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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs
Band 3/2   Seite 328

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Kommentar Seite 494

Aus: »Das gerettete Bild«


Das Fliederbäumchen

Es war schon den ganzen Tag sommerlich heiß gewesen; drückend wie im Juli. Die Schwalben schossen auf der Jagd dicht über dem Fluß hin und her, warfen sich hoch, und wendeten schnell dann, jäh niederfallend, daß ihre blauen Brüste blitzten. Die Mücken hatten sich unbändig frech gezeigt, und das Strafgericht, das mit den gierigen Raubzügen der Schwalben über sie hereinbrach, gönnte ihnen jeder, und wer etwas vom Wetter verstand, und alle, die am Fluß wohnten, verstanden etwas vom Wetter, die hatten schon am Vormittag ein Gewitter vorausgesagt, das nun am späten Nachmittag sich auch entladen sollte.
   Rasch und erschreckend war es finster geworden. Überm Fluß drüben begann es. Schwarz zogs herauf hinterm Dreifaltigkeitsberg, daß die kleine, weiße Wallfahrtskirche, die droben stand, auf einmal fahl glänzte wie Totenbein. Und ein Wind kam, der fuhr in alle Bäume und wühlte im jungen Laub und wendete alle Blätter, daß ihre helle Unterseite schamlos hersah. Die Fische sprangen aus dem Wasser und schnappten nach den Mücken, die hatten Feinde nun oben und unten, und vielleicht sprangen die Geschuppten vor Lust so hoch, daß man ihre silbergekrümmten, tropfenden Leiber sah, oder auch sie sprangen vor Angst, weil die allgemeine Bangigkeit sie erfaßt hatte, mit der die Schwüle jedem das Herz bedrückte.
   Und die Dunkelheit nahm immer noch zu. Von seinem Fenster aus sah Ludwig zur Linken den Fluß, der grün sonst war, aber jetzt grau war wie geschmolzenes Blei, und sah die Ziegeldächer der Stadt vor sich liegen, und die Häuser duckten sich, schien ihm, und die Büsche in den kleinen Vorgärten waren, vom Wind gepeitscht, in wilder Bewegung. Klappernd schloß die Magd im Nebenhaus die Fenster, und ihr rotes Kopftuch leuchtete mohnfeurig in dem Schwarzblau, das die Luft fast körperlich füllte. Als jetzt ein großer, verästelter Blitz aufzuckte und sein schwefliges Licht in Wellen zitternd über den Himmel lief, schlug die Magd erschrocken das Kreuz und verschwand im Innern des Hauses, auf der Flucht vor dem Donner, der sie dort nur gedämpft erreichen konnte.
   Dann brach endlich der Regen los, mit voller Gewalt auf einmal, in silbernen Bächen niederstürzend, herabrauschend gleich Wasserfällen, deren Weg man hoch hinauf sehen kann, der Donner schallte darein, und auf dem Fluß, wenn Ludwig jetzt hinsah, waren die Schwalben verschwunden, aber er war bedeckt über und über mit kleinen, weißen, unermüdlich steigenden Wassersäulen.
   Das währte so, mit Tosen und Strudeln und Donnerschlägen, und Ludwig blieb am offenen Fenster, und die Kühle hauchte in sein Zimmer, und mancher Blitz erhellte es und verwehte Tropfen netzten sein Gesicht. Drüben der Berghang, als das Gewitter nachließ, erhielt das erste Lieht, dunstig schimmerte ein Viereck zarten, blassen Glanzes her, da kam schon wieder Sonne hin, schon fiel ein heller Streifen auch auf den Fluß, und als Ludwig zum Himmel aufsah, wirbelten droben die Wolken in kreisender Bewegung und zogen nach Süden ab.
   Es litt ihn nicht mehr im Zimmer, er nahm den Hut und ging. Es hatte aufgehört zu regnen, das Straßenpflaster glänzte, Wasserpfützen hatten sich angesammelt und spiegelten das Blau des Himmels, das war von so funkelnder Art, daß es den Blick blendete. In den Anlagen knirschte der nasse, bräunliche Kies unter seinen Füßen, das Gras war von einem metallischen Grün, als wäre Gold darein gemischt, Tropfen hingen an den Zweigen der Sträucher, glänzend in silbernen Schnüren, und eine Amsel, mit nassem Gefieder, hackte unter einem verkrüppelten Holunderbusch aufeinen roten Regenwurm los, der sich zu seinem Verderben aus dem feuchten Grund empor gewühlt hatte.
   Vor dem Tor der Michaelskirche stand, wie im Mai allabendlich zu dieser Stunde, eine kleine Gruppe von Leuten, die zu spät gekommen waren, oder von solchen, die gern und mit Willen unter den Büschen, die hier wuchsen, der Maiandacht beiwohnten und denen es genügte, durch das offne Tor die Kerzen flimmern zu sehen, und die Gebete und Gesänge zu hören, auch mitzubeten und mitzusingen, wie sie es halten wollten. Ludwig gesellte sich der Gruppe, wie er es gestern und vorgestern getan hatte, und mit einem raschen Blick hatte er erspäht, daß auch die schöne Fremde im grünen Kleid wieder da war.
   Es wurde ihm eng um die Brust und das Blut schoß ihm verräterisch ins Gesicht, und obwohl sie, die das bewirkt hatte, vor ihm stand und also nicht merken konnte, wie ihm geworden war, hielt er es für geboten, gleichgültig und unaufmerksam zu tun, gelangweilt zum Himmel aufzusehen, der in reiner Bläue jetzt ganz und gar wieder strahlte, kein Wölkchen trübte sie mehr, und es trieb ihn, die kleinen Häuser auf der anderen Seite des Michaelsplatzes angestrengt zu betrachten, als habe er sie mit den niedrigen Türen und den grüngestrichenen Läden und den Blumenkästen vor den Fenstern zum erstenmal vor den Augen. Jetzt rumpelte ein schweres Brauereifuhrwerk um die Ecke, mit zwei mächtigen Schimmeln bespannt, und er freute sich über die Schimmel, denn die bedeuteten Glück, und das Räderknarren mischte sich in die frommen Klänge, die aus der Kirche drangen.
   Der Fliederbusch, unter dem Ludwig stand, ein Fliederbäumchen war es, denn es breitete seine Krone über einen einzigen schmalen Stamm, trug nicht sehr viele, aber große und üppige Blütentrauben, die noch feucht waren von dem Gewitterregen, der sie erquickt hatte. Die jungen Mädchen, die sich eingefunden hatten, große Schleifen im Haar und in hellen Kleidern, und die jungen Männer, die gingen gern zur Maiandacht, weil das eine willkommene Begründung gab, abends noch einmal das Haus zu verlassen, statt hinter den Schulaufgaben sitzen zu bleiben; und dem frommen Wunsch, die Andacht zu besuchen, konnten sich auch die strengsten Eltern nicht leicht verschließen. Die fröhliche Gesellschaft benahm sich zuweilen nicht recht so, wie es der Ort und die Stunde erforderten, und manchmal kicherte eins der Mädchen mit hochrotem Kopf, weil der Ritter, der hinter ihm stand, es wie unbeabsichtigt angestoßen hatte, oder zweie begannen ein kurzes Schwatzen, und dann zischten die gesetzten älteren Leute, die es mit dem Beten ernst nahmen, und sahen sich unwillig und verwarnend um, zur Ordnung und frommen Sammlung mahnend.
   Eben trat neben Ludwig ein weißbärtiger, alter Mann, der bekreuzigte sich auf die einfältige Weise, die aus der Übung gekommen ist, wie es fast nur die Kinder noch tun, er zeichnete sich langsam und sorgfältig und mit schwerem Finger ein kleines Kreuz auf die Stirn, auf den Mund, auf die Brust, und dann sprach er ein kurzes Gebet, unhörbar zwar, aber seine Lippen bewegten sich, und sein langer, weißer Bart bewegte sich mit. Dann ging er wieder weiter, der es wie ein Wanderer gemacht hatte, der auf seinem Weg eine Quelle rauschen hörte, herzutrat, einen stärkenden Trunk nahm, und seinem Ziele wieder zustrebt, während in seinem Rücken die Quelle unermüdlich weitersprudelt.
   Von der Fremden im hellgrünen Kleid sah Ludwig nur den Nacken und den bräunlichen Haaransatz und das dunkelgrüne Hütchen. Sie stand in gesammelter Haltung, sah nicht ein einziges Mal sich um und schien aufmerksam in die Kirche hineinzulauschen. »Du elfenbeinerner Turm!« klang es heraus, und »Bitt für uns! « antwortete es schallend. »Du Morgenstern!« sprach drinnen der Priester, und »Bitt für uns!« fielen die Betenden rauschend ein. Und weiter ging es mit den süßen und fremdartig üppigen Anrufungen, und auf dem Altar drinnen stand, Ludwig hatte es oft gesehen, von Kerzen umfunkelt, wie in einer Goldwolke, die blumengeschmückte Maienkönigin Maria, die Gottesmutter, und blickte mit frommem Lächeln auf die Flehenden hinab. Nun schwang sich ein Lied auf, ein Orgelschwall tönte darein, das war das Zeichen, daß die Andacht zu Ende ging. Schon bröckelten vom Rand der Gruppe die ersten ab, die es eilig hatten, wegzukommen, die jungen Mädchen mit heißen Gesichtern, und die Schüler setzten ihre bunten Mützen auf, feurigen Auges.
   Als sie an ihm vorbeiging, sah die schöne, grüngewandete Fremde mit einem gelassenen Blick Ludwig an, und ob ein kleines Lächeln dabei ihre Mundwinkel hob, dessen war er nicht sicher, und er folgte ihr, wie er ihr schon an den letzten Abenden gefolgt war, und sie tat, als merke sie es nicht. Sie hatte nicht weit zu gehen, dann war sie daheim. Sie öffnete die niedere Eisenpforte, durchschritt eilig den schmalen, gepflasterten Gang des Vorgärtchens, und verschwand im Haus, ohne daß sie sich noch einmal umgeblickt hätte. Daß sie hier zu Besuch war, bei Verwandten, in der Wohnung zur ebenen Erde, hatte Ludwig schon ausgekundschaftet, und das Fenster, das offen stand, war das Fenster ihres Zimmers, und er glaubte auch jetzt zu sehen, daß im verschwimmenden Dämmer des Hintergrundes eine Gestalt sich bewege, die der ihren glich.
   Aber bald rührte sich nichts mehr in der Stube, und nach kurzem Zögern, und einem letzten, langen Blick auf das kleine Haus, ging Ludwig durch den warmen Maiabend heim. Auf dem Tisch hatte ihm seine Zimmerwirtin das kalte Abendessen bereitgestellt, das er rasch verzehrte. Ein paar Schulhefte lagen auf dem Pult, die französische Hausaufgabe war noch zu machen, seufzend dachte er daran. Aber der Abend war ja noch lang, tröstete er sich, das hat noch Zeit, redete er sich ein, und weil er keinerlei Lust verspürte, sich jetzt und sofort mit den fremden Worten herumzuschlagen und weil der Anblick der Hefte ihn ärgerte, trat er zum Fenster, lehnte sich mit den Armen breit aufs Fensterbrett und sah in den Abend hinaus. Drüben überm Berg war der Mond aufgegangen, der im Zunehmen war, und in einigen Tagen seine volle Größe erreicht haben würde. Der Fluß blitzte unruhig herauf, und ein leiser Windhauch rührte sich in den Bäumen.
   Ludwigs Gedanken waren schon längst wieder bei der schönen Unbekannten. Sie saß jetzt wohl am Tisch, und überm Tisch brannte die Lampe und warf einen runden, gelben, warmen Schein auf die Tischplatte. Er ertappte sich dabei, daß er den runden, traulichen Schein von einer altväterischen Petroleumlampe kommen ließ, obwohl er doch wußte, daß längst in allen Häusern der Stadt das elektrische Licht eingerichtet war. Aber er verharrte trotzig bei der Vorstellung der Hängelampe. Vielleicht las sie in einem Buch, träumte er weiter, vielleicht machte sie Handarbeiten, über einen runden Rahmen gebückt, wie er oft so seine Schwester gesehen hatte.
   Drüben, jenseits des Flusses, bellte ein Hund, und ein anderer gab ihm Antwort, zweimal, dreimal, und verstummten dann beide. Der Mond schien in das Zimmer jetzt, so hoch war er gestiegen, daß er das vermochte. Ludwig drehte das Licht ab und nun füllte ein gelber zauberhafter Schein den Raum. Die schöne Unbekannte! dachte er, und jetzt, im Mondschein, traute er es sich einzugestehen, daß er sie liebe. »Ich liebe sie«, sprach er vor sich hin, und seine Lippen bebten, als er diese Worte sagte, »ja, ich liebe sie«, sprach er noch einmal, und eine Wallung von Stolz und Zärtlichkeit hob ihm die Brust.
   Ich liebe sie, träumte er im Monde weiter, und er würde es ihr nächstens auch sagen, bei der ersten Gelegenheit, die sich schon finden würde. Und einen Heiratsantrag wollte er ihr machen, das war auf einmal sein feuriger Entschluß. »Heiratsantrag«, sagte er laut, und erschrak nun doch über das feierliche und große Wort, das ihm da auf die Lippen gekommen war, und er ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. Zum Heiraten war er ja wohl noch zu jung, erwog er mit gefurchter Stirn, aber verloben doch wenigstens konnte er sich mit ihr, ihr ein für die Zukunft bindendes Versprechen geben, das konnte er, bedachte er aufatmend, dafür war er alt genug mit seinen siebzehn Jahren.
   Ja, dafür war er alt genug, und, überlegte er, wenn er nicht auf der Schule blieb bis zur obersten Klasse, wie er das mußte, wenn er Arzt werden wollte, wie er es bisher vorgehabt hatte, wenn er schon nach Schluß der sechsten Klasse, die er jetzt besuchte, abging von der Schule, wie das auch manche der Kameraden machten, um Bankbeamte zu werden, oder Kaufleute oder Techniker, wenn er das tat, dann war es gar nicht mehr so weit hin, bis er ein freier Mann war, der unabhängig im Leben stand, ein Mann, der Geld verdiente, dann konnte er wohl schon in drei Jahren, in vier Jahren eine Frau heimführen. Und so lang würde das schöne Mädchen schon warten, das fühlte er, wenn es ihn nur ein wenig liebte, und das tat es, daran wollte er nicht zweifeln, und bereit war zu einem bescheidenen Leben an seiner Seite und zu einem großen Glück.
   Ihm war heiß geworden bei dem Gedanken, so bald schon eine schöne Frau zu gewinnen und der Schule den Rücken kehren zu können, und sein Vater war vielleicht froh, redete er sich ein, der auf dem Land als Lehrer saß, wenn er das teure Schulgeld für ihn sparte.
   Im gelben Mondlicht schwamm das Zimmer, der steifbeinige Stuhl warf einen tiefschwarzen, scharf gekanteten Schatten und das weiße Bett in der Ecke, das schon aufgeschlagen war, dämmerte verlockend und schwül her. So ein weißes Bett stand auch im Zimmer der schönen Fremden und vielleicht hatte sie sich eben jetzt angeschickt, sich zu entkleiden, um sich schlafen zu legen, und hatte, von der Gewalt verführt, die durch das Fenster fordernd drängte, das Licht gelöscht, und der Mond schien jetzt in ihr Zimmer, wie er in seins schien, und sie war im weißen Leibchen und im weißen Unterrock ans Fenster getreten und schaute wie er in die Nacht hinaus und zum Mond hinauf. Und wie er sie so vor sich sah, im weißen, knappen Mieder, wie sie stand, und keusch lagen ihre Schultern bloß, jagte ihm, beklemmend und beseligend, eine Glut durch den Leib, und sein Herz zuckte, daß er danach griff, als müsse er das hüpfende halten, und eine Röte stieg ihm im Gesicht auf und ab, heiß und wallend, und er wäre fast getaumelt, und die Knie wurden ihm schwer und schwach zugleich, und er legte den Kopf auf die Arme, und begriff nicht, warum er weinte, obwohl er doch so glücklich war, warum ihn ein mächtiges Schluchzen stieß und schüttelte, daß er zu vergehen vermeinte.
   Als er am andern Abend, der Tag war schön und wolkenlos gewesen, und auch in der Schule war alles gut gegangen, selbst die französische Stunde war ohne ihn zu gefährden verstrichen, als Ludwig am andern Abend wieder vor der Michaelskirche stand, bei den Büschen, war die schöne Fremde noch nicht da, und auch als die Andacht ihren Anfang genommen hatte, fehlte sie noch. fünf Minuten verstrichen, zehn Minuten, sie kam nicht, und er spähte immer wieder nach ihr aus, quälend vergeblich. Und als ihn eben ein kalter Schauer überrann bei dem Gedanken, daß sie vielleicht abgereist sei und er sie nie mehr im Leben wiedersehen würde, als ihn das große Grauen der Welt faßte, daß so etwas überhaupt möglich sein sollte, daß ein unbegreiflich waltendes Schicksal es teilnahmslos zuließe, daß etwas, das im ersten Beginnen war, noch gar nicht begonnen hatte, schon wieder sollte beendet sein, da eben, als er sich aufgeregt zum hundertstenmal umblickte, sah er sie über den Platz herkommen, in ihrem grünen Kleid, mit ihrem freien und leicht wiegenden Schritt, und neben ihr ging, und ihm verschlug es den Atem, und seine Haut überlief ein eisiges, prickelndes Stechen vor Schrecken und Scham und Verlegenheit, und neben ihr schritt ein junger Mann in einem schön geschnittenen, grauen Anzug, einen flachen Strohhut auf dem Kopf, und sprach vertraulich auf sie ein, und ihr Gesicht glänzte, schien ihm, wie er es noch nie hatte glänzen sehen.
   Nun waren die beiden dicht hinter ihm, er hörte ihr Kleid rauschen, dann schoben sie sich an ihm vorbei, weiter nach vorn, und sie blickte ihn dabei so gleichgültig an, als habe sie ihn im Leben noch nicht gesehen, und dann stand sie auf ihrem gewöhnlichen Platz unter dem kleinen Fliederbaum, und eine große blaue Blütentraube hing so, daß sie ihr fast die Stirn streifte. Ludwig flimmerte es vor den Augen. Da war sie vor ihm, die Abtrünnige, die Treulose, und während die frommen Gebete aus der Kirche schollen, an- und abschwellend, stand sie neben dem fröhlichen Gutgekleideten, dem Mann im grauen Anzug, und sie standen so eng, daß ihre Schultern sich berührten, absichtlich standen sie so eng, schien es ihm, und jetzt eben drehte sie dem siegreichen Verführer, der größer war als sie, das Gesicht zu und lächelte zu ihm auf. Lange währte das, endlos lang, schamlos lang, und Ludwig umklammerte den schmalen Stamm des Bäumchens und ruckte leise daran, daß die Blütentraube über ihrer Stirn sich senkte, ihr einen kleinen, schwankenden Schlag ins Gesicht versetzte, und dann wieder hochstieg. Sie achtete des Schlags nicht, meinte wohl, der Wind habe die Blüte bewegt, aber als Ludwig ihr jetzt zum zweiten- und drittenmal, am Stamm rüttelnd, die Blüte ins Gesicht peitschte, er war wie rasend vor Wut, und fühlte nur: sie gehört gezüchtigt, ausgepeitscht gehört sie, hier vor allem Volk gehört sie bestraft, als die Schläge sich wiederholten, konnte sie nicht mehr an den Wind glauben und sah sich um mit einem flammenden Blick, und wußte gleich, daß er der Täter war, sah wieder nach vorn, durch die offne Tür in die Kirche hinein und griff nach oben und riß rasch und gewandt die Blüte ab und warf sie zu Boden. Ludwig konnte, als er nach unten spähte, die Blüte auf der Erde liegen sehen, und sehen, wie sie zornig mit dem Fuß drauftrat und fest drauf stehen blieb.
   Endlich war die Andacht, wie lang dauerte sie heute, zu Ende, und das verliebte Paar, und daß es das war, daran zweifelte Ludwig nun nicht mehr im geringsten, mußte wieder an ihm vorbei. Der glückliche Nebenbuhler hatte nichts bemerkt von dem Vorfall, schien es, er sah Ludwig nicht einmal an, sie hatte es nicht einmal der Mühe wert gehalten, ihm etwas davon zu sagen, so wenig galt er ihr, so wenig kam er in Betracht. Aus zusammengekniffenen Augen streifte die Fremde Ludwig mit einem hochmütigen und verächtlichen Blick und legte ihre Hand auf den Arm ihres Begleiters und lachte silbern auf, und dann gingen die Strahlenden ihres Wegs. Vor Ludwig lag im Sand die jämmerlich zertretene Blüte, zerquetscht und besudelt und elend, ein Sinnbild seiner selbst und seiner schmählich verratenen Liebe.
   Den Rucksack, der ihm schon bei manchem Ausflug gedient hatte, zusammengefaltet unterm Arm, stand Ludwig unter der Haustüre. Es war nach elf Uhr abends, als er sich auf den Weg machte. Die Straßen waren leer, es hallte sein Schritt auf dem Pflaster. Er hielt sich im Schatten der Häuser, der ihn verbergen sollte, denn nach den Vorschriften der Schule durfte er um diese Stunde nicht mehr außer Haus angetroffen werden, ohne schwere Strafe fürchten zu müssen. Den Rockkragen hatte er hochgeschlagen und trug einen alten, grünen Jägerhut auf dem Kopf, der seinem Zimmerwirt gehörte und den er im Flur verstohlen vom Haken genommen hatte. Der Hut war ihm viel zu groß und saß ihm tief in den Augen, und so konnte er sich davor gesichert fühlen, von einem Lehrer, der ihm etwa begegnen mochte, erkannt zu werden. Der Mond stand am Himmel, aber noch stand er hinterm Turm der Michaelskirche, und so lag der Platz vor der Kirche und die kleine Sträuchergruppe vorm Kirchentor im tiefen Schatten. Dunkel glühten die schweren Dolden des Fliederbäumchens. Unverweilt begann der Zornige sein Werk. Blütentraube nach Blütentraube riß er ab und warf sie auf den Boden zu einem Haufen zusammen. Manche Zweige leisteten zähen Widerstand und gaben die Blüte nicht her, ohne einen Streifen Haut zu opfern und weißliche Wunden dann zu zeigen. Um die Blüten zu erreichen, die an der Spitze des Bäumchens saßen; mußte er den zierlichen Stamm herabbiegen, und die Blüte zu alleroberst, die wie ein Wedel auf dem Turban eines Türkenpaschas schwankte, entzog sich seinem Griff immer wieder, bis er sie doch zu fassen bekam und mit einem Stöhnen der Lust und der befriedigten Rachsucht abriß. Der Platz lag leer und wie ausgestorben, während er so sich mühte. Jetzt schlug es oben vom Turm der Kirche zwölf Uhr, zwölf hallende Schläge, und er unterbrach seinen Eifer und lauschte den Schlägen und zählte mit, bis endlich der zwölfte Schlag dröhnend verklungen war. Er riß dann die letzten Blüten noch ab, die sich im dunklen Laub verborgen gehalten bis jetzt, durch listiges Verstecken seiner Hand zu entkommen getrachtet hatten, er aber wollte ganze Arbeit tun und ruhte nicht, bis der Baum blütenlos stand. Die abgerissenen Trauben dufteten stark und süß. Er füllte sie in den Rucksack, stopfte und preßte und schob, bis sie alle drin waren, und schulterte den Sack dann, warf einen zufriedenen Blick noch auf den geplünderten Baum und machte sich fort.
   Es war nicht weit zu dem Hause der schönen Ungetreuen. Vor einem Mann, der ihm begegnet war, summend und singend an ihm vorbei auf der anderen Straßenseite, strömend seliger Laune, er kam von einem späten Trunk wohl, hatte Ludwig sich in das Dunkel einer Toreinfahrt gedrückt und war mit dem Rücken in den Blütensack wie in ein Polster weich und nachgiebig gesunken. Dann war er weitergegangen, und da lag nun ihr Haus im hellen Mondschein. Ihr Fenster stand offen und ein weißer Vorhang war nur halb zugezogen. Er klinkte die kleine eiserne Vorgartentür auf, sie war nicht versperrt, das hatte er erwartet, niemand verriegelte die Gartentüren, es genügte, wenn die Haustür verschlossen war. Er hob den Sack hoch und schüttelte seinen Inhalt auf den Boden, verstreute die Blüten sorgsam, daß der schmale gepflasterte Gang, der von der Eisentür zur Haustür führte, mit den großen, bläulich schimmernden Trauben ganz bedeckt war. Morgen, wenn sie das Haus verließ, mit ihrem wiegenden Schritt, sollte sie wieder die unschuldigen Blüten zertreten müssen, grausam, wie sie heute an der Blüte vor der Kirche getan hatte. Dann schlich er sich vorsichtig an das offene Fenster heran und lauschte. Nichts war zu hören, kein Atemzug oder das Geräusch eines Schlafenden, der sich im Bett umdreht. Ein großer Schmerz ergriff ihn bei dem Gedanken an die schöne Schläferin, die mit gelösten Gliedern auf ihrem Lager ruhte, schlummerheiß, eine bräunliche Locke geringelt auf den weißen Kissen. Er hob eine Blüte vom Boden auf und warf sie durchs Fenster in das Zimmer. Die mochte sie morgen beim Erwachen vor ihrem Bett finden.
   Er nahm den Rucksack unter den Arm, niemand hatte ihn beobachtet, der Mond strahlte gelb vom Himmel und in seinem Licht lag der mit Blumen bestreute Pfad. Die Eisenpforte klinkte er leise wieder ein, und ging nach Haus, und das letzte Stück lief er. Unbemerkt kam er in sein Zimmer und zog sich aus und ging zu Bett, und er lag noch kaum lang ausgestreckt, so spürte er, daß er wie von einer Last befreit war, und daß er fest und tief und sanft schlafen würde, bis in den hellen Morgen, so erlöst war ihm zumut, wie nach einer guten Tat.
   Das gerupfte Fliederbäumchen sah nicht einmal so schlimm aus, wie Ludwig es gefürchtet hatte, als er klopfenden Herzens am andern Tag zur Maiandacht ging. Es waren ihm ja nur die Blüten genommen worden, es trug ja noch sein volles, flatterndes Laub, und es schien ihm, daß die meisten der Beter, die sich vorm Tor eingefunden nicht einmal merkten, was die vergangene Nacht geschehen war. Aber dann schüttelte doch mancher mißbilligend den Kopf über den frechen Blumenräuber, dessen Tat doppelt abscheulich war, weil der geplünderte Baum vor der Kirche stand, zu ihr gehörig, ein Stück ihrer Einrichtung fast, und geheiligt wie sie.
   Und dann sah er sie daherkommen, im grünen Kleid mit ihrem ausgreifenden, ein wenig wiegenden Schritt, allein wieder, er stellte es tief atmend fest. Sie beachtete ihn nicht, trat vor ihn auf ihren gewohnten Platz unter dem Fliederbaum. Sie kam neben einer alten Frau zu stehen, deren Scheitel weiß leuchtete. Die Frau neigte sich zu ihr, flüsterte ihr etwas ins Ohr, und die schöne Fremde warf einen raschen Blick in das Laubwerk hinauf, und dann nickte sie wie zustimmend und ein wenig zerstreut und sah wieder geradeaus, in die Kirche hinein, als habe ihr das keinen Eindruck gemacht, was die alte Frau ihr gesagt hatte, als kümmere sie das wenig, was böse Hände da verbrochen hatten, als lausche sie fromm und andächtig und hingegeben dem Lobgesang, der aus der Kirche süß herausdrang in die Maienluft. Aber das Rot, das über ihren Nacken lief, ein tiefes, dunkles Rot, das wie eine brennende Woge aufflammte, verriet Ludwig, und das war ihm eine tiefe und strahlende Genugtuung, daß sie jetzt wußte, wer der Fliederräuber war, und daß sie jetzt auch wußte, wenn sie es auch schon geahnt haben mochte, wer den Fliederüberfluß vor ihre Tür geschüttet hatte heute Nacht und die Blüte in ihr Zimmer geworfen. Das Rot verlief sich dann wieder, weiß glänzte ihr Nacken, bräunlich schimmerte ihr Haaransatz, und sie sah sich nicht ein einziges Mal nach ihm um, stand wie ins Gebet versenkt.
   Die Beter gingen dann und sie wandte sich auch, zu gehen, und griff in das Laub des Fliederbäumchens, nahm ein paar Äste zusammen und drückte sie an die Brust und strich zärtlich und wie voll Mitleid darüber hin und ließ sie wieder los, die zurücksprangen und leise schaukelten. Dabei hatte sie Ludwig, den Kopf ein wenig schüttelnd, wie fragend angesehen.
   Der Rucksack strömte einen leichten Fliederduft aus, als Ludwig ihn aus dem Kasten holte. Es war schon dämmerig, Feierabend war, und alle Läden längst geschlossen, aber in der kleinen Gärtnerei würde man es wohl so genau nicht nehmen. Die Gärtnersfrau verkaufte ihm auch wirklich noch für wenig Geld einen mächtigen Strauß Flieder. Er brachte ihn im Rucksack unter, zum Erstaunen der Frau, aber weil er es nun einmal so haben wollte, half sie ihm dabei, und weil sie sehr sorgsam verfuhren und der Flieder ja geduldig ist und sich krümmt und alles mit sich geschehen läßt, so erlitten die schönen rotbläulichen Trauben keinen merklichen Schaden.
   Dann trug er die leichte Last auf sein Zimmer. In der Schublade hatte er immer einen Schnurvorrat, weil er alle vierzehn Tage seine Wäsche in einer Pappschachtel verpackte und nach Hause schickte, in die mütterliche Obhut, zur Säuberung und Instandsetzung. Die Schnur zerschnitt er in handlange Stücke. Dann schüttete er den Flieder auf den Tisch und knüpfte an die Stiele der Blüten die Schnüre. Aber es waren viele Blüten, und die Schnüre reichten nicht, und so entnahm er seinen neuen, braunen Sonntagsschuhen die Bänder und zerschnitt sie, und dann war es so weit, daß jede Blüte unten einen Faden baumeln hatte. Es war eine heimliche und schöne Arbeit, wie man sie zur Weihnachtszeit tut, an Glaskugeln und Äpfeln. Die Blüten packte er dann wieder in den Rucksack.
   Gegen Mitternacht, den Jägerhut seines Zimmerwirts auf dem Kopf, den Rucksack geschultert, machte sich Ludwig auf den Weg zur Michaelskirche. Es war Vollmond jetzt geworden, gelb glänzte die mächtige Scheibe am Himmel. Am Fliederbäumchen begann er seine Arbeit, band Blüte nach Blüte an die Zweige, und das war mühevoller, als die Nacht vorher das Abrupfen gewesen war, und es erforderte mehr Zeit und Geschicklichkeit, aber es ging gut, und niemand störte ihn bei seinem sonderbaren Treiben. Er unterbrach seine Tätigkeit nicht einmal, als drüben über den Platz ein Paar Arm in Arm ging, das ihm aber keinen Blick schenkte, mit sich selber zu tun hatte, ihn auch schwerlich hätte entdecken können, weil ihn das Strauchzeug barg. Dann war er fertig, und musterte sein Werk, und fand es gut.
   Er war nicht sehr aufmerksam am andern Tag beim Unterricht, er mußte immer daran denken, ob man wohl seinen geschmückten Fliederbaum in Ruhe gelassen hatte, ob nicht der Kirchendiener vielleicht, oder ein Schutzmann, oder irgendein übereifriger Spaziergänger die Blüten wieder abgerissen hatte. Er hätte ja in der Mittagspause nachsehen können, aber er nahm sich zusammen und tat es nicht. Und wahrhaftig, zur Stunde der Maiandacht, da hingen sie noch an dem Bäumchen, und man mußte schon genau hinsehen, um zu erkennen, daß sie nur angebunden waren, so tüchtig hatte er seine Sache gemacht. Und es ist ja auch der Menschen Art nicht, so scharf zu spähen, und wenn etwas nur halbwegs sitzt, so nehmen sie es für gelungen.
   Das geliebte Mädchen kam, die schöne Unbekannte, in einem weißen Kleid, und wieder allein, wie früher auch immer, und er zweifelte nicht mehr, daß er ihr Unrecht getan hatte mit seinem Verdacht, daß der Graugekleidete ihr etwas bedeute. Ludwig duckte sich, um nicht gleich von ihr gesehen zu werden. Sie stellte sich an ihren gewohnten Platz, an der Mauer, unter dem Bäumchen, und sah auf, und sah, daß der Baum seine Blüten wieder bekommen hatte und schüttelte den Kopf und sah sich lachend nach ihm um, der ihr rot und verlegen und glücklich ein Lächeln zurückgab. Nie, so war es ihm, hatten die Sängerknaben so schön gesungen, so himmlisch schön. »Maria zu lieben ist all mein Begehr«, sangen sie, und das Wort: lieben! das klang ihm so süß, und er sang mit, und es war wohl sündhaft, woran er dachte, nicht fromm an Maria dachte er, an seine schöne Geliebte vielmehr, die weißgekleidete.
   Sie holte sich eine der Blüten vom Baum, als die Andacht zu Ende war, und das ging nicht so leicht, sah er, fest geknüpft hatte er, aber es gelang ihr, und die Blüte trug sie in der Hand und kam auf ihn zu. Ihm war, sie wolle ihn ansprechen, und er zitterte vor Verwirrung, aber da schob sich ein Rudel lärmender Kinder dazwischen, der sie abdrängte, und da nickte sie ihm bloß zu, nickte ihm bloß zu mit ihrem schönen Gesicht, und er sah, daß sie viel älter war als er, Ende der Zwanzig wohl schon, eine ganz erwachsene Frau, nickte ihm bloß zu ohne etwas zu sagen, und so kam es, daß er nie den Klang ihrer Stimme hören sollte.
   Am andern Abend erschien sie nicht zur Andacht. Unruhig stand Ludwig auf seinem Platz und spähte und spähte, aber sie kam nicht. Ein Gang zur Schneiderin hat sie abgehalten, redete er sich ein, oder ein Besuch, den sie nicht losbrachte, des zudringlichen Graugekleideten mußte sie sich vielleicht erwehren, so versuchte er sich zu trösten, oder vielleicht hatte sie Kopfweh und lag im verdunkelten Zimmer, und morgen würde sie wieder da sein, sagte er sich, ganz bestimmt würde sie morgen wieder da sein, aber tief im Herzen saß ihm die würgende Gewißheit, daß er sie gestern abend zum letztenmal gesehen hatte.
   Er ging dann zu ihrem Haus. Das Fenster ihres Zimmers war geschlossen. Er strich um das Haus herum, ließ die Tür nicht aus den Augen, bis ein vielleicht zehnjähriger Bub aus ihr heraustrat, der einen Krug in der Hand trug, das Abendbier zu holen. Er sprach ihn an und fragte ihn aus, und Ja! sagte er, sie sei abgereist, heute morgen, nach M., wo sie wohne, bei ihren Eltern. Ihr Urlaub sei aus, sagte er, den sie hier bei ihnen, ihren Verwandten, verbracht habe, und sie heirate bald, sagte er, im Sommer, und er sei eingeladen zur Hochzeit, ihr Verlobter habe ihn eingeladen dazu, der neulich hier gewesen sei, und er freue sich darauf, und er bekomme einen schwarzen Anzug, sagte er, und er dürfe der Braut die Schleppe tragen in der Kirche, das habe sie ihm versprochen, und das würde ein schönes Fest werden.
   Diese Nacht kam Ludwig erst spät nach Haus. Er war flußaufwärts gerannt, wo sich ein Weidendickicht hinzog, das durchstreifte er kreuz und quer, und die Schläge, die ihm die Ruten ins Gesicht versetzten, empfand er als angenehm. Einmal war er in einen Tümpel geraten, in ein schlammiges Loch, daß ihm das Wasser in die Schuhe lief, und mit knatschenden Schuhen ging er weiter. Auf einem Stein am Ufer saß er lang und sah in das Ziehen des Wassers hinein. Der volle Mond schien und spiegelte sich in der schwärzlich strömenden Flut. Die Nacht rückte vor, der Mond ging seinen langsamen Weg. Überm Fluß drüben lag ein Dorf und jede Viertelstunde hörte er vom Turm die Zeit schlagen. Um Mitternacht beschloß er zu schwimmen. Er entkleidete sich und nackt stand er fröstelnd eine Weile. Dann stieg er ins Wasser. Das war eiskalt und schaurig. Es war nicht sehr tief an dieser Stelle, bis ans Knie ging ihm das Wasser, und er blieb frierend stehen und spürte den Sand unter den Zehen und spürte, wie die Flut an ihm riß und ihn mitzerren wollte. Ein Nachtvogel schrie aus den Uferweiden, daß er sich erschreckt umsah. Wenn er sich vorbeugte, sah er sich im Wasser wieder, sah einen bleichen Leib, durch den ein unablässiges Zittern rann. Da ging er weiter in den Fluß hinaus, mühsam sich stemmend, aber dann verlor sich der Grund, er sank rauschend unter, schwarz strudelte es vor seinen Augen, es sauste und brauste um ihn, und er ließ sich sinken.
   Der Fluß nahm ihn mit, mit stiller Gewalt, mit mächtigen und zärtlichen Armen trug er ihn. Dann stieß etwas an ihn, einmal, zweimal, Bisse waren es, ein neugieriger Fisch hatte nach ihm geschnappt, als sei er schon tot, schon eine weißliche, aufgeschwemmte Wasserleiche, und davor ekelte ihn unsäglich, und die Bisse fürchtete er mehr als den Tod, und er schlug mit Armen und Beinen wild um sich und war wieder an der Oberfläche des Flusses, schnaubend, und sah den Mond über sich und schwamm ans Ufer und zog sich an und ging nach Haus.
   Drei Tage lang ging Ludwig nicht mehr zur Maiandacht. Als er es am vierten wieder tat, nahm er nicht seinen gewöhnlichen Weg, trat durch eine kleine Seitentüre in die Michaelskirche. Er setzte sich, und an das uralte Holz eng und tröstlich geschmiegt, kühl geborgen im Dunkel des schweigenden Gestühls, ließ er den Goldjubel der Andacht vorüberrauschen. Er blieb sitzen, bis die Kirche sich leerte und der Kirchendiener die Kerzen gelöscht hatte. Durch den dämmernden Raum leuchtete der blaue Mantel der Maria her, und die Krone blitzte über ihrem runden, kindlich-mütterlichen Gesicht.
   Als er dann auch ging, durch das große Tor diesmal, blieb er vor dem Fliederbäumchen stehen. Es trug noch die Blüten, aber die waren welk geworden, eingeschrumpft, bräunlich und matt hingen sie.
   Der alte Kirchendiener war eben unter das Tor getreten, über seinem schwarzen, priesterlichen Gewand die blaue Arbeitsschürze, und war wie ein rechtlicher Hausvater, der das Seine betreut. Ob man die welken und abscheulich anzusehenden Blüten nicht abschneiden solle, fragte Ludwig, und deutete auf den Baum, und seine Stimme zitterte. Der Alte sah ihn ruhig an und betrachtete den Baum dann, und lächelte, und sagte gelassen: »Was die törichten Buben nicht alles treiben!« Dann holten sie beide ihre Taschenmesser heraus und zerschnitten die Schnüre, und es lag dann ein Haufen verwelkter Blütentrauben vor ihnen auf dem Boden. Der Alte bückte sich, raffte das Modernde hoch und trug es zu einem Busch, der über und über mit großen, flammend roten Kelchen bedeckt war. Er bog den Busch auseinander und stopfte die welken Blüten hinein, und der Busch schloß sich wieder, blühend und jung stand er, und wucherte und schwoll und prangte, und niemand konnte sehen, was zu seinen Füßen lag an Verwesendem, aus dem er sich nur neue Kraft holen würde.
 
 
 
 

Kommentar S.494

S.328 Das Fliederbäumchen
Zuerst erschienen in nur ganz leicht abweichender Form in: Das Innere Reich, 1, 1934/35, S.425-438 [Juli 1934]. [E] - Auch in: Heimat. Die deutsche Landschaft in Erzählungen deutscher Dichter, Berlin: Ullstein 1934, 5.357-370, sowie in: Rufendes Land. Dichter der Bayerischen Ostmark, hg. v. Hardy Schmidt, München: Deutscher Volksverlag 1937, S.15o-164. -Diese Fassung und nicht die der Buchausgabe später wieder abgedruckt in: Das Fliederbäumchen. Eine Erzählung, Iserlohn: Holzwarth 1946.
Die Unterschiede betreffen im wesentlichen Tempuswechsel (das Plusquamperfekt in den ersten Abschnitten änderte B. in Präteritum) und Zurücknahme mancher Inversionen. Außerdem:
S.332, Z.28f: die französische Hausaufgabe E: die Geometrieaufgabe
S.341, Z.1f: Dabei hatte sie Ludwig, den Kopf ein wenig schüttelnd E: Dabei hatte sie Ludwig, aus leicht zusammengekniffenen und wohl ein wenig kurzsichtigen Augen
S.342, Z.23-26 Kleid, und wieder allein [...] ihr etwas bedeute. E: Kleid diesmal, das sehr eng anliegend war, in dem ihre Beine sich abzeichneten bei jedem Schritt, mit ihrem wiegenden Gang kam sie daher.
In einem Brief an Wetzlar vom 14.März 1951 äußerte sich B. zur Rezeption dieser in katholisch-kirchlichem Milieu spielenden Erzählung:

[...] daß das Fliederbäumchen katholisierende Wirkung tat, wundert mich nicht einmal so sehr. Die kleine Erzählung ist ja voll kath. Atmosphäre. Ich werde immer wieder als katholischer Dichter registriert [...].
B. wandte sich entschieden gegen diese Einordnung und verwies auf seinen latenten Atheismus (vgl. Komm. in Bd.I), den er allerdings ironisch pointierte (»Ich heidnischer Salzburger Nockerln Katholik!« An Wetzlar, 20.5.1953).
Der Publikationsort der Erzählung in der Anthologie Heimat stellte B.s Text in einen anderen Zusammenhang (vgl. auch den Komm. in Bd.l und II). Hatte Albert Soergel bereits 1929 (Kristall der Zeit. Eine Auslese aus der deutschen Lyrik der letzten fünfzig Jahre, Leipzig/Zürich: Grethlein 1929) eine nach Landschaften, nach »Stammmes- und Blutheimat« der Autoren (S.XIII) gegliederte Anthologie neuerer Lyrik vorgelegt, so war Heimat die erste breit angelegte Prosaanthologie, die den Anregungen der nach stammesgeschichtlichen Ordnungskriterien geschriebenen Literaturgeschichte Josef Nadlers folgte. Allerdings war hier, wie auch bei Soergel, die Zusammenstellung noch keineswegs ideologisch-völkisch überhöht, wie bei den zahlreichen späteren, bereits den Prämissen der NSLiteraturpolitik gehorchenden Anthologien; die Autorenliste reicht von Manfred Hausmann und Hans Leip über Hans Fallada, Arnold Ulitz und Wilhelm Schmidtbonn bis zu Anton Betzner, Ernst Penzoldt und Norbert Jacques. -
In der nicht gezeichneten Vorrede heißt es (S.5), es
werden auch nur die Dichter, die eine Heimat haben, ihre Landschaft ganz erfassen und über die Geheimnisse ihres Wesens und ihres Wachsens wirklich berichten können. Denn sie hören mit dem inneren Ohr die Musik der verwandten Stimmen; sie wissen, weshalb das Schicksal den der Heimat eingeborenen Menschen in ein Glück oder in eine Verdammnis stieß, die der Gast nie erdulden, vielleicht sogar nicht einmal begreifen kann. In der geheimnisvollen und beglückenden Wechselbeziehung zwischen einer Landschaft und ihren Kindern entwickelt sich das Gesetz der Formung von der Heimat her. Aus ihr fließen die Lebenskräfte, ein Schicksal zu tragen oder es sogar zu meistern.