...
zurück zum Inhaltsverzeichnnis
© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Band 3-2  Seite 314
Kommentar Seite 492

Aus: »Das gerettete Bild«



 

Der törichte Knecht

Bramsach, ein Dorf im oberbayerischen Land, hat für viele Fremde einen Anziehungspunkt mehr als die umliegenden Ortschaften. Nicht nur Berg und Wald und See hat es zu bieten, blutrote Sonnenuntergänge nach stahlblauen Tagen, stäubende Wasserfälle und einen gewaltigen gelben Mond über Almwiesen und Erdbeerschluchten - an jedem Sonntagabend spielen dort die Bauersleute Komödie in einer leeren Scheune. Es ist nicht wie in Schliersee oder Tegernsee, wo die bäuerischen Spieler sich schon längst nicht mehr unterscheiden von denen in der Stadt, ein festes, und oft nicht geringes Monatsgehalt beziehen und geschminkt und gepudert in einem eigens für sie gebauten Bühnenhaus auftreten: die Bramsacher legen die Mistgabel hin, die Hacke oder den Rechen, und steigen auf die knarrenden Bretter, um sich in Könige, in Fürstinnen und Hofdamen zu verwandeln. Sie scheuen sich nicht, das Schwert über die lederne Stallhose zu gürten, und das Edelfräulein, wenn es Abschied nimmt von dem zu den Türken fahrenden Kreuzritter, trägt das bunte Kopftuch, wie die Mägde es tragen, wenn sie zur Messe gehen. Und wenn sie unter langsamen und feierlichen Gebärden schöne und lange und schnörkelig gedrechselte Sätze zueinander sagen, beseelt sie ein schier heiliger Eifer. Und den Bramsacher Sommergästen, die auf den harten Holzbänken im Zuschauerraum sitzen, ist es manchmal wunderlich zumut, und ihrer Ergriffenheit will sich oft ein Lächeln unter Tränen gesellen, wenn in der rauhen Mundart der Spielenden Leidenschaftsausbrüche und süß schmelzende Liebeserklärungen ungewohnt und rührend erklingen.
 Zu der regelmäßigen Besucherinnen der Sonntagsaufführunggehörte vor einigen Jahren eine junge Dame aus Norddeutschland, die mit ihrer Tante nun schon den zweiten Sommer in Bramsach verbrachte. Seit kurzem sah man sie oft in Begleitung eines hochgewachsenen, glattrasierten Herrn, der seinen schon ergrauten Schläfen zum Trotz jugendlich frisch und kühn blickend, in der knappen Joppe der Einheimischen einherschritt, den federgeschmückten grünen Jägerhut weit aus der Stirn geschoben. Als die beiden einmal, an einem heißen Juliabend, nach dem Theaterbesuch, zu dem sie verabredet gewesen waren, im kühlen Wirtshausgarten am See noch ein Glas Wein tranken, mußte der Herr merken, daß seine Begleiterin es nicht lassen konnte, das Gespräch schnell und immer wieder auf den Darsteller zu bringen, der heute die tragende Rolle in dem Stück gespielt hatte. Der hieß Michael Sennebogen, hatte eine Brust wie eine Tonne und ein derbes, braunes Gesicht, mit einer angreiferischen Adlernase über vollen, fast noch kindlich gewölbten Lippen. Er hatte einen Feldhauptmann vorgestellt, in schwarzes, rasselndes Eisen gehüllt, und Hedwig, die junge Dame, konnte sich nicht genug tun, zu rühmen, wie der einfache Bauernbursche, der er doch nur war, mit soviel echter Empfindung und edler Kraft seine Aufgabe gemeistert hatte, den begeisterten Beifall verdienend, der ihm gespendet worden war. Nun war der Herr an ihrer Seite, Paul D., und das wußte sie, selber Schauspieler, Mitglied einer großen Bühne im Rheinland, ein auch im übrigen Deutschland nicht unbekannter Künstler. Es verdroß ihn, daß die junge Dame Hedwig den theaterspielenden Knecht gar so übertreibend mit Lob überschüttete, besonders, weil er zu spüren vermeinte, daß ihre Bewunderung des gliedergewaltigen Michael einer ihr selbst vielleicht noch nicht ganz bewußten Zuneigung entsproß, die dem Menschen und nicht dem Heldendarsteller galt. Und weil er selber das reizvolle Geschöpf mit verliebten Augen betrachtete, ärgerte es ihn um so mehr, daß sie, und das schien ihm ihrer nicht würdig, in Gefahr war, sich in den Bauernlümmel zu vergaffen. Aber das verbarg er natürlich, kennerhaft und ein wenig von oben herab redete er von der erstaunlichen Naturbegabung des jungen Menschen, und entnahm dem Gespräch, daß Hedwig schon dieses und jenes Mal den Knecht auf der Straße, vor der Kirche, beim Krämer getroffen hatte. Aus einer lustigen Andeutung, die sie machte, war zu schließen, daß Michael gar nicht so schüchtern war, und der schönen Städterin unverhüllt zu erkennen gegeben hatte, daß sie ihm gut gefiel.
 Sie saßen noch eine Stunde am See, der Mond stieg herauf, die Bäume rauschten, und von einem entfernten Boot scholl Ruderschlag und trunkenes Gelächter. Paul D. und Hedwig sahen zu dem gelben Burschen hinauf, der eben über einen zackigen Kamm sich schwang. Das derbe Antlitz des himmlischen Bergkletterers erinnerte Hedwig an Michaels schönes Bauerngesicht. Paul D. schien zu ahnen, woran sie dachte, er preßte die Lippen zornig aufeinander, und eine große Erdbeere, die, von den still wirkenden Kräften des Weins bewegt, in seinem Glas taumelnd und tauchend schwamm, nahm, sich verwandelnd, für ihn des Nebenbuhlers Züge an. Da fischte er die Frucht heraus, zerdrückte sie, aber der Mond stieg nur immer höher und höher, und Hedwig seufzte.
 Michael Sennebogen, der Knecht, hatte wohl gemerkt, daß die Dame aus der Stadt ihm Beachtung schenkte. Seine Eitelkeit hatte schon manchmal Lobsprüche und Schmeicheleien weiblicher Sommergäste mit Gefallen entgegengenommen. Es waren meist nicht mehr junge und magere Wesen, und wenn er den Honig ihres Lobes geschleckt hatte, lüstete es ihn keineswegs nach mehr. Er schüttelte den Zudringlichen mit Treuherzigkeit die Hand, sah sie an mit strahlenden Unschuldsaugen, tat, als verstehe er nicht, und entwischte, innerlich lachend, den Verfolgerinnen. Schließlich hatte er den ganzen Tag im Bretterlager genug zu tun, und wenn er abends nicht Probe hatte, gab es Gespielinnen seiner Jugend, schenkelkräftig und großäugig, die ihn hinter Hecken oder am Fenster erwarteten. Mit Hedwig erging es ihm anders. Sie hatte ein feines, weißes Gesicht und so kleine Hände, und es war ihm eine köstliche Vorstellung, daß diese Hände, an denen die zierlichsten Finger mit rotgemalten Nägeln saßen, ihn streicheln sollten. Aus der Bluse lugte ihr ein winziges, zart rosafarbenes Hemddreieck, und zu denken, fast schämte er sich, was unter Hemd und Bluse sich bergen mochte! Noch wußte er nicht, wie weit die Teilnahme ging, die Hedwig für ihn hegte. Bis jetzt hatte sie immer nur von seinem Spiel gesprochen, aber er fühlte, daß der Mut und die edle Gesinnung der Ritter und Wildschützen, die er darstellte, ihm angerechnet wurden, als blühten sie in seiner Brust. Und wenn er in schönen Versen um die Liebe einer Bühnenfrau warb, nahm sie ihm unversehens die Gestalt und die Züge Hedwigs an, und dann geriet er in solches Feuer, daß er sich selbst überbot, alles mit seiner Glut ansteckte, auch Hedwig, die unten saß, im verdunkelten Zuschauerraum, die Hände fest aneinandergepreßt, das Gesicht gierig zu ihm gehoben, seine heißen Sätze auf sich bezog - sie mochte süß ahnen, mit wievielem Recht - und von der wilden Kraft des Bauern angepackt, erbebte.
 Paul D., der große Schauspieler aus dem Rheinland, an Jahren nicht mehr der jüngste, spielte den Faust und Othello und Macbeth in einer auch schon ein wenig veralteten Weise. Er spottete gern über die Jugend, die stürmisch nachdrängende Jugend, die mit gewalttätiger Frechheit nach Kränzen griff, die ihr unerreichbar bleiben mußten, weil es ihr an Schule und Beherrschung der Mittel fehlte, und die es wagte, sich lustig über ihn zu machen, und über seine geträllerten Sterbeseufzer zu höhnen, die er gezirkelt und gemessen sang, wie der Kanarienvogel sein Käfiglied. Wohl, ein wenig war an dem dran, was man ihm vorwarf, er war klug genug, das selber zu spüren, und mit Klugheit versuchte er es, auch Feuer und Schwung zu zeigen, und bemühte sich, mit Lallen und Stammeln den Eindruck von Taumel und Hingerissenheit zu erwecken, aber sein Schwung blieb glatt und ölig und sein Feuer kalt, ohne recht zu zünden. Nun sollte er, so schien es, auch im Leben zurücktreten müssen hinter so einem, der mit ungezügelter, roher Kraft daher kam, aber er war entschlossen, den Kampf aufzunehmen. Gegen die Ungehobeltheit wollte er seinen Schliff ins Feld führen, und was er zu tun beabsichtigte, war von einer so unangreifbaren Anständigkeit, daß niemand ihn würde tadeln können, er sagte es sich mit Lächeln.
 Er wartete eines Abends, bis Michael von der Arbeit kam, und sprach ihn auf der Straße an, und sagte ihm, sich vorstellend, er sei selber ein Mann der Bühne, und er habe Michael ein paarmal spielen sehen in der letzten Zeit, und er habe seine Begabung erkannt, die groß und ungewöhnlich sei, aber der rechten Ausbildung natürlich noch ermangle, er wolle ihm aber gern und umsonst, um der gemeinsamen Kunst willen, der sie beide dienten, Unterricht geben. Michael betrachtete zuerst ein wenig mißtrauisch den Herrn mit dem vornehmen Gesicht. Aber dann bedachte er, daß er mit Hilfe des Lehrers, der sich ihm da unerwartet und wie vom Himmel geschickt anbot, solche Fortschritte machen konnte, daß alle ihn staunend bewundern würden, die Nachbarn und die Fremden, und unter ihnen war, errötend glaubte er es zu sehen, Hedwig, das Fräulein aus der Stadt, mit den kleinen, weißen Händen, und wandte das Gesicht demütig und voll Liebe zu ihm, und das gab den Ausschlag. In der Brusttasche trug er seine neue Rolle, den jungen Jäger eines Stückes, das für den übernächsten Sonntag angesetzt war, und so folgte er auf der Stelle, ein wenig verlegen zwar, aber doch auch stolz, dem Schauspieler in dessen Zimmer. Dort begann, was dort auch enden sollte.
 Paul D. salbte ihn mit allen Fetten und Ölen des erfahrenen Haarkünstlers. Er goß ihm wohlriechende Flüssigkeiten auf das struppige Haupt, setzte Kamm und Bürste an und zog einen schnurgeraden, weiß schimmernden Scheitel. Er legte Schminke auf die naturroten Lippen und krümmte die buschigen Augenbrauen zu einem geschmeidigen Bogen, er machte, alles bildlich gesprochen, denn er war Schauspieler und kein Barbier, aus dem holzgeschnitzten Bauernschädel den lächerlich frisierten Kopf einer Schaufensterpuppe. Und das alles mit der hinterlistigen Schlauheit, die sich sagen durfte: Ich lehre ihn nichts Schlechtes, ich tu ihm nichts Übles an, ich bring ihm das nur bei, umsonst und ohne jede Bezahlung, was ich meine Schüler in der Stadt nur gegen bares Geld lehre. Der Bauernlümmel kann sich freuen! Und der freute sich.
 Auf Paul D., der den schurkischen Nebenbuhler des neuen Stückes mit Stichworten andeutete, drang Michael mit erhobenen Fäusten ein, rief schäumend »Bube!«, schallend stieß er Verwünschungen und Beschimpfungen aus, schrie, daß die Spiegel klirrten und das Stubenmädchen bestürzt die Tür aufriß, aber die Hand vom Hals des Lehrers nicht lösend, wandte Michael nur den Kopf und sagte streng verweisend: »Wir spielen«. Da ging das Mädchen wieder, sich entschuldigend und kopfschüttelnd und lächelnd, und kümmerte sich um den Lärm aus Zimmer 23 nicht mehr hinfort, weil sie wußte: Die spielen nur!
 Zwei- oder dreimal noch in dieser Zeit des Unterrichts hatte Michael mit Hedwig gesprochen. Wenn er im Holzlager Bretter trug und zählte und schichtete, stand auf einmal die schöne Städterin am Zaun, der braun und glühheiß war von der Sonne, und unterhielt sich mit ihm eine Viertelstunde, und betrachtete verstohlen seinen Mund, einen geschwungenen Jünglingsmund mit vollen Lippen. Tiefschwarz hob sich die Gestalt des Knechtes ab vom blauen Himmel, nur seine Brust war vom Licht umronnen, daß er seinem Schutzheiligen glich, dem schwertgegürteten Erzengel Michael.  Und dann kam der Abend, an dem das neue Stück aufgeführt wurde, und unter den Zuschauern saßen erwartungsvoll nebeneinander Hedwig und ihre Tante und Paul D. Ein Paukenschlag verkündete den Beginn des Spiels. Nach dem ersten Akt konnte Hedwig eine geheime Unruhe nur schwer verbergen, und als ihr Begleiter sie fragte, wie ihr heut Michael gefiele, gab sie nur eine ausweichende Antwort. Dann hob sich der Vorhang wieder, Michael rückte nun in den Vordergrund des Geschehens auf der Bühne, und schon fingen einige unter den Sommergästen an zu witzeln und zu kichern über den närrisch sich spreizenden Kerl da oben, der, weil er sich bemühte zu zeigen, was er an Atemführung und Sprechkunst und Gebärdenspiel gelernt hatte in den anstrengenden vierzehn Tagen des Unterrichts, in ein unnatürliches, schrecklich gequältes Gehabe verfiel. Die Spieler neben ihm waren unbefangen und kunstlos wie immer, ehrlich ihrem Gefühl hingegeben, und wirkten in aller Unbeholfenheit noch rührend treuherzig, in dem Schmunzeln über den sich zierenden Michael aber lag offener Hohn. Im dritten Akt hatte er seinen großen, oft geprobten Auftritt mit dem Nebenbuhler. Da ließ er alle seine neuen Künste springen, wie der eitle Pfau die grelle Pracht seiner Federn hebt, und als er, dem Gegner die Hand um den Hals gelegt, rollenden Auges sein »Bube! « erschallen ließ, konnte der größere Teil der städtischen Zuschauer laut prustendes Gelächter nicht mehr ersticken, und auch die bäuerlichen Besucher sahen verstört und unbegreifend auf den in eine Zappelpuppe verwandelten Michael. Die edler Empfindenden erröteten über den jämmerlichen Anblick, daß ein junger, gesunder Mann, prangend in Fülle, den, im täglichen Leben, bei seiner Arbeit, inmitten seiner Freunde zu betrachten eine Freude war, sich hier so beschämend aufführte, und in allgemeiner Verwirrung nahm das Stück sein Ende.
 Die Tante war müde, sie hatten sie heim begleitet, und nun saßen sie, Hedwig und Paul D., wieder bei einem Glas Wein im Garten am See. Der Mond war groß und gelb wie damals, vom Lichte triefend, aber sah er nicht aus, als sei er in einen gelben Schnaps getaucht gewesen, in einen süßen, gelben Schnaps? Sein Ebenbild schwamm klebrig im Wasser, und Hedwig hätte nicht trinken mögen davon, weil es einen faden und widrigen Geschmack haben mußte. Sie war in einer sonderbar geteilten Stimmung, fühlte Mitleid mit Michael und seiner Niederlage, und empfand es zugleich wie eine ihr zugefügte Beleidigung, daß er so kläglich hatte versagen können. Was war nur in den Burschen gefahren, ihn unbegreiflich verändernd, dessen natürlicher Adel sie entzückt hatte, oder hatte sie nur früher keine Augen dafür gehabt, wie gewöhnlich er im Grunde war, im Grunde sein mußte, wenn er heute so schmachvoll sich zu enthüllen gezwungen gewesen war? Paul D., der kluge und verschwiegene, der ihr nicht verriet, daß er Michael Unterricht gegeben hatte, und dazu war er ja auch nicht befugt, redete er sich ein, versuchte es vorsichtig, mit gütig abwägenden Worten ihn zu verteidigen. Aber sie ließ es nicht zu, daß er so schlimm es nicht fand, und sie übertrieb im Tadel, wie sie früher im Lob übertrieben hatte, und in einem längeren Hin und Her überzeugte ihn die Zornige davon, und ihre Augen flammten, daß dieses Engelshaupt des Bauern nur eine schöne Maske war, hinter der Niedrigkeit sich barg. Paul D. war ein gescheiter und gebildeter Mann. Er war Hedwig ein großes Stück nähergekommen, das spürte er, wenn es auch noch nicht entschieden war, daß es ihm gelingen würde, sich ihrer ganz zu bemächtigen. Aber jedenfalls, und das war wichtig, Michael schien ganz und gar und für immer bei ihr ausgespielt zu haben, und das genügte vorläufig.
 Im Bretterlager arbeitete schwitzend Michael. Was wußte er? Nichts. Er schämte sich und fand doch keinen rechten Grund dafür. Er blieb stehen, das Brett, das er trug, scheuerte schmerzhaft seine Schulter, daß er unwillig ruckte, und dachte nach, aber er kam nicht weit mit dem Denken. Er sah, wie die gebogene Nase des Berges gegen den blauen Himmel stieß, und eine weiße Wolke war über der Nase, wie von einem Stier schnaubend emporgeblasen. Heute früh war Hedwig vorbeigekommen und hatte ihn angesprochen wie sonst auch. Aber auf einmal war wieder die Kluft dagewesen zwischen dem Bauernknecht und der Städterin, die schon ausgefüllt und geebnet erschienen war. Von der Aufführung hatte sie nichts gesagt und von seinem Spiel, und er wußte auch so: das war der Grund der Entfremdung! Sie hatte gelächelt wie immer, als sie dann ging, und er hatte gespürt: es ist aus und zu Ende. Immer noch hörte er das Lachen, das aus dem dunklen Zuschauerraum zu ihm auf die Bühne gestiegen war - und er hatte es doch besser gemacht als sonst! Wie hatte er geübt und die Weisungen des Hofschauspielers befolgt, in allem und jedem, und dann war es so gekommen! Er kannte sich nicht mehr aus, es war nicht zu fassen und zu verstehen. Es war ihm, es in einem ein wenig lächerlichen Vergleich zu sagen, es war ihm vielleicht zumut wie einem Mädchen, dem man im tiefen Schlaf Gewalt angetan hat, und das sich nach dem Erwachen geschändet fühlt und doch keinen rechten und beweiskräftigen Grund hat, so zu fühlen. Man hatte ihm seine Unschuld geraubt, so war es, aber das wußte er nicht, und es wäre auch keine Möglicheit gewesen, ihm das klarzumachen. Aber die dumpfe Unruhe war da und der Drang, sinnlos zu fluchen, und in den Augen saßen ihm zwecklose und unbegründete Tränen, die sich aber nicht trauten zu fließen, so ohne Anlaß. Er setzte das Brett ab, da sah er draußen Hedwig und Paul D. vorübergehen. Sie lachten, und jetzt sahen sie Michael, und Hedwig nickte herüber, und der Hofschauspieler winkte freundschaftlich mit der Hand, und dann waren sie hinter der Kirche verschwunden. Michael atmete tief, daß sich das Hemd über
seiner Brust spannte. Da ging er draußen mit dem schönen Fräulein, der große Schauspieler aus der Stadt, sein vornehmer Freund und Lehrer und Meister, dem er dankbar zu sein hatte. In einem Anfall von verzweifelt Komödiespielenmüssen fiel Michael auf die Knie, als sei er auf der Bühne, und hob die Hände, und sagte: meinen Dank! Und wie sollte er, seinen Dank ausdrücken? Hätte er die Gabe gehabt, sich selbst zu beobachten, so hätte er bemerkt, daß dieses Bohren und Winden in ihm, das er Dank nannte, eine schwarzschillernde Raupe war, die, wenn sie sich krümmte, eine grellrote Bauchseite herzeigte, eine blendende, knallige Färbung, die nichts Gutes verhieß, daß dieses nagende  Gefühl unversehens umkippen konnte, und dann war es Haß. Aber er war ein grober Bauernlümmel, konnte nicht oder nur schief denken, und wie beschämt und ertappt  erhob er sich wieder von den Knien. Fröhlich rochen die Bretter nach Harz, und der Bergstier ließ nicht ab zu schnauben, man sahs an der weißen Wolke, die noch größer  geworden war. Eine dicke braune Hummel prallte klatschend gegen Michaels Stirn, zurück und wieder gegen seine Stirn, und wieder und wieder, wie ein Hammer.
 Hedwig und Paul D. gingen langsam den Bach entlang, der gischtend und strudelnd und sich überschlagend über die weißen Steine dahin sich seinen Weg suchte. Der Schauspieler hatte die Absicht, heute zu etwas Entscheidendem vorzustoßen, aber so oft er ansetzte zu einem kühnen Wort, so oft setzte er auch wieder ab, weil seine Begleiterin ein gar zu undurchdringliches Gesicht machte, ein ganz und gar abwesendes Gesicht, denn während sie die Sonne warm im Nacken spürte, dachte sie an diesen dummen, braunen Michael im Bretterlager, und ihr Zorn über ihn war schon wieder im Schwinden. Jetzt tat sich vor ihnen eine Schlucht auf, zu deren beiden Seiten grüne Haselnußsträucher wehten. Hoch über der Schlucht, auf einem vorspringenden Felsbuckel, stand ein mächtiger Baum mit kleinen, unzählig vielen kleinen Blättern, die in wispernder und quirlender unaufhörlicher Bewegung waren, als würden sie von einem Blasbalg angefaucht. Aber hier unten rührte sich kein Wind, und sie schritten, immer den Bach zur Seite, in die Schlucht hinein. Da war es kühler, das Wasser wurde dunkelgrün und schwärzlich, und Hedwig meinte manchmal eine Forelle schießen und schimmern zu sehen. Ein Steinblock stemmte sich wie eine Faust dem jagenden Wasser entgegen. Jede Welle zerschlug sich daran und spritzte, zerflatternd, eine Tropfenschnur ans Ufer. Das ging so gleichmäßig, als seis ein künstliches Wasserspiel, und in Pausen von vier, fünf Atemzügen sauste der Glitzerfaden im Bogen auf den Weg. Wer soll sich in dem Michael auskennen? dachte Hedwig traurig, und sie sah nachdenklich ihren Begleiter an. Was wußte sie von dem? Stolpernd und grell kam eine besonders stürmische Welle, zersplitterte, und der Strahl traf Hedwig zerstäubend an Brust und Hüfte. Verlegen, scherzend, doch auch bebend, schnippte ihr der Hofschauspieler mit den Fingern ein paar der Tropfen weg. Da merkte sie, daß ihr seine Berührung unangenehm war, wieder dachte sie an Michael, und ob es da anders wäre, und lachte ärgerlich über sich und über beide Männer, und schlug vor, wieder ins Dorf zurückzugehen.
 Der Fisch ist auf den Sand geworfen, sagte sich Paul D., und mit dem Fisch meinte er Michael. Da liegt er und kann nicht mehr schnaufen, aber was nützt es mir? Es nützt mir anscheinend nichts. Übrigens kann ich ein reines Gewissen haben. Habe ichs nicht? Ich habs. Das sagte er sich vor und glaubte es fast. Krieg ist Krieg! sagte er sich, und seinen braunen Knien und der Tonnenbrust setzte ich entgegen, was ich hatte.
 Mit diesen braunen Knien und der Tonnenbrust und dem kleinen Kopf handelte nun Michael so gut und richtig, wie er gut und richtig gespielt hatte ehedem. Abends klopfte er an die Tür des Zimmers 23, es rief: Herein! und er trat ein.
Er ging auf den unschuldigen Hofschauspieler los, wartete sein Stichwort nicht ab, packte ihn am Halse und sagte nichts, und würgte ihn. Paul D. konnte noch einen Hilferuf ausstoßen, und mit den Füßen warf er krachend einen Stuhl um. Das Zimmermädchen hörte das Gepolter, legte das Ohr an die Tür, hörte des Überfallenen Todesschrei und dachte: die spielen! »Bube!« sagte Michael, und ihm war, er stehe auf der Bühne, und diesmal spielte er sehr gut und niemand hätte gelacht. Das hochmütige Gesicht des Gewürgten lief rot an, bis unter die Haare hinauf, seine Augen bekamen einen erstaunten und starren und dann auch bittenden Ausdruck, aber Michael dachte wohl auch: Krieg ist Krieg! und lockerte den Griff nicht und zog den Widerstrebenden so dicht an sich heran, daß sie Brust an Brust waren, wie Freunde. Als er dann, sich besinnend, von seinem Lehrer abließ, war es zu spät. Paul D. lag lang ausgestreckt und regungslos am Boden, mit weit geöffneten Armen, ohne zu atmen, und es war seltsam, wie klein nun auf einmal das Zimmer aussah.
 Wer kann mit einiger Wahrscheinlichkeit ermessen, ob über den entsetzten Aufruhr, der in Paul D. losbrach, als er in Michael Sennebogens Hand war, ob da über die Hundertschar von wirbelnden und sich bekämpfenden Gefühlen, ob da über Angst, Wut und Haß und Todesfurcht nicht auch einer Leuchtkugel gleich der Gedanke in ihm aufstieg, einen Augenblick lang blitzartig das Schlachtfeld seines Herzens erhellend, daß da nicht etwa nur ein Bauernbursch sich bösartig und verbrecherisch rächte? Ist es anzunehmen, daß er erkannte, eine leichtsinnig in Bewegung gesetzte Lawine begrabe ihn, und daß, um zu immer kühneren Vergleichen zu gelangen, er einsah, zu spät einsah: Wer einen Löwen kitzelt, darf sich nicht wundern, wenn der ihn zerreißt, weil da nicht gilt Zahn um Zahn, und nur wer getötet hat, darf wieder getötet werden? Soll man hoffen, um es kurz zu machen, daß der Sterbende noch die Belehrnng erfuhr, nach menschlichem Gesetz zwar keineswegs den Tod verdient zu haben, aber daß ihm nur Unrecht geschah von der Art, wie es dem zugefügt wird, der einem Baum mit dem Beil ans Mark geht, und der stürzende erschlägt ihn?
 Michael bekam sechs Jahre Zuchthaus für seine Tat. Es war ihm nicht nachzuweisen, daß er, als er zu dem Schauspieler ging, die Absicht ihn zu töten hatte, und wahrscheinlich hatte er sie gar nicht gehabt, und der Gerichtsarzt war der Meinung, daß nicht die würgende Hand Michaels, sondern ein durch den Schrecken herbeigeführter Herzschlag dem Leben des Überfallenen ein Ende gesetzt habe. lm Dunkel tappend, fand das Gericht keine ausreichende Begründung für das, was geschehen war, und ärgerte sich über den Angeklagten, der, allem Zureden taub, verstockt und trotzig jegliche Aussage verweigerte: aber wie hätte er auch den strengen Herren erklären können, was er selber nicht verstand, und was die Zeitungen, geschwätzig und voreilig, eine ländliche Eifersuchtstragödie nannten?
 Manchmal sah nachts der Mond in Michaels Zelle und war rot und gedunsen wie damals das Gesicht des ausgestreckt am Boden Liegenden, und manchmal, wenn der Mond gelb und blaß war, erinnerte er ihn an das schöne Fräulein Hedwig, und er sah es wieder am Bretterzaun stehen, ihm zulächelnd. Michael begriff nie, auch in den langen Nächten des Nachdenkens nicht, warum er einen Mord begangen hatte, niemand sagte es ihm, niemand wohl auch wußte es, aber da er ihn nie und zu keiner Stunde bereute, mußte der Grund wohl ein gültiger und endgültiger gewesen sein.
 Vom Waldrand löst sich ein Reh, trippelnd, witternd, gefallsüchtig hüpfend und von der grünen Wiese naschend, während hinter den kupferfarbenen Föhrenstämmen die Rittertiere mit Mordstangen turnieren, sich um das zartgelenkige, sanftschnäuzige Wesen streiten - so sah Hedwig sich und die kämpfenden Männer, und grollte beiden unter Tränen, daß sie es gewagt hatten, die Überlieblichen, ihre freie Entscheidung zu mißachten, und sie fühlte sieh, ganz ihrer Zeit gehörig, im Wert herabgesetzt, daß man um sie sich gerauft hatte, wie um ein Stück Vieh, so sagte sie zornig, und einen geheimen Stolz darüber, der zu ihrer Bestürzung in ihr sich regen wollte, versuchte sie vor sich selber zu verleugnen. Daß Michael von dem Schauspieler Unterricht bekommen hatte, war ihr gesagt worden, und sie zerbrach sich noch nachträglich den Kopf, warum Paul D. vor ihr so heimlich damit getan, als habe er Böses zu verstecken gehabt. Dabei konnte sie so wenig wie der törichte Knecht den im Tiefsten sich verbergenden Grund ausspüren für das, was sich ereignet hatte. Nur der Tote wäre dazu imstande gewesen und hätte den wissenden Blick gehabt für Zusammenhänge, die, in Worten ans Licht gehoben, zerronnen wären, wie die Tiere der Meertiefe zerfallen, wenn die Sonne sie trifft. Sein Schliff und seine Glätte hatten schon in den Bühnenschlachten sich nicht mehr als siegreiches Schwert erwiesen, im Kampf gegen Michael hatten sie ihm nach einem Teilerfolg die unanzweifelbarste Niederlage beigebracht.
 Nach Bramsach jedenfalls ging Hedwig nicht wieder, und auch Michael, so nahm man allgemein an, würde nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus nicht mehr in seine Heimat zurückkehren - Arbeit und Brot und ein langes, bitteres Leben gab es für ihn auch, wo nicht scheele Blicke und Geflüster der Gerechten auf ihn warteten. Um Bramsach aber stehen die Berge, der Himmel ist blau, und die Wälder rauschen, und Knechte und Mägde spielen Komödie und schlagen sich tot auf den Brettern. Aber wenn die Klatschenden den Vorhang in die Höhe treiben, stehen sie wieder auf, verneigen sich und singen und tanzen bis tief in die Nacht.
 
 




 
 

Drucknachweise und Anmerkungen:
 

S.314 Der törichte Knecht
Zuerst erschienen u.d.T. Die beiden Liebhaber in: Europäische Revue, 14, 1937/38, H.9, S.783-791 [September 1938].
Eine erste, stilistisch noch unausgereifte, ›gröbere‹ Fassung in: Simplicissimus, 28, 1923, S.13o u. 132 [11 Juni]. [E] Diese Fassung endet nicht mit dem Tode des aus der Stadt gekommenen Schauspielers, sondern bringt folgenden Schluß: E: Alexanders Gesicht lief schon blau an, er wurde bewußtlos, da ließ ihn Michael fahren und ging. [/] Er tat in den nächsten Tagen seine Arbeit wie sonst und war erstaunt, daß die Gendarmerie nicht kam, ihn zu verhaften. Er hatte es verdient. Die Lehren des Schauspielers waren gut gewesen, es mochte an ihm selber gelegen haben, nicht an den Ratschlägen, daß der Erfolg ausblieb. Und daß Hedwig ihn vorzog, dafür konnte er am Ende auch nicht. Und nun kam der Wachtmeister nicht, ihn festzunehmen. [/] Alexander hatte nach dem Überfall sich nasse Umschläge um den Hals gemacht. Er mußte einige Zeit einen hohen und steifen Kragen tragen, damit man Michaels Fingerabdrücke nicht sah. Dieser steife und hohe Kragen wieder schien Hedwig zu mißfallen. Sie war die letzten Tage wenig gesprächig, und einer plötzlichen Laune folgend reiste sie ab. Da verließ auch er Bramsach.
Eine erweiterte zweite Fassung erschien zuerst in: Deutsche Rundschau, 52, 1926, S.18-24 [Juli]; dann auch in Michael und das Fräulein, S.103-124 [M], hier mit leichten Abweichungen gegenüber dem Zeitschriftendruck. In beiden Fassungen heißt der berufsmäßige Schauspieler nicht Paul D., sondern Alexander, und er kommt nicht aus dem Rheinland, sondern aus »Norddeutschland«; die Bewunderin Michaels, Hedwig, stammt aus Darmstadt und nicht aus Norddeutschland. B. hat bei der Überarbeitung zur endgültigen Fassung viel »Metaphernwut und Rauheit [...] abgeschliffen« (Bode, S.16).
S.314, Z.6: Erdbeerschluchten - an M: Erdbeerschluchten und was dergleichen billige Naturschauspiele überall zu genießen sind - das war das Auszeichnende: An
S.315, Z.2-S: der seinen [...] geschoben. Fehlt in M.
S.315, Z.14f.: mit einer [...] Lippen. Fehlt in M.
S.316, Z.6: schüchtern M: blöd
S.316, Z.29: mehr. M: mehr. Die blauen und rosenfarbenen Blusen umhüllten nicht die Äpfel, die ihn hätten zum Sündenfall bringen können.
S.317, Z.4: diese Hände M: diese vornehmen Pfoten
S.318, Z.2-4: aber sein [...] zu zünden M: aber es wurde immer nur so eine Art bengalisches Leuchten, und sein Schwung blieb glatt und rund wie die Welle des Turners am Reck
5.318, Z. 12f: Der Beginn des Abschnitts lautet in M: Vorm Dorfausgang, auf der Straße nach Zell, stieß abends Alexander auf den lederbehosten Burschen. Er sprach ihn an
S.319. Z.6-8: aus dem holzgeschnitzten (...] den lächerlich frisierten Kopf einer Schaufensterpuppe M: aus dem holzgeschnitzten Bauernschädel eine geil frisierte Wachspuppe
S.319, Z.30f.: und betrachtete [...] Lippen. Fehlt in M.
S.320, Z.16: Gehabe verfiel. M: Gehabe. Er hob die Knie hoch, setzte die Füße steif und quer, und mit den Armen machte er Bewegungen, als schöpfe er ununterbrochen Wasser.
S.322, Z.3-5: wie die gebogene Nase des Berges [...] emporgeblasen M: wie die gebogene Nase des Berges den blauen Himmel beschnüffelte, und wie er jetzt die schmerzende Achsel hob, senkte das Brett sich und schnitt die Bergnase ab, und er sah wie Flaumhaare die Holzfasern flattern
5.322, Z.35 - S.323, Z.4: Michael atmete [...] zu sein hatte M: In Michael stieg eine rote Flut den Hals herauf. Jetzt ging der mit Hedwig. Der große Schauspieler aus der Stadt, sein Lehrer, sein Meister. Er hatte ihm dankbar zu sein
S.323, Z. 17-i9: und der Bergstier [...] geworden war. Fehlt in M.
S.325, Z.13-18: und lockerte den Griff [...] ohne zu atmen M: und ließ nicht los. Die Leiche lag quer über dem Boden
S.325, Z.34 - S.326, Z.5: wieder getötet werden? Soll man hoffen [...] erschlägt ihn? M: wieder erschlagen werden! Daß man dem Baum zwar mit dem Beil ans Mark gehen darf, aber beiseitespringen muß, wenn er fällt, und es töricht wäre, zu zetern, er habe einen fast zerquetscht! Soll man hoffen, um es kurz zu sagen, daß er, der sterbende Alexander, noch die Belehrung erfuhr, für seine Tat zwar keineswegs den Tod verdient zu haben, daß ihm aufging: Unrecht geschehe ihm, aber nur Unrecht von der Art, wie sie dem zugefügt wird, der im fremden Garten Beeren stiehlt, die giftig sind und ihm tödlich das Blut zersetzen?
S.326, Z.6-19: Es war [...] nannten? Fehlt in M.
S.327, Z.24-28: und auch Michael [...] auf ihn warteten. Fehlt in M.