzenden und trinkenden Menschen, und zogen ihre
kurvenreiche Bahn. Die wartende Kreszenz sah einen Käfer herantaumeln
und holte sich ihn mit raschem Griff und betrachtete ihn, der wie ein Irrlicht
erglänzte oder wie vermorschtes Holz, das in heißen Nächten
faulig glüht. Und fast hätte sie geweint, obwohl ihr doch auch
freudig zumut war, das kam von der Sommernacht, die keine Trauer recht
aufkommen ließ und noch das Leid versüßte und wie unwirklich
machte. Und weil der Glühkäfer noch viele heranschwirrten, fing
sie sich noch einige und sammelte die Gefangenen in der hohlen Linken.
Länger könne
er das Mädchen nun doch nicht mehr warten lassen, sagte Leonhard,
mit leisem Groll in der Stimme, und du hasts gut, sagte er zu Franz, du
kannst bleiben, aber in einer Stunde komme ich auch wieder zurück,
und er trank seinen Krug leer und stand auf und ging, und den Kopf, der
größer war, als es zu ihm paßte, legte er unwillig zurück
in den Nacken. Kreszenz sah den geliebten Mann nur glücklich an mit
ihren grauen, ein wenig schräg gestellten Augen, und dann schob sie
ihren Arm unter den seinen, und sie schlenderten stadteinwärts. Die
Straßen waren noch unruhig belebt, Kinder spielten um die Laternenpfähle,
und unter den Haustüren standen die Erwachsenen, niemand, so schien
es, wollte schlafen gehen in dieser Nacht. Der Mond war nun schon über
die Dächer heraufgestiegen und hing dunkelgelb im schwindenden Abendlicht.
Daß er das Mädchen an der Seite hatte, erfüllte Leonhard
mit launischer Ungeduld, die er nur mühsam verbarg. Er wäre lieber
allein gewesen, frei und abenteuernd durch die Straßen zu streichen,
voll drängender Erwartung, Unbekanntem entgegen. Und da, als sie eben
um eine Ecke bogen, sah er eine weibliche Gestalt aus einem Haus schlüpfen,
und sein Herz tat einen so lauten Schlag, daß er erschrak, und fürchtete,
Kreszenz könne ihn gehört haben: er hatte im Dunkel die Heimgekehrte
erkannt, Hanna. Nach einigen Schritten stand die Gestalt still und blickte
zum Mond hinauf, wie gebannt, und atmete tief, und wie sie nun langsam
wieder weiterging, vor dem Paar her, war es zu merken, daß auch sie
kein festes Ziel hatte, nur auch vom Mond verführt unruhig durch die
Nacht wandelte.
Da schüttelte Leonhard
den Arm des Mädchens Kreszenz ab, und stampfte mit dem Fuß zornig
auf, der Unbeherrschte und Schlaue, und sagte, er habe etwas vergessen
zu Hause, das log er, und das müsse er holen, und sie solle auf ihn
warten, und überhaupt, und seine leise Stimme klang böse und
drohend, er müsse nun allein etwas herumlaufen, sie wisse ja, das
komme ihn manchmal so an, und jetzt sei es neun Uhr, und um zehn Uhr solle
sie ihn am Jakobitor erwarten. Kreszenz sah ihn geduldig an, und wagte
keinen Widerspruch, und sagte gehorsam: ja! und: um zehn Uhr! und: am Jakobitor!
und sagte: Auf Wiedersehen! und warf plötzlich mit einer wilden Bewegung
die Käfer, die sie noch immer gefangen trug, in die Luft, daß
es wie ein Funkenregen aufglänzte, weil die Tiere ihren Flug fortsetzten,
als hätten sie nur kurze Zeit im Schatten eines großen Blattes
gerastet, und das Blatt war die Hand des bebenden Mädchens gewesen,
das nun davonging.
Als es elf Uhr schlug
vom Turm, leuchtete im Schatten des Jakobitors ein helles Kleid, ein Mädchenkleid.
Bis elf Uhr auf Leonhard zu warten, hatte Kreszenz beschlossen, und als
es jetzt elf Uhr schlug und er nicht gekommen war, ging sie, ging aufrecht
und mit schnellen Schritten, und wer ihr begegnete, und es begegneten ihr
nicht viele mehr um diese Stunde, dem fiel nichts auf an dem Mädchen,
denn wenn der Mond auch hell schien, so hell schien er nicht, daß
man die Tränen gesehen hätte, die ihr übers Gesicht liefen,
und die sie nicht einmal wegwischte.
Als es elf Uhr schlug
vom Jakobiturm, waren im Wirtshausgarten die Papierlaternen alle schon
erloschen, nur das Mondlicht fiel durch die Bäume, und nur wenige
Gäste saßen noch und tranken, und ihre Krüge warfen schwarze
Schatten auf die Tische. Und Franz stand auf und betrachtete seinen Schatten,
der vor ihm auf dem bleichen Kies sich abzeichnete, groß und schwarz,
und er lächelte ein wenig taurig, und von seinem Schatten nur treu
begleitet ging er nach Hause, und wie er das gewohnt war, allein und ohne
Mädchen.
Als es elf Uhr schlug
vom Jakobiturm und den anderen Türmen der Stadt, saß auf einer
Bank in den Anlagen ein Paar, Leonhard und Hanna, im Baumschatten, wo der
Mond nicht hin kam, und Leonhard legte den Arm um die Hüften des Mädchens,
das erschauerte, und sich nicht wehrte, und mit einem Seufzer sich schmiegte
an seine Brust und ihn küßte, den es noch nie geküßt
hatte, und der es auch noch nicht gewagt hatte bisher, sie zu küssen,
und er war doch so scheu sonst nicht, das gar nicht, der Mann Leonhard.
Und der Mond, hoch am
Himmel, ging seine Bahn und spiegelte sich in der Donau und in den Altwässern
der Donau. Still lag die Flut in der Weidenbucht. Aber dann rührte
es sich silbern, blasenwerfend, weiße Fischleiber blitzten auf, ein
Hecht jagte den Mindern, und der entrann ihm nicht, und er zog ihn zur
Tiefe. Und die Blätter der Weide wurden genäßt von den
Tropfen, die unter den schlagenden Fischschwänzen sprangen, silbernes
Blut.
So war das gekommen, wie
es kommen mußte, und Hannas Vater hatte nicht »nein«
gesagt, als Leonhard um die Hand der Tochter bei ihm angehalten hatte.
Er mußte ja froh sein, daß überhaupt es noch ein Mann
mit ihr wagen wollte, nach all dem, was man in Peinting über sie flüsterte.
Und wenn Leonhard auch in seinen Augen als Ehemann nicht so viele Vorzüge
aufzuweisen hatte wie der Kaufmann Jobst, so war seine Stellung an der
Gewerbebank doch sicher und auch nicht schlecht bezahlt, und von seiner
Mutter, mit der er zusammen lebte, hatte er noch eine kleine Erbschaft
zu erwarten. Und dann war Hanna auch wie vernarrt in den Mann, und ihr
in einem solchen Fall zu widersprechen, davor hatte der gewitzte Vater
Angst. Wie sie es mit dem Kaufmann Jobst getrieben, hatte er noch nicht
verwunden, und er sah sie oft forschend an: wie hatte sie das nur planen
können, damals! und sie war ihm tief unheimlich geworden, mit schwarzen
Hexenaugen blickte sie in die Welt, dünkte ihm manchmal, und es war
nur gut, daß sie nun selbständig war, und er nicht mehr um sie
sorgen mußte, das mochte sie selbst nun tun, sie und ihr Mann Leonhard.
Dessen Mutter konnte sich
an des Sohnes Frau nicht recht gewöhnen. Daß sie den Sohn liebte,
das sah sie, wer hätte das nicht sehen sollen? der müßte
blind gewesen sein, der, und das gefiel ihr, ganz natürlich. Aber
es schien der frommen alten Frau, Hanna übersteige das den Menschen
gesetzte Maß in ihrer Liebe, und wenn die Junge gar zu eng und drängend
sich hing an den Mann und wie anbetend und heilig hingerissen zu ihm aufsah,
als sei er der König aller Könige und nichts über ihm, regte
es sich in ihr wie beleidigter Frauenstolz, und fast unwürdig schien
es ihr und wie sündhaft, sich so mächtig einer Leidenschaft hinzugeben,
und dergleichen war nie gut gegangen, sagte traurig ihr altes Herz.
Sie versuchte wohl auch,
mit warnenden Andeutungen hin und wieder, der Schwiegertochter das merken
zu lassen, aber wann hätten je die Worte der Alten das Ohr der Jungen
erreicht? Und als die alte Frau nach zwei Jahren an einer raschen Krankheit
starb, von Leonhard aufrichtig betrauert, sah er gekränkt die Teilnahmslosigkeit
Hannas, die keine Träne zeigte, am Sterbebette nicht der Alten, und
nicht an ihrem Grab. Und er erkannte, und konnte sich eines geheimen und
stolzen Schauderns nicht erwehren, daß sie so viel Liebe trug für
ihn, daß für andre nichts mehr übrig blieb, und so wurde
ihm auch klar, warum sie gar nicht darunter litt, daß ihre Ehe kinderlos
war, daß sie im Gegenteil sich freute darüber und ihn lachend
küßte, wenn er sich beklagte, und herausfordernd sagte: Ich
habe dich! Du hast mich! Was brauchen wir Kinder?
Sie waren nun schon bald
vier Jahre verheiratet, im schattenlosen Glück, und wie am heißen
Sommertag am blauen Himmel schwarzes Gewölk sich sammelt, das Sturm
und Hagel und Donnerschlag bringt, so zog ein Unwetter dräuend über
ihre Ehe herauf, Blitze schickend. Aber wie der Hase zu tun, der sich dann
duckt in der Furche, oder wie das Reh im Gesträuch sich zu bergen
und zu warten, bis das Grollen sich ausgetobt hat, das vermochte Hanna
nicht. Und vier Jahre, das war viel zu lang für Leonhard, als daß
er es fertig gebracht hätte, während dieser ganzen Zeit mit Herz
und Sinnen nur an Hanna zu hängen. Seine Liebe zu ihr war nicht etwa
vergangen, aber das schloß nicht aus, wenigstens nicht bei einem
Mann seiner Art, und viele Männer sind dieser Art, daß auch
andre Frauen ihn mächtig anzogen, und solcher Lockung zu widerstehen,
war er, der Schwache, nicht gemacht. Das ist nicht gut zu heißen,
er tat es selber nicht, und soll nicht billig verteidigt werden, aber dennoch,
nicht bei jedem rächt es sich so - und endet in Gram und Bitternis,
bei manch einem und einer glättet das Aufgewühlte sich bald und
leicht wieder und ist alles wie zuvor und als seis nie gewesen. Es war
ja erstaunlich genug, daß ihm ein Abenteuer geriet in der kleinen
Stadt, wo einer den anderen bewacht, aber verbotene Leidenschaft gedeiht
auf jedem Boden und ist nicht auszurotten, wie das unbändige Unkraut
immer wieder aufschießt zwischen den nützlichen Halmen. Da war
nun seit kurzem eine junge Witwe in der Nachbarschaft, die war des Alleinseins
müde und des zärtlichen Trostes bedürftig, und Leonhard
versagte ihn ihr nicht, und wenn es auch bei Nacht und Nebel nur sein konnte,
in abgesparten Stunden, heimlich tuend, das Schlimme war und geschah, und
vor Hanna verbarg er sein Treiben so gut er konnte, aber auf die Dauer
mußte das natürlich mißlingen.
Sie spürte es aus,
was war, bald schon, und war ungläubig zuerst, und mußte es
dann doch glauben, und daß ihrer Liebe so angetan werden konnte,
verwirrte sie im Tiefsten, und daß Treue nicht Treue erzwang, machte
sie irre an jeglichem festen Bestand. Wenn sie an den langen, leeren Abenden
allein war, und sie ihn bei ihr wußte, der liederlichen Witwe, wie
sie die Feindin bei sich nannte, dann litt sie es nicht mehr, stillzusitzen,
ruhelos rannte sie durch alle Zimmer des Hauses. Es trieb sie umher, vom
Keller zum Dach, treppauf und treppab, als suche sie etwas, und ihr war,
als sei jemand hinter ihr, aber wenn sie sich umsah, war niemand hinter
ihr, und dann setzte sie ihren Gang fort, Jägerin zugleich und Gejagte.
Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand in einem Goldrahmen des Ungetreuen Bild,
und sie blieb oft stehen davor und besah es lange, und gab dem Bild einen
Stoß, daß es umfiel leise klirrend, und stellte es wieder auf
dann, und trieb es lange so mit Umwerfen und Aufstellen, bis ihre Augen
sich verdunkelten und dann mit hilflosen Tränen sich füllten.
Hörte sie dann, oft spät in der Nacht erst, die Haustüre
gehen, und er kam, so wusch sie sich die heißen Augen mit kaltem
Wasser, ihm unbefangen entgegentreten zu können, und nie sprach sie
ein Wort über ihren Kummer. Selbst wenn er, selten genug in dieser
Zeit, ihre Umarmung suchte, brachte sie es nicht fertig, sich ihm zu verweigern.
Und als eine Freundin, oder was sich so nannte, ihr einmal halb scherzend
sagte, sie solle die Schmach, die ihr zugefügt wurde, und von der
nachgerade die ganze Stadt wußte, dadurch rächen, daß
sie ihrem Mann Hörner aufsetze, wie du mir, so ich dir! riet die Freundin
und lachte, schüttelte sie nur entsetzt den Kopfund vermied die Leichtherzige
künftig, so gut sie es einrichten konnte.
Einmal in dieser Zeit
ihres Unglücks, an einem wolkenverhangenen Tag, begleitete sie Leonhard
nach dem Mittagessen auf seinem Weg in die Bank, wie sie das früher
oft getan hatte, und als ihnen da eine Frau begegnete, irgendeine Frau,
gar nicht besonders hübsch oder sonst auffallend in Wesen und Haltung,
irgendeine Dutzendfrau, bemerkte Hanna, wie die fremde Frau ihrem Mann
Leonhard einen raschen Blick zuwarf, oh, einen abscheulichen Blick, einen
ehebrecherischen Blick, alle Sünde lag in diesem Blick, und eine freche,
schamlose Aufforderung. Vielleicht war sie sich dessen selber nicht bewußt,
die schamlose Dutzendfrau, aber Hanna sah den Blick und deutete ihn, und
sie sah auch, daß Leonhard einen Blick des Einverständnisses
zurückgab, und obwohl sie merkte, daß die beiden sich gar nicht
kannten, sich noch nie gesehen hatten, sich vielleicht nie mehr würden
wiedersehen, begriff sie mit einem Schlag, wie Leonhard war und immer sein
würde. Es war nicht die Witwe bloß, auf wollüstigem Bett
sich räkelnd, die ihrer spottete. Einen Schwarm von Frauen sah sie
von überallher
sich erheben, gierige, goldene
Vögel, die schwirrten im Glanz und waren nicht zu verscheuchen, die
lüsternen, die sich anboten, mit Brust und Herz und Schoß, und
sie wurden genommen, und das wollte sie nicht leiden, nimmermehr leiden.
Und lieber, wenn sie ihn nicht allein haben sollte, dem sie gehörte
mit Ausschließlichkeit, lieber sollte er nicht mehr sein.
Und zu tun, was sie schon
einmal getan hatte, trat ungeheuer und verführend vor sie hin. Und
wer da der Meinung sein sollte, unwahrscheinlich sei es und nicht zu glauben,
daß eine zum zweitenmal so zu handeln sich entschließe, der
kennt den Menschen nicht, und nicht einen Menschen wie diese Frau. Hanna
war nicht dumm, aber sie war zu kühn und zu großherzig, um listig
zu sein auf gewöhnliche Weise, und einen rettenden Ausweg zu finden
da und dort, wenn sie umstellt war, und immer wieder einen andern. Ihr
Gesicht war das einer Katze, oft hatte Leonhard sie deswegen geneckt. Nun:
nur der Fuchs ist schlau und wendig, der Löwe kennt keine List und
nur den geraden Sprung.
Sie ging heim, es hatte
zu regnen begonnen, aber sie beachtete es nicht. An der Rückseite
ihres Hauses hatten sie einen kleinen Garten, und im Garten stand ein zierliches
Gartenhäuschen, in das setzte sie sich. Der Regen war nun stärker
geworden, sie hörte ihn auf das Holzdach trommeln. Stundenlang blieb
sie in dem kleinen Holzhaus sitzen, gleichmäßig strömte
der Regen hernieder und wusch das Gras, und die Blumen senkten ihre Köpfe.
Hanna fröstelte, aber sie blieb auf der Bank sitzen, im Trocknen immerhin,
und hielt den Kopf gesenkt, wie die Blumen draußen im Regenguß.
Eine Schnecke sah sie über den Kiesweg daher kommen, langsam, ganz
langsam, und ihr war, die Schnecke bringe ihr vielleicht eine Botschaft,
und so wartete sie, bis sie bei ihr sein würde. Der Boden des kleinen
Gartenhauses war mit Brettern belegt, die waren stellen-
weise schon ein wenig morsch,
und zwischen den Fugen sah das Gras hervor, und in der Ecke, im Dunkeln,
wuchsen gebüschelt kleine, röhrenhalsige Pilze, auf dünnen
Stielen, totenfarben und blaß. Sie sah sie lange und unverwandt an,
und ein entschlossenes Feuer trat in ihre Augen, und dann sah sie wieder
zur Schnecke hin, die hatte ihr Haus schon an die Türschwelle herangetragen,
aber sie machte nicht halt davor und setzte ihren Weg fort, an der Hütte
vorbei, ohne um Hanna sich zu kümmern. Da stand sie auf, es war ihr
wie im Traum, und ging in den Regen hinaus und in den Wald, der auch voll
Regen war.
Sie hatte keinen Schirm
mitgenommen, keinen Hut, auch kein Tuch, die Schultern zu schützen,
und so war es ein elender Anblick, als man sie fand, vier Tage später:
unordentlich die Haare in die Stirn hängend, schmutzig das Gesicht,
mit Erde verschmiert die Hände, man sieht sehr bald struppig und ungepflegt
aus, wenn man viermal vierundzwanzig Stunden im Wald haust, Tag und Nacht,
und es waren auch zwei Regentage dabei und eine Regennacht. Und wenn sie
vielleicht auch vor dem Regen einen überhängenden Felsen gefunden
hatte, sauberer wird man doch nicht von solchem Leben. Zwar für die
Pilze war der Regen gut gewesen, die schossen aus der Erde, geil und jäh,
und schimmerten durch die Farnkräuter, und sie mußte unermüdlich
gesammelt haben, es waren deren eine Menge, sie hatte sie zu einem Kreis
gelegt, mit großem Fleiß und sehr kunstvoll, immer die zusammengehörenden
zusammen, und giftige, nur giftige hatte sie herbeigetragen.
Und wie sie so bei der
Arbeit war, und die Bäume rauschten gewaltig, und die Kröte saß
glotzend auf dem feuchten Stein, und der Bach gluckste schwarz geschwätzig,
und jenseits des Baches ein Fliegenpilz grinste hämisch her und sprach:
Ich bin es, der dir helfen kann - da hatte sie vielleicht ein lautes, wüstes
Lachen überfallen, und sie war lachend in den Bach gestiegen, ihn
zu durchwaten, und war stehengeblieben im Bach, während sie den Fliegenpilz
ausgrub. Und sie war aus dem Bach nicht wieder herausgestiegen und war
ihres Weges weitergegangen in der Strömung, den Fliegenpilz tragend,
hoch in der Rechten, auf den schlüpfrigen Steinen rutschend und schwankend,
und das kalte Wasser seufzte um ihre Knöchel. Und wo der Bach sich
etwas verbreiterte, zu einer stillen Gumpe, um die Binsen standen, hatte
sie sich gebückt vielleicht und hatte sich gesehen im Wasser, wie
sie den Pilz hielt, den rotköpfigen, und hatte ihr Gesicht widergespiegelt
gesehen daneben, und daß sie so aussah, hatte sie nicht gewußt,
und hatte den Pilz von sich geschleudert und dann mit der Faust sich selber
mitten ins Gesicht geschlagen, ins Wassergesicht, zertrümmernd die
höllische Spiegelung, aber immer kam sie wieder. Und da mochte ihr
Herz, flatternd wie der Vogel, den der Marder verfolgt, mit grausamem Aug,
der blutgierige, da mochte ihr preisgegebenes Herz ein paar verzweifelte
Flügelschläge getan haben, und das rohe Lachen eines Hähers
war das letzte vielleicht, was sie noch hörte, und dann geschah es
an ihr, erbarmend, und sie wurde getragen hoch und weit und süß
rauschend hinweg, in die sternlosen Räume des Geborgenseins in der
Verdüsterung. Und wie sie sich dann noch herumtrieb im finsteren Wald,
mit leeren Augen, die nichts mehr sahen, das konnte den nächtlich
schweifenden Fuchs erschreckt haben, und das still äsende Reh, oder
vielleicht hatten die sie nicht beachtet und für ihresgleichen gehalten.
Inmitten des kreisrunden Pilzwalls saß sie, als man sie fand, die
Verlorene, hochaufgerichtet und stumm, und ihr Mund war blutrot, wie mit
Blut beschmiert, als habe sie eine blutige Wunde mitten im Gesicht, aber
es waren nur die Spuren von Brombeeren und Himbeeren, die sie reichlich
mußte gegessen haben, und hatte sich nicht die Mühe genommen,
sich den Mund zu wischen, wozu auch? Wenn man lebt wie die Tiere des Waldes,
Tag und Nacht, in Sonne und Regen, da wischt man sich den Mund nicht mehr.
So nahm es ein klägliches
Ende mit ihr, wie es anders nicht sein konnte bei einer, die immer gleich
zum Außersten entschlossen war. Bei Königen und Helden preist
man das, im großen Leben, das Taten fordert. Bei ihr, bei der es
um Kleines ging, das ihr aber groß war, sah sich das alles wohl anders
an, und Zuchthaus und Schafott hätten auf die Mörderin gewartet.
Aber das auch nur zu erwägen, kam ihr nicht in den Sinn, die anderen
Gesetzen gehorchte. Denn wenn auch eines kleinen Bürgers ehelich gezeugte
Tochter, war sie wie eins jener verwunschenen Wesen, die in Felsgrotten
und hohlen Bäumen sollen gewohnt haben, früher, darüber
man spottet heut, und war unter die Menschen verschlagen worden, und nur
treue Liebe hätte sie hier festhalten können, aber die ist so
leicht nicht zu haben.
Sie mußte in eine
Anstalt gebracht werden, Hanna, die katzengesichtige, eine Löwin sozusagen,
wenn man es nicht lassen will, höhnisch Vergleiche zu ziehen, eine
Löwin, auf närrisch-verzweifelte Weise, die zum verderblichen
Sprung schon sich geduckt hatte, aber der Anblick ihres eigenen Gesichts,
der sie sich erkennen ließ, im Bache gespiegelt, hatte sie ins Dunkel
gejagt. Ihr Sinn erhellte sich nicht wieder, und das war gut so. Sie fiel
immer tiefer ins Dämmern, und als sie bald der Tod in die gänzliche
Schwärze hinüberholte, merkte sie es nicht, sie schritt ja nur
vom Finstern ins Finstere, da ist kein Unterschied.
Am Tag, als man sie begrub,
und genau zur Stunde, da man sie begrub, trat Leonhard, der Witwer, in
die Stube des Kaufmanns Jobst, und besprach sich mit ihm, und der wurde
noch einmal bleich bei dem Gedanken, welch eine wilde, zauberische Unholdin
er da mit sich hatte verbinden wollen, und hatte es dann viel besser getroffen
mit seiner zweiten Werbung, wie es anders nicht zu erwarten war, und er
konnte sich freuen. Es saßen und redeten die beiden Männer,
und es war die gleiche Frau, die einem von ihnen den goldschimmernden Todestrank
bereitet hatte, und mit dem anderen hatte sie es auch so halten wollen
- aber sie lebten, die Männer, lebten beide, und das Gift hatte sich
gegen Hanna gewendet, die eine Pfuscherin nur gewesen war, in jedem Betracht,
und wie der Pfeil, wenn es sein soll, auf die Brust des verfluchten Schützen
zurückfliegt, so war es ihr ergangen, und sie lag nun, während
sie saßen und aßen und tranken und atmeten, atemlos und weiß
in der schwarzen Erde. Als sie beredet hatten, was zu bereden war, und
es war immer nur das eine, und so waren sie bald fertig damit, verstummten
sie, nachdenklich und unbegreifend, und dann schied Leonhard von dem Kaufmann,
um noch den Abendzug nach Peinting zu erreichen.
Er saß im Zug dann,
allein in seinem Abteil, und sah durchs offene Fenster hinaus, und die
Wälder rauschten vorbei, es war viel Wald um Peinting herum, und einmal
fuhr der Zug über die Donau. Hinter wehendem Weidengestrüpp lagen
schwarz die Altwässer, ein Steindamm trennte sie vom mütterlichen
Strom. Über ein Stück versumpften Landes führte ein morscher
Holzsteg zu einer Hütte, die einem Fischer gehören mochte, denn
es waren Netze davor aufgestellt zum Trocknen, und Ruder lehnten an der
Wand. Im Westen hatte sich am Himmel viel Gewölk versammelt. Die Sonne
war im Untergehen, noch hing die glühende Scheibe dunkelrot am Rand
der Erde, und von ihrem Feuer waren die Wolken rötlich durchhaucht.
Da schlug ein Kuckuck an im Wald, ganz nah, und Leonhard spähte, ihn
zu sehen, der doch nie zu sehen war. Wieder und wieder schrie er, eine
lebendige Uhr. In einem grünen Wipfel saß er, versteckt, ließ
seinen frechen Schlag erschallen, eine Gefährtin für kurze Zeit
sich zu locken, der Gauch, der sich nicht binden mochte und sich nicht
festhalten ließ zu einem biederen Glück, pflichtvergessen und
ewig unbehaust. Traurig lauschte ihm der Mann am Fenster, der seinen Kopf
weit hinausbeugte, daß der Sturm sein Haar griff und dran rüttelte
in strafendem Zorn, und voll Scham ließ er es geschehen. Und plötzlich
legte er die hohlen Hände um den Mund, und das Tier im Walde höhnend,
und wie ihm Antwort gebend, ahmte er es nach mit Kuckuck und Kuckuck, viele
Male. Dann, sich besinnend, nahm er die Hände vom Mund und schwieg.
Finsterer glühte der Abendhimmel. In die Wolken im Westen, zu Kissen
und Polstern gebauscht, hingebreitet zu einem üppigen Lager, und rosig
geschwellt, war ein Wind gestoßen, wild blasend, der sie durcheinanderwarf,
hierhin und dorthin sie schleudernd, hinauf und hinab, in der Lust der
Zerstörung. Der Zug fuhr schneller nun, ein Wiesental hinab. Der Kuckuck
schrie immer noch, unverschämt und aufregend, über die Wälder
her, und war dann nicht mehr zu hören.
Die liederliche Witwe,
die sich nach Hannas Tod Hoffnung auf Leonhards Bett und Hand und Haus
gemacht hatte, mußte bald erfahren, daß der zauderte und zögerte
mit immer neuem Wenn und Aber, und nicht zu gewinnen war, und so wandte
sie sich, gekränkt und dann rasch getröstet, einem andern zu,
denn warten, lange zu warten und zu dulden und zu bangen, war nicht ihre
Sache. Aber zu warten, lange zu warten war die Sache des Mädchens
Kreszenz. Kreszenz, seit sie weinend in jener Mondnacht vor Jahren vom
Jakobiturm heimgegangen war, hatte sie gewartet und hatte es noch getan,
als sie selber nicht mehr recht wußte, worauf, und dann waren auf
einmal die Torflügel des Lebens weit vor ihr aufgesprungen, und mit
glänzendem Gesicht war sie Leonhard gegenübergetreten, dem sie
nichts zu verzeihen hatte, weil sie nie anklägerisch gegen ihn gesinnt
gewesen war. Und kann sein, der trug ihr seine Hand an, weil er sich in
ihrer Schuld fühlte, wie er sich in Hannas Schuld wußte, und
an der einen wollte er vielleicht gut machen, was an der anderen er gefehlt,
als ob das möglich wäre.
Sie heirateten, und Kreszenz
schenkte ihrem Mann drei Kinder, Zwillinge zuerst, Knaben, und ein Mädchen
dann, und sie jubelten darüber, und Lärm aus den jungen Kehlen
erfüllte das kleine Haus, darin eine glückliche Mutter waltete,
und ihrem Mann Kinder zu geben, das hatte Hanna nicht vermocht, die nur
zu lieben vermocht hatte auf ihre unbedingte und fürchterliche Weise.
Und das, wie das gewöhnliche Leben schon ist, das solche Überspanntheiten
nicht zu mögen scheint, und verlangt, daß man sich bücke
und sich schicke und zu verzichten wisse, das trägt seine Strafe und
seinen Untergang schon in sich. Und wer nur will, und es sich zubilligt,
der werfe den ersten Stein auf sie.
Seinen alten Freund Franz
hatte Leonhard lange nicht mehr gesehen. Es war Franz gewesen, der sich
von ihm zurückzog damals, als der frevlerisch Unbeständige, der
sein Glück nicht halten konnte, es mit Hanna so bös trieb. Und
auch, so hatte es Leonhard geschienen, der darüber nachsichtig und
ein wenig überlegen gelächelt hatte, war seinem entrüsteten
Mitleid mit der Betrogenen ein anderes Gefühl beigesellt gewesen,
schmerzlich und hoffnungslos, wenn er es auch zu verbergen bemüht
war.
Nun gab es sich, daß
sie wochenlang Bett an Bett schliefen, am weiß gehobelten Tisch nebeneinander
aus Blechschüsseln das gleiche Essen aßen, nebeneinander auf
glühenden Landstraßen marschierten, schwer bepackt, und in der
Reihe marschierte mit und aß und trank mit ihnen der Kaufmann Jobst.
Sie trugen graue Soldatenkleider, der große Krieg war aufgeflammt,
ringsherum in der Welt, und Leonhard und Franz und Jobst, alle drei gediente
Soldaten, waren zum gleichen Truppenteil eingezogen worden. Im September
dann saßen sie im Zug, der nach Westen rollte, hatten Sträuße
von Blumen am Helm und an der Brust, und sangen, und Leonhard ließ
eine weinende Frau zu Haus und lachende Kinder, und Jobst ließ Frau
und Kind zu Haus, nur Franz hatte sich noch immer kein Weib gewonnen. Er
war ein geschickter und anstelliger und leidlich aussehender Mensch, bloß
mit Frauen verstand er es nicht, so sehr ihn auch danach verlangte, aber
in den Krieg zu ziehen fiel ihm dafür jetzt, dem Einsamen, leichter
als manchem andern, so hatte das auch sein Gutes.
Der Zug fuhr drei Tage
und drei Nächte, und dann stiegen sie im französischen Land aus.
Im ersten Gefecht, das sie mitmachten, lagen sie in der Schützenkette
nebeneinander. Der kleine Raufhandel, mehr war es nicht, verlief soweit
glücklich, auf beiden Seiten hatte man nur geringe Verluste, aber
als man sich erhob, blieben doch einige liegen, und unter ihnen war Leonhard.
Er lag im Schatten eines Strauches, der seine Zweige zu ihm senkte, und
ein gelber Schmetterling saß im Laub und bewegte die Flügel,
ohne daß es ihn davontrug, und wie neugierig verharrte er, und Franz
mußte ein paarmal nach ihm schlagen, ehe er sich gemächlichen
Flugs zu einem andern Toten aufmachte. Dann nahm Franz dem Freund, der
sich das mit still lächelndem Gesicht gefallen ließ, die kleinen
Habseligkeiten ab, die der Soldat so mit sich führt, die Erkennungsmarke
und die Uhr und die Geldbörse und die zerwetzte Brieftasche, um sie
dem Feldwebel zu geben, daß der sie den Angehörigen in der Heimat
schicke. Aus der Brieftasche, als Franz sie in der zitternden Hand hielt,
fiel das Bild einer Frau, und als er es aufhob, sah er in Hannas Gesicht.
Er erschrak und durchblätterte hastig den Inhalt der Brieftasche,
aber er fand kein anderes Bild mehr, wie er es erwartet hatte, und schnell
entschlossen, und mit einem scheuen Blick auf den Toten, steckte er Hannas
Bild zu sich, und gedachte der armen Frau Kreszenz.
Das war klug gehandelt
und rücksichtsvoll, aber es war doch eine überflüssige Zartheit,
wenn man überlegt, daß Leonhard, bevor er ins Feld gerückt
war, seinen letzten Willen niedergeschrieben und in einem verschlossenen
Umschlag verwahrt seiner Frau Kreszenz übergeben hatte, und bestimmt
hatte darin unter anderem, daß man, wenn er auf dem Feld der Ehre
bleibe, seinen sterblichen Teil, wenn irgendmöglich, nach Deutschland
schaffen und ihn in ein Grab neben seiner Frau Hanna betten solle. Aber
das konnte Franz ja nicht wissen, als er den kleinen Diebstahl beging,
und vielleicht lag ihm auch sonst, und aus einem geheimen Grund, daran,
Hannas Bild zu besitzen.
Und was den Toten getrieben
hatte, so zu wünschen, war das Gefühl vielleicht, auf diese Weise
Hanna zu zeigen, daß er ihr nichts vorzuwerfen habe und billigen
müsse, was zu tun sie geplant hatte im schwarzen Wald von Peinting,
daß er dem Urteil zustimme, das sie über ihn gefällt, aber
nicht vollstreckt hatte, und er keinen Grund finde, sich aufzulehnen gegen
einen gerechten Spruch, und das sollte sie wissen. Und vielleicht auch
meinte er, so unsinnig das auch erscheinen mag, daß man mit solchem
Bekenntnis niemals zu spät kommt und immer das Ohr dessen erreicht,
der es hören soll, und wie er damit Kreszenz treffen mußte,
hatte er wohl nicht bedacht, unbedacht, wie er das sein Leben lang gewesen,
oder auch er wußte, was Kreszenz ohne Groll zu tragen imstande war,
er hatte es erprobt genug.
Als er begraben wurde,
der Soldat Leonhard, am Tag nach dem Gefecht, der ein Rasttag war für
die Truppe, begraben mit allen Ehren, in einem rasch angelegten Soldatenfriedhof,
und der Feldgeistliche sprach am offenen Grabe, hörte man schon kein
Gewehrfeuer mehr. Der Krieg tat noch einen letzten Sprung nach Frankreich
hinein und blieb dann stehen, und Leonhard schlief unter seinem niedrigen
Hügel wie im friedlichen Land, und das entfernte Murren der Geschütze
machte die Stille nur noch tiefer.
Der Herbst kam und der
Winter, die Truppen, Freund und Feind, suchten Schutz in der Erde, in Gräben,
aus denen sie jahrelang nicht mehr heraussteigen sollten. Der Schnee lag
auf Leonhards Grab und den anderen Gräbern, und taute weg im Frühjahr,
und da war es so weit, daß es der Frau Kreszenz gelungen war, Schwierigkeiten
vieler Art zäh überwindend, die Erlaubnis zu bekommen, Leonhards
letzten Willen ausführen zu dürfen. Ob es sie sehr schmerzte,
daß ihr toter Mann neben seiner ersten Frau zu liegen verlangte,
verriet sie niemand. Sie hatte ja die drei Kinder von dem Gefallenen, und
das war viel und genug, besonders für ein geduldiges Weib, wie es
zu sein Kreszenz das Leben gelehrt hatte.
Aber als ihr Bruder in
Frankreich eintraf, um dabei zu sein, wie man den toten Schwager ausgrub,
ließ man ihn nicht vor zu dem kleinen Friedhof, denn gerade an diesem
Tag, einem heißen und blauen Maitag, versuchte der ungeduldige Gegner
einen Angriff. Seine weittragenden Geschütze begannen zu donnern,
und auch der Friedhof lag im Feuerbereich, ja, fast mochte es scheinen,
gerade gegen ihn richte sich die gesammelte Wut der Vernichtung. Die schweren
Geschosse pflügten die Gräber um mit furchtbarer Gewalt, Rauch
und Dampf lagerte in Schwaden über den Kreuzen, Erdsäulen stiegen,
stürmisch emporgerissen, schwarze Bäume, die wehend standen und
wieder zerfielen, ein Wald, sich immer erneuernd, von schwefligen Feuerstößen
durchzuckt. Es war ein Anblick von erhabener Heiterkeit, wie die Lebenden
hier auf die Toten schossen, die sich nicht mehr wehrten, und geduldig
aus den Gräbern sich noch einmal ins Licht holen ließen, dessen
sie sich schon entwöhnt hatten, und es war ja immer noch besser, sie
boten ihre verwesenden Leiber dem splitternden Eisen, als wenn die Lebendigen
getroffen worden wären. Ein Volltreffer setzte sich auf Leonhards
Grab, ein tiefer, schwarzer Trichter blieb, von Löchern und Trichtern
gähnte, als das Feuer endlich nachließ, der verwüstete
Friedhof. Leonhards hölzernes Grabkreuz aber war fortgetragen worden,
hoch über den Friedhof hinweg, weit hin wirbelnd, und war wie ein
Speer niedergesaust dann, und steckte nun, ein wenig schief, aber ohne
jede Beschädigung sonst, wieder im Boden, in einer Wiese, an einer
Stelle, wo der gelbe Löwenzahn in dichten Scharen wuchs. Das war kein
schlechter Platz für ein Grabkreuz, im grünen Rasen, blumengeschmückt,
aber was die Inschrift auf der kleinen Blechtafel nun in unschuldiger Lüge
meldete: daß hier der Soldat Leonhard ruhe, das stimmte nicht mehr.
Man sammelte, was von
den mißhandelten Toten verstreut war, und beerdigte es in einem Massengrab,
das man weiter rückwärts anlegte, und Kreszenzens Bruder mußte
unverrichteter Dinge wieder nach Hause fahren, und hatte immerhin einen
Stoß des Grauens verspürt, von dem die Männer der Heimat
sonst nur in schweren Nächten träumten. Leonhard aber, der Umhergetriebene,
der im Leben schon niemals neben einer Frau Ruhe gefunden hatte, das Lager
treu mit ihr teilend, so war sein Herz nicht, war nun kläglich und
lächerlich auch mit seinem letzten Versuch gescheitert, diesem Schicksal
ein Schnippchen zu schlagen und es im Tode wenigstens zu erreichen.
Übrigens fiel dann
später auch der Kaufmann Jobst, und auch Franz fiel, es fielen viele
Männer aus dem waldumrauschten Peinting, da war gar nichts mehr Besonderes
dabei, damals, und kein Anlaß, zu überlegen, was das zu bedeuten
habe vielleicht, über den Tod hinausweisend, und was damit, Dunkles
erhellend, könnte gemeint sein. Und bei dem totengelben Franz fand
sich das Bild einer fremdartig aussehenden Frau mit einem Katzengesicht,
und als es seine schon seit Jahren nicht mehr in Peinting wohnende Schwester
mit der Hinterlassenschaft des Gefallenen erhielt, war sie bei aller Trauer
doch auch ein wenig gekränkt über ihren heimlich tuenden Bruder,
der ihr nie etwas erzählt oder geschrieben hatte von einer Frau, die
ihm nahestand. Das Bild mußte oft und lange betrachtet worden sein,
das merkte man ihm an. Nicht daß Fingerabdrücke darauf zurückgeblieben
wären oder verbogene Ecken es anzeigten, es war, als ob auf geheimnisvolle
Weise die Augen der Beschauenden ihre stillen Spuren darauf hinterlassen
hätten - so ist es oft. Und die Schwester, eine Frau, die doch was
verstand vom Leben und einen gesunden Blick hatte, sagte zu ihrem Mann,
daß es nie hätte gut gehen können mit Franz und der Unbekannten,
daß sie gar nicht zueinander gepaßt hätten, die zwei.
Sie hatte recht damit, denn wenn auch Franz brav und treu liebend gewesen
wäre und Vorzüge sonst noch gehabt hätte vielerlei, der
stets ordentliche und zuverlässige - für wen Hannas wildes Herz
sollte schlagen, der mußte von anderer Art sein, im guten und im
Bösen, und auch wenn sie daran zugrunde ging.
Das Bild aber, Hannas
Bild, lag dann bei anderen Andenken, bei silbernen Kreuzen und gilbenden
Briefen und Ringen, in einem schwarzen Kästchen, verwahrt in einem
Schrank, der selten geöffnet wurde, in dem alte Seidenkleider und
verschlissene Tücher hingen, von stark riechenden Mottenkugeln beschützt,
im Schatten der Vergessenheit, in dem zuletzt alles verdämmert.
Erstausgabe: Das gerettete Bild. Erzählungen, München: Albert
Langen/ Georg Müller 1938. [1.-5.Tsd.] 106 S. Ausstattung: »biegsam
gebunden« (mit gleicher Einbandvariante wie Der bekränzte
Weiher). - Die »schöne« Ausstattung eines Teils der
Auflage ist insofern ungewöhnlich, als Die kleine Welt am Strom
wie auch Das treue Eheweib, zuvor übrigens auch der Hamlet-Roman,
eher schlicht, bewußt unprätentiös - auch ohne einen illustrierten
Umschlag - gestaltet waren. Daß der Verlag 1937 und 1938 zu einer
besseren Ausstattung griff, scheint auch ein Ausdruck für das
gewachsene Renommee B.s (vgl. auch Komm. in Bd.II) und dessen gewonnene
erzählerische »Klassizität« zu sein.
Auflagenentwicklung: 6.-8.Tsd. 1940; 9.-13.Tsd. 1942; 14.-18.Tsd. 1943.
Der Band, genau ein Jahr nach dem Bekränzten Weiher im Herbst
1938 erschienen (an Knöller, 13.8.1938: »Anfang November«),
enthält wiederum sechs Erzählungen von ähnlicher Heterogenität
wie die vorhergehende Novellensammlung. Ausschlaggebend dürfte der
Wunsch von Verleger wie Autor gewesen sein, eine publikationsgelenkte Offensive
in der literarischen Öffentlichkeit zu starten, zu einem Zeitpunkt,
als B. sich mehr und mehr dort durchzusetzen begann (nicht zuletzt durch
die stete Präsenz im Inneren Reich u.a. mit den ›großen
Erzählungen‹). B. mußte allerdings, um ein - auch für ihn
befriedigendes - Bändchen zusammenstellen zu können, wieder auf
Texte der zwanziger Jahre zurückgreifen, da seine literarische Produktivität
im Bereich der erzählenden Dichtung seit etwa 1933 spürbar zurückgegangen
war - parallel mit der Verlagerung seines Schreibinteresses zur Lyrik hin.
Er suchte dann, entsprechend seiner bisherigen Publikationsstrategie, zu
kaschieren, daß einige der Texte zwar überarbeitet, aber doch
deutlich älteren Entstehungsdatums waren; so schrieb er ausdrücklich
an Fritz Knöller: »Bitte nicht darin erwähnen, daß
Berg und Knecht überarbeitete alte Sachen sind.« (Postkarte
vom 13.8.1938) Weder Knöller noch irgendein anderer Rezensent wies
auf die unterschiedlichen Entstehungsdaten hin.
Bereits in der Sammlung von 192'7 waren Der törichte Knecht
(ehemals u.d.T Michael und das Fräulein), die Apologie des
bäuerlichen Laientheaters, und die Phantasie Der Berg Thaneller,
ehemals u.d.T. Der Berg, enthalten. Die Erzählung Das Liebespaar
und die Greisin hatte in einer ersten Fassung 1928 in der Frankfurter
Zeitung gestanden. Eine Art thematischen Kontrapunkt zur dörflichen
Atmosphäre des Törichten Knechts bildet die Erzählung
Die
Totenfeier, eine im städtischen Münchner Milieu spielende
Geschichte über einen verstorbenen Schauspieler. -
Das Fliederbäumchen, eine unglückliche Schülerliebe
thematisierend, ist in katholisch-kirchlicher Atmosphäre angesiedelt
und war 1934 erstveröffentlicht worden. - Das gerettete Bild schließlich,
nach Der Major der umfangreichste Prosatext aus den dreißiger
Jahren, war nur kurze Zeit vor der Buchausgabe (und insofern zur Titelgeschichte
prädestiniert) im Inneren Reich veröffentlicht worden (August
1938); B. hatte sogleich von Fritz Knöller, der »das balladeske
der Handlung« hervorhob und sich zu einem Vergleich mit altdeutschen
Epen verstieg, überschwengliches Lob erhalten (Brief von Knöller
an B., 8.8.1938), für diese düster grundierte Geschichte im bäuerlich-dörflichen
Milieu um ein leidenschaftliches Mädchen, deren unbedingte Heilserwartung
gegenüber der Liebe in Wahn umschlägt: eine »Schwester
der Ophelia« (Bode, S.88). Gerade diese Erzählung bot, wie im
Brennspiegel, fast alle für B. spezifischen Themen, Motive und Problemstellungen,
von der eifersuchtserfüllten Liebe über den Mordversuch bis zur
(Welt-)Kriegsthematik.
Auch die Rezeption des Geretteten Bildes zeigte
die Existenz einer Art ›geheimen‹ Einverständnisses über B. So
lieferte Fritz Knöller ein weiteres Mal (u.a. gedruckt im Völkischen
Beobachter, 25.11.1938) eine Paraphrase und behauptete, das Schicksal gerate
dem Dichter B. »unter der Hand zum Mythos« und die Geschichten
verkörperten »Male vom sphinxhaften Schicksal«.
Hanns Brauns umfängliche Rezension in der Münchener Zeitung
(3 1.10.1938), fiel hauptsächlich durch ihre Form auf publiziert als
ein Brief an eine »Verehrte gnädige Frau«, der er diese
»Liebesgeschichten« nahezubringen versuchte. - »Liebe
als Irrtum, als Schuld, als Verblendung, als dunkle, triebhafte Lockung«
sah Martin Kießig als dominantes Thema der Erzählungen an: »seltsam
peinigt und beglückt Eros, der grausame Gott, die Menschen, die ihm
verfallen sind«
(in: Weltstimmen, 12, 1938/39, S.535).
Hohoff konzentrierte sich in seiner Rezension mit dem Titel Über
den Dichter und das Gefühl (Das Innere Reich, 5, 1938/39, S.1242-1245)
auf die Sprach- und Erlebnisphantasie vom Berg Thaneller, die »pure
Lyrik« sei (S.1244), und daß B. kein Moralist sei und daß
sein Stil, bei allem Lyrismus, doch »nie in Subjektivität«
verschwimme.
Einige Rezensenten, auch Hohoff, schenkten der Funktion der Landschaft
in der erzählenden Dichtung B.s besondere Aufmerksamkeit. Während
der »stimmungsmäßige Raum [...] dem seelischen der Handlung
zugeordnet« werde, wird die Landschaft »zur Atmosphäre
entwickelt wie in der Malerei«. Die spezifische und die meisten B.schen
Erzählungen prägende bayerische Landschaftserfahrung thematisierte
in ähnlichem Zusammenhang Richard Gerlach in der Deutschen Zukunft
(6, Nr.50, 11.12.1938).
Friedrich Märker meinte, »Landschaft, Mensch und Handlung«
bildeten »eine antike Einheit« (Die Tat, 30, 1939, H.11, S.797
[Februar).
Oskar Jancke beobachtete, am Beispiel des Fliederbäumchens,
die Fähigkeit B.s, »das Tragische zu sänftigen, ohne ihm
auszuweichen, es zu beruhigen, auch wenn es unerbittlich trifft«.
Dies erschien Jancke »als Bezauberung und Stilzauber in der Mischung
von Schmerz und zarter Ironie« (Münchner Neueste Nachrichten,
13.11.1938).
WE.Süskind ließ seine Besprechung in der Literatur (41,
1938/39, S.24i) mit einem Resümee ausklingen, das in der Frage nach
der »Volkstümlichkeit« B.s gipfelte:
Was aber bleibt zu bestaunen an Britting? Seine Phantasie, wie man esSo bestätigte dieses Bändchen vielen Rezensenten, daß B. »zu den stärksten deutschen Prosaisten der Gegenwart« zu zählen sei (Martin Kießig, in einer zweiten Rezension, diesmal in: Der Bücherwurm, 24, 1938/39, S.112; ähnlich Paul vom Hagen in: Westfälische Landeszeitung, 26.2.1939). Kießig meinte allerdings auch, daß dieser Erzählband im ganzen »nicht die unabweisliche Dringlichkeit der vorjährigen Erzählungen« habe. Auf der anderen Seite wurde gerade dieser Band von Lehrerzeitschriften empfohlen (Bücherkunde, 6, 1939, H.8, S.429), Zeitschriften also mit multiplikatorischer Rezeptionswirkung. Obschon die Büchereifachzeitschriften B. noch immer weitgehend ignorierten, sollte sich die Verbreitung seiner Bücher in den nächsten Jahren beträchtlich erhöhen, woran nicht zuletzt auch die frühe Kanonisierung einiger Texte (vornehmlich aus Kleine Welt am Strom) für die Schullektüre beteiligt gewesen sein dürfte (vgl. Komm. S.444).
nennt: diese einzigartige Offenheit eines Kunstgemütes für das Dämo-
nische, Elementare in seiner unmittelbaren, nicht romantisch versetzten Gewalt. Und die Art, wie sich das Naturhaft-elementare (vor allem Brittings Urelement, das Wasser) bei ihm umsetzt in die einfachste, ich meine: allgemein verständlichste Rede- und Erzählweise. Hier ist ein Dichter, der alle Voraussetzungen zur breitesten Volkstümlichkeit hat; es sei denn, daß bereits die unvermeidliche Eigenform (»Kunstform<«) des Erzählens bei einer von der sogenannten Kurzgeschichte entnervten Leserschaft Ungeduld und Achselzucken hervorruft [...].
Drucknachweise und Anmerkungen
S.287 Das gerettete Bild
Zuerst erschienen u.d.T. Das Bild mit wenigen Abweichungen in:
Das Innere Reich, 5, 1938/39, S.481-501 (August 1938]. [E]
S.295, Z.11f: dem es die Frauen zu leicht machten. E: der von Frauen
verwöhnte.
S.3o5, Z.2-8.: bei einer [...] gehorchte. Fehlt in E.
Als »Gumpe« (S.304, Z.7) wird ein kleiner Teich bezeichnet.