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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Band 3-2  Seite 355
Kommentar Seite 497

Aus: »Das gerettete Bild«


Die Totenfeier

Der Tisch summte, der Tisch brummte, man war schon ziemlich erregt heute am Tisch, es war schon gegen Mitternacht, vier, fünf Gläser Wein hatte jeder schon getrunken, doch war es nicht der Wein, der die Trinker lebhaft machte, denn an anderen Abenden, da jeder schon ebensoviel und mehr getrunken hatte, wars oft still und langweilig.
 Am Morgen hatte man in allen Zeitungen lesen können, daß der Schauspieler Doktor Ruscher gestorben sei, ziemlich unerwartet, etwas über fünfzig Jahre erst alt, an einem Herzleiden. Der Schauspieler war oft Gast in der kleinen Weinstube gewesen, in der sie jetzt saßen und lärmend die Gläser schwangen, aber am Tisch hatte er sich nur selten eingefunden, obwohl er sie alle gut kannte, die unermüdlichen Zecher. Er war ein scheuer Mann gewesen, der sich am liebsten allein hielt, nur manchmal spät, wenn in der schon fast leeren Stube nur einer am Stammtisch noch tiefsinnig in sein Glas sah, war es geschehen, daß er sich zu dem still Ausharrenden gesetzt hatte, quer durch die Stube zu ihm gekommen war, das Weinglas in der Hand, mit schlürfendem Gang, den Kopf schief auf den Schultern.
 Und nun war er also tot, und nun sprach man über ihn, und es war wohl so, weil er tot war, zeigte sich der Tisch noch einmal so lebendig. Es war, wenn man so sagen will, als habe sich eine Schar von Krähen um die Beute gesammelt, schnabeleifrig, aber das ist ein wenig freundlicher Vergleich für die gutmütig Geschwätzigen, und auch unziemlich und unehrerbietig gegen den Toten, es genügt zu erzählen, daß heut am Tisch ausschließlich von ihm die Rede war. Sie alle wußten, daß sie morgen nicht zur Beerdigung gehen würden, die Gier, mit der sie von dem Toten sprachen und dabei tranken und sich immer wieder einschenken ließen, war ihre Art, die Leichenfeier zu begehen, und das war nicht einmal eine böse Art, und sie waren keine bösen Leute, die Leute des Tisches.
 Der Doktor Ruscher, davon sprach man und lachte darüber, und immer mehr verdichtete sich die Rauchwolke, die über dem Tisch schwebte, hatte es nicht mit der neuzeitlichen, übertriebenen Reinlichkeit gehalten, das ganz gewiß nicht, wenn sicher auch die übertrieben, die da sagten, er habe sich tagelang überhaupt nicht gewaschen. Er hatte auch nicht viel auf Kleider gegeben, eine Hose mit Bügelfalten hatte noch niemand an ihm gesehen, und er hatte auch nie ein Hehl daraus gemacht, daß er seine Anzüge vom Althändler kaufte, und so waren seine Rockärmel einmal zu lang und einmal zu kurz, aber das kümmerte ihn wenig, und daß er keine Kleiderbürste besaß, war leicht zu erkennen.
 Und auch davon sprach man, und sie tadelten es die Trinker, die selber jeder Lust hold waren, daß er, der Schauspieler, der seinen gelehrten Rang mit Würde trug, ein mächtiger Esser gewesen sei, still genießend, ein Mann fürs Schlaraffenland, der nie weniger als mindestens zweimal am Abend speiste. Er galt als ein guter Darsteller, als eine Besonderheit in kleinen Rollen, und so bezog er ein ansehnliches Gehalt, und davon zahlte er ein Geringes für sein kleines Zimmer, und das Wenige für seine Kleidung, den größten Teil seines Geldes aber gab er in Weinstuben aus. Er, der sonst so scheue, wagte sich in die besten und feinsten der Stadt, es hinderte ihn nicht sein alter, flattriger Anzug und sein zerknüllter, unsauberer Hemdkragen und seine ungewichsten Stiefel, sich an einen blendend weiß gedeckten Tisch zu setzen und ein auserlesenes Mahl einzunehmen, mancher hatte ihn so gesehen. Hatte er sich gelabt, so suchte er ein anderes Weinhaus auf, der ewige Wanderer, und aß dort noch einmal, und manchmal noch in einem dritten. Wenn sein Geld weniger wurde, beschied er sich in seinen Ansprüchen, aß dann in einfachen Kneipen, es gab wohl keine, die er nicht kannte und wäre es die versteckteste gewesen, aber zum mindesten zweimal am Abend zu essen, davon ging er nicht ab.
 Hatte er sich gesättigt und saß er dann allein und verloren in einer Ecke, den Wein vor sich und die Zigarre im Mund, und die übrigen Gäste waren wie nicht da für ihn, so träumte er, träumte dann stundenlang.
 Aber er träumte nicht nur so in rosigen Wolken dahin, wie andere Menschen das tun, er war schon weit fortgeschritten in der Kunst zu träumen, er träumte mit dem Papier vor sich und den Bleistift in der Hand. Er baute Luftschlösser, er entwarf Pläne für ein Haus und überlegte hin und überlegte her, wie das am zweckmäßigsten zu erstellen sei. Es kam natürlich nie ernsthaft in Frage, daß es je fest auf dem Boden stehen würde, und, sollte man meinen, da hätte er nun also können lustig darauf los bauen, aber dem war nicht so. Das Haus sollte nur eine genau bestimmte, nicht allzu hohe Summe kosten, und da hieß es zu rechnen und zu sparen. Er hatte da wunderbare Entwürfe, mit Wendeltreppen, um von ebener Erde zum ersten Stock und von dort auf den Dachgarten zu kommen, denn einen Dachgarten mußte das Haus haben, lieber ein Zimmer weniger und lieber die Mauern weniger dick! Wenn sich dann auf seinem Tisch Kostenvoranschläge von Maurer- und Dachziegelgeschäften häuften, und solche von Glasern und Spenglern, und er hie und da von seinem grünlichen Pfälzer trank und eine neue Möglichkeit fand, ein Fenster wegzulassen und dafür die Diele größer zu machen, so war er in diesen Stunden wohl glücklich zu preisen. Und wer weiß, ob er sich allein träumte in seinem Haus, ob er sich nicht eine schöne Frau herzuträumte, mit ihm zu wohnen in dem Haus, und Kinder von ihr, in der Diele zu spielen? Im Leben sah man ihn nie mit einer Frau, Frauen lieben anderes an Männern, als er zu bieten hatte. Aber wenn er sich schon ein Haus träumte, das nie in Stein und Eisen, mit Dachgarten und Wendeltreppe sich erheben würde, was sollte ihn davon abhalten, sich auch sie herbeizuzaubern, weißhäutig und großäugig, die er nie besessen hatte und nie würde besitzen, und Kinder, die sie ihm schenken sollte, die Traumfrau?
 Einer am Tisch legte die Hände um sein Glas, den Rotwein darin zu wärmen, und verweilte länger dabei, von dem einsiedlerischen und frauenlosen Leben des Schauspielers zu sprechen und auch davon, daß ihm Frauen doch auch nicht ganz gleichgültig gewesen seien, wie er doch manchmal die Kellnerin verliebt angesehen und ihr wohl auch die Hand getätschelt habe, auf eine zugleich verlegene und zutrauliche Weise, daß es fast rührend gewesen sei, es zu beobachten.
 Und der so sprach, der Rotweintrinker, der erzählte auch, daß er einmal, ein einziges Mal nur, mit dem Schauspieler in dessen Zimmer gewesen sei. Er hatte gemeint, der eitle Doktor Ruscher, seinem nächtlichen Begleiter, als sie gemeinsam vom Trunke kamen, noch die zwei Sätze vorlesen zu müssen, die vorgestern im Abendblatt über ihn zu finden gewesen waren, über eine kleine Rolle, die er gespielt und für die er ein großes Lob erhalten hatte. Das war ihm sehr wichtig, auch wenn es so scheinen mochte, das einzig Wichtige im Leben wären ihm der Wein und ein gutes Essen und die Pläne für sein Traumhaus. Auf der Bühne zu stehen, war ihm noch wichtiger, Maske zu machen und zu spielen, vor allem Maske zu machen, und darin war er ein Künstler hohen Grades, und er hatte eine Gabe sich hexenartig zu verzaubern, die erschrecken konnte. Und da waren nun in dem engen Zimmer, es sah nicht sehr sauber und auch nicht sehr ordentlich darin aus, da waren an den Wänden staubbedeckte Hefte aufgeschichtet, turmhohe Stöße von Bücherverzeichnissen. Er hatte eine wilde Lust daran, der sonderbare Mensch, über irgendein Gebiet, das ihm ganz fern lag, über die Entwicklung der Handfeuerwaffen im Abendland zum Beispiel, Aufzeichnungen zu machen, in langen Listen niederzuschreiben, was darüber an Büchern erschienen war, ohne daß er aber die Bücher selber je gelesen hätte, das kam ihm gar nicht in den Sinn, ihm, der außer auf der Bühne, nie mit Flinte und knallendem Pulver zu tun gehabt hatte.
 Die Kellnerin brachte volle Gläser an den Tisch, und einer hob jetzt seins und sagte zu ihr, die schon seit Jahren in der Weinstube bediente: »Dich hat er gern getätschelt, der Doktor Ruscher, und nun ist die Hand kalt, mit der er es getan hat. Fürchtest du dich da nicht?« Und sie fürchtete sich, wahrhaftig, sie verurteilte es, daß man so unpassend spaßen konnte, und vielleicht war ihr, als habe der tote Mann sie eben jetzt mit der grabeskühlen Hand berührt, sie wehrte erregt und fast weinend ab, mit hochrotem Kopf, und ein wenig fürchteten sich nun alle, die so tapfer gewesen waren bis jetzt, die Spötter, und so war die kalte Hand des Toten aufgerichtet über dem betrunkenen Tisch.
 Und wie sein Ende war, sagte einer, und fröstelte, und trank schnell, das Frösteln zu vertreiben, fast wars wie ein Witz des Schicksals. Der Arzt habe ihn in eine Anstalt verwiesen, in der man alles und jegliches Gebresten mit Wasser bekämpft, mit kalten Güssen und eisigen Waschungen und nassen Packungen. Der Kranke habe sich geduldig gefügt, und da sei über seinen gepeinigten Leib in wenigen Tagen so viel Wasser gekommen wie sonst in Jahren nicht. Das vertrug er nicht, das Wasser war von je sein Feind gewesen, und so habe man ihn mit sprudelnden, peitschenden, wirbelnden Fluten aus dem Leben hinweggeschwemmt, den armen, wasserscheuen Mann.
 Schwerer Tabaksqualm wölkte über dem Tisch. Das Gespräch über den Toten hatte eine sonderbare Wirkung auf die Trinkenden. Ihre Reden verwirrten sich, sie trockneten sich die Stirnen und lachten laut und ohne Grund, und als einer zögernd fragte, den das bedrückte, ob man denn recht tue, in dieser Art von dem Verstorbenen zu reden, vertraten die andern alle in trunkener Heftigkeit, sich selbst verteidigend, die Meinung, daß es doch auch, wenn man es, so nehmen wolle, sehr schön sei, daß nun den ganzen Abend die Unterhaltung ging nur über den abgeschiedenen Freund. Was solle man den Tod so ernst nehmen, schrien sie, sterben müßten sie doch alle, warum da nicht lachen über ihn, wie sie es taten, und das Glas dabei heben, und scherzen über ihn, der sie doch alle ereilen würde, der blasse Sensenreiter, früher oder später?
 Und einer stand auf, der ein Bildhauer war, und sagte, er bringe jetzt etwas aus seiner nebenan gelegenen Werkstatt. Er ging und kam gleich darauf wieder, und hatte einen weißen Kopf unter dem Arm, und stellte ihn mitten auf den Tisch zwischen die Weingläser, und es war der Kopf des toten Schauspielers.
 Der Bildhauer tauchte den Finger in seinen Wein und berührte damit die Schläfe des Toten und die Stirn und auch den Mund, er tats mit großer, stiller Feierlichkeit. Dann tauchte jeder den Finger in sein Glas und tats dem Bildhauer nach, und es war auf einmal sehr ruhig geworden, und so ward der Schauspieler gesalbt mit Wein, mit weißem und rotem.
 Und dann saß auch ein Kranz um die Stirn des Toten. Aus den Sträußen, die auf den Tischen standen, hatte einer rasch einen Kranz gewunden, einen dünnen, grünen Blätterkranz, blasse Wiesenblumen dazwischen, und der Bekränzte wars zufrieden, und sah wie zustimmend lächelnd in die Runde.
 Hinaus in die Nacht!« schrie einer, »und den Ruscher nehmen wir mit!« sagte ein anderer, und sie zahlten und brachen auf. Einer trug die Büste, und der Bildhauer, der sich aus seiner Werkstatt nebenan eine Ziehharmonika geholt hatte, setzte sich an die Spitze des kleinen Zuges. Er konnte nicht recht spielen, es waren nur immer die wenigen gleichen Klänge, die er dem Quetschbalg entlockte, und so gingen sie und bogen dann in den großen öffentlichen Garten ein.
 Es war nach Mitternacht, Ende August, der Mond stand groß und gelb am Himmel, und die Wiesen schäumten in seinem Licht. Der Bildhauer an der Spitze schwankte in seltsamen Verrenkungen, beugte sich zurück, wenn er den schwarzen Balg auseinanderzog, und beugte sich vor, wenn er ihn wieder zusammenpreßte. So schritt der kleine Zug dahin, und der die Büste trug, setzte sie sich nun auf den Kopf, hielt sie dort mit beiden Händen fest, hoch glänzte der Schauspieler nun über der trunkenen Schar.
 Auf einem niederen Hügel erhob sich der kleine, runde Säulentempel, zu ihm schritten sie empor. Nun lag der Garten unter ihnen, mit Wiesen und Hecken und Bäumen, und der Bach blitzte herauf, und ungeheuer blau schimmerte das besternte Himmelsgewölbe. Auf den Steintisch, der in der Mitte des -Tempels stand, stellten sie den Kopf. Klagend und langgezogen spielte der Bildhauer, er hatte nun schon eine Art von schwebendem Lied gefunden, mit steigenden und fallenden Tönen, und die Schar der Männer setzte sich zu Füßen der Säulen auf die Steinplatten, und die vorher so lärmend gewesen waren, die Zecher, nun schwiegen sie und lauschten.
 Da kam quer über die Wiese daher eine weiße Gestalt. Sie ging nicht auf dem Weg, sie ging mitten durch das hohe Gras, wunderbar angezogen von dem Klagelied. Es war eine Frau in einem weißen Sommerkleid, und sie stieg jetzt den.Hügel herauf. Sie erblickte den bekränzten Kopf und blieb vor ihm stehen. Sie sah ihn lange und wie gebannt an, den der Mond beschien, dann stellte sie sich auf die Zehen, hob die Hände und legte sie zart auf die kalten Wangen des Schauspielers und küßte ihn auf den Mund. Und während der Bildhauer weiter und unaufhörlich sein eintöniges Lied spielte, stieg sie den Hügel auf der anderen Seite wieder hinab und verschwand in den Büschen, die hinter ihr zusammenschlugen.
 Es folgte ihr aber einer, der verwunderter noch als die andern den zauberhaften Vorgang beobachtet hatte. Die Frau trat jetzt von der Wiese auf einen Weg, hielt sich aber nicht stadtwärts, hielt tiefer in den Garten hinein. Und so wenig sie die Musik im Tempel und die neugierige Schar der Männer gescheut und sich zu dem wunderlichen Kuß ohne Scham hatte hinreißen lassen, so wenig erschrak sie, als der Mann, der hinter ihr war, nun neben sie trat und zu sprechen begann. Sie wendete ihm flüchtig ihr Gesicht zu, sah ihn kaum an, erwiderte ihm nichts, und ließ ihn, der nun auch verstummte, neben sich her gehen. Im Dunkel eines Baumes stand eine Bank, und sie ließ sich auf ihr nieder, und der Mann setzte sich neben sie. Er streckte auf der Lehne den Arm aus, und als die Frau sich bewegte, stieß sie daran, blieb aber so, und ihm war, als ströme und zucke flüssige, spritzende Glut in ihn über. Dann hörte er sie fragen: »Wer war der Mann, den ich küßte?» Er antwortete: »Ein toter Freund.« Sie hob das Gesicht dahin, woher die trauernden Klänge durch die Nacht kamen, und sagte traurig: »Ein Toter also.« Und es klang gar nicht lustig, wie sie dann zu lachen versuchte und mit einer Stimme, die rauh und gebrochen klang, leise sagte: »Es mag manchmal besser sein, einen Mann aus Stein lieb zu haben, als einen lebendigen.« Dann stampfte sie mit dem Fuß auf, daß der Kies bös knirschte, und sie zitterte, als sie sagte: »Der Stein ist wohl treu«, und den überraschten Mann küßte, der still hielt, mit wild schlagendem Herzen, und dann die Arme fest um sie schloß, die an den Toten dachte.
 Wer weiß, was die Frau in die Sommernacht hinausgetrieben hatte, vom einsamen Lager empor vielleicht, das der Mann mied, untreu, oder dem Wein ergeben, oder dem Spiel, vom einsamen Lager empor vielleicht, auf dem sie nur der Mond besucht hatte diese Nacht? Ob sie sich hatte rächen wollen und Gleiches mit Gleichem vergelten, ob sie leichten Blutes war und wahllos freigebig, ob sie diese Stunde später verfluchen würde und zerrütteten Haares
beweinen, oder an sie zurückdenken würde wie an etwas, das ihr wehrlos wie im Traum geschah, ob sie später würde Schuld suchen, da und dort, bei sich nur nicht, wie das Frauenart ist - gleichviel, sie ließ geschehen, was der Unbekannte mit ihr tat, vergehend in den fremden Armen.
 Sie richtete sich wieder auf dann, und sah ihn nicht an, und sagte »Lebe wohl!«, und sagte zornig, als er sie halten wollte, »Bleib!« und als seien in dieser Nacht Wege nicht da, ging sie wieder quer über die Wiese und verschwand im Dunkel, aus dem sie gekommen war.
 Der Mann saß noch auf der Bank und faßte noch nicht, wie das alles hatte sein können, und schauerte in der Erinnerung, und dann erschrak er, daß er sie hatte gehen lassen, und lief ihr nach und fand im Gras ihre Spur, aber die Spur mündete in einen Weg, und der Weg lief zu vielen anderen Wegen, und welchen sie genommen hatte, war nicht herauszufinden, und so stand er mit hängenden Armen still. Daß sie morgen vielleicht wieder zum Tempel käme, versuchte er sich zu trösten, oder übermorgen, und verwirrt machte er sich auf den Heimweg. Er sah noch einmal zu den Gestalten der Freunde empor, die schwarz vor dem Weiß der Säulen standen und saßen, und immer noch scholl die Musik, aber er ging nicht wieder hinauf zu ihnen, ging heim in die große Stadt und in sein kleines Zimmer, und sein Herz glühte vor dem Unbegreiflichen.
 Gegen vier Uhr am Morgen sah ein Schutzmann, den sein Dienstweg durch den Garten führte, mitten durch die Wiesen jemanden zur Stadt gehen, der in der einen Hand etwas Weißes trug, in der andern Hand einen schwarzen Kasten, aber weil der Schutzmann guter Laune war und weil der eine Mann dem Gras doch nicht viel schaden konnte, ließ er ihn unbehelligt das Verbotene tun.
 An dem Tag, der dieser Nacht und diesem Morgen folgte, wurde auf dem Friedhof der Stadt ein schwarzer Sarg in die Erde gesenkt. In dem Sarg liege, sagte der Geistliche, und sagte viel Schönes und Gutes noch, in dem Sarg liege, fünfzig Jahre alt und unverheiratet geblieben, der tote Schauspieler Doktor Ruscher. Aber der, mit dem Kranz des Siegers schief und verwegen geschmückt, lächelte zur selben Stunde, zwischen anderen Köpfen auf einem Wandbrett, gelassen in die Werkstatt hinein, wo der junge Bildhauer, in den Kleidern noch der durchzechten Nacht, auf seinem Ruhebett in der Ecke schlief, zu Füßen des Ruhebetts den in sich zusammengesunkenen schwarzen Quetschbalg.
 Und eben zu dieser Stunde, da die Trauernden versammelt waren um das offene Grab eines Schauspielers, der immer allein gewesen war im Leben, der nur in Träumen Frau und Haus und Kind besessen hatte, zu der nämlichen Stunde saß in ihrem Zimmer eine junge Frau, hielt die Hände gefaltet über dem Leib, und als sie der vergangenen Nacht gedachte, errötete sie tief, während ein kalter Schauer ihr über den Rücken wirbelte. Es war ganz ruhig in dem kleinen Haus, das zwischen Gärten am Rande der Stadt lag, der Herr des Hauses, der Ehemann, war an seinem Arbeitsplatz, und kein Kindergeschrei erscholl in dem Haus, kinderlos war die Ehe geblieben der beiden. Und doch schien die Frau jetzt auf einmal aufzuhorchen, sie drehte den Kopf lauschend zum Nebenzimmer und hielt sich, zusammenzuckend, plötzlich die Ohren zu: Hatte sie nicht, eben jetzt, deutlich das zarte Geplärr eines strampelnden, nackten Kindes vernommen? Nein! schrie es in ihr, und Ja! flüsterte etwas unter dem lauten Nein! und mit lähmendem Entsetzen sah die Frau den fremden Mann auf der Bank vor sich, nur sein Gesicht konnte sie nicht mehr erkennen, im Dunkel unter dem Baum war es wie verschattet geblieben, und sie hatte es ja auch vermieden, es genau zu betrachten, und dann wurde es gänzlich umrißlos und sank ins Finstere hinab, und klar und strahlend und mondweiß erhob sich der bekränzte Kopf, den sie mitten auf den kalten
Mund geküßt hatte. In ihr wechselte schamvoller Schmerz zu einer unerklärlichen Freude, und die Freude ließ sich nicht verjagen, die sie verjagen wollte, und vielleicht schien ihr, was sie mit sich hatte geschehen lassen, leichter zu ertragen, wenn ein Lebender Stellvertreter nur gewesen war eines Toten, und hilflos tröstend sagte etwas in ihr, es brauche ja nicht zu kommen, was sie gleichzeitig fürchtete und hoffte, aber eine lustvolle Erwartung war stärker als Scham und Angst und Selbstvorwurf, und in ihr Geheimnis versunken verharrte die Sünderin ruhigen Atems.
 Der Mann aber, der damals der Frau gefolgt war, als sie den Tempelhügel hinabstieg, ging in den nächsten Wochen fast täglich, und zu den verschiedensten Stunden, meist aber spät abends, in den großen Garten und zu der Bank im großen Garten, und setzte sich nieder auf das harte Holz, und wartete auf sie, die aber nie mehr wiederkam. Und zuletzt, als er sich zu dem immer vergeblichen Weg nur mehr selten und dann gar nicht mehr aufmachte, zuletzt war ihm fast, er habe wohl nur geträumt: wie sollte der es auch auseinanderhalten können, dem solches geschehen war, was Traum war und was Wirklichkeit, wenn wir alle auch sonst, und schon im alltäglichsten Leben, dazu nie recht imstande sind?
 
 


Drucknachweise und Anhang
 

S. 355 Die Totenfeier
Zuerst erschienen in: Die Neue Rundschau, 48, 1937, S.15-157 [August].
Hier fehlt nur der letzte Absatz (S.365, Z.11-23).
Eine stärker abweichende erste Fassung erschien u.d.T »Abenteuer eines toten Schauspielers« in: Uhu, 7, 1931, H.4, S.88-96 [Januar] (mit Illustrationen von Otto Linnekogel). [E] Sie ist in manchen Passagen knapper, in manchen erheblich ausführlicher als die spätere Fassung. - Die Hauptfigur heißt in dieser Fassung »Doktor Puschka« statt »Doktor Ruscher«. Folgende weitere Abweichungen sind zu nennen:
S.355, Z.6f: langweilig. E: langweilig. Aber es gab so Stunden, wo das Gespräch sich aufschwang, flügelflatternd, so war es heute, morgen mochte es wieder anders sein.
S.355, 2.23-29: Es war [...] daß sie morgen E: Das Gespräch kreiste um ihn, es war, bildlich gesprochen, als habe sich eine Schar Geier oder Raben um ein Aas gesammelt, schnabeleifrig. Man sprach nicht, wie das die Sitte fordert, nur Gutes von ihm, man sprach auch nichts Schlechtes über ihn, man sprach nur unausgesetzt von ihm und über ihn und kostete das Vergnügen aus, zu sitzen und zu trinken und sich lebendig zu spüren, während der Doktor Puschka tot war und morgen beerdigt werden sollte. Jeder der sieben, acht Leute, wußte, daß er
S.356, Z.1-6: sprach man [...] nicht gewaschen. E: muß nun erzählt werden, hielt es nicht mit der neuzeitlichen, übertriebenen Reinlichkeit, er wusch sich wohl auch manchmal, aber doch wohl nicht sehr oft. Er war Junggeselle; genau nachprüfen, wie oft er sich mit Wasser behandelte, das konnte natürlich niemand, man hatte nur so den Eindruck, daß es selten geschah, man hatte so seine Anzeichen dafür.
S.356, Z.13-23: Und auch davon [...] in Weinstuben aus. E: Es war unheimlich, den Doktor Puschka am hellen Tag zu sehen, ihm im strahlenden Licht zu begegnen, in der unbarmherzigen Sonne. Die vermied er auch, wo er konnte, schlich gebückt an den Häuserwänden entlang, belebten Straßen wich er aus, in dunklen Gassen nur fühlte er sich wohl und in den dunklen Ecken der Weinstuben. [/] Wie oft aß der tote Doktor Puschka zu Abend, als er noch lebendig war? Er aß dreimal zu Abend, in drei, vier verschiedenen Weinstuben.
S.356, Z.31 - S.357, Z.4: Wenn sein Geld [...] träumte dann stundenlang. E: Wenn, sein Geld weniger wurde, sank er tiefer im Rang der Wirtshäuser, und dann aß er oft nur billige Wurst oder einfachen Käse, aber immer dreimal zum mindesten am Abend, und trank Wein, viel Wein und rauchte, rauchte viel und träumte.
S.359, Z.16-27: Er hatte da [...] glücklich zu preisen. Fehlt in E.
S.358, Z.9-11: habe, auf eine zugleich [...] beobachten. E: habe, und er murmelte davon, daß es doch auch gefällige Frauen gäbe, gegen Geld gefällige, aber niemand wußte,, ob der Schauspieler solche Dienste je in Anspruch genommen hatte.
S.358, Z-30- 5.359, Z.3: Er hatte [...] gehabt hatte. Fehlt in E.
S.359, Z.4f: Die Kellnerin [...] sagte zu ihr E: Dieser einzige der sieben, acht Leute, der sich rühmen durfte, des toten Schauspielers Zimmer betreten zu haben, sagte zur Kellnerin Anna
S.359, Z.16-18: Und wie sein Ende [...] Witz des Schicksals. Der Arzt E: Der Wirt war an die Tafelrunde herangetreten und erzählte, daß der tote Doktor Puschka, als er zuletzt lebendig bei ihm in der Stube gewesen sei, daß er da gesagt habe: »Wie schaut's denn aus in ihrer Weinstube, ja, wie schaut's denn da aus? Die Wände sind weiß gestrichen, und die Tischtücher sind weiß und das Licht ist grell und weiß, das ist ja eine Totenkammer, und nur die Leiche fehlt! « So habe der Doktor Puschka zornig gesagt und sei zornig gegangen. Ja, und dann war kurz darauf der Tod zum Doktor Puschka gekommen. Er war herzkrank gewesen, das fing so langsam an, verstärkte sich, der Wein schmeckte nicht mehr, die Zigarre schmeckte nicht mehr, und da hatte ihn der Arzt
S.359, Z.30f: Trinkenden. Ihre Reden [...] ohne Grund, und E: Trinkenden, es erhob sich eine lärmende Lustigkeit, eine übersteigerte, überhitzte Lustigkeit, die Reden verwirrten sich, taumelten auf und ab wie Wespenschwärme, der Boden war nicht mehr fest unter diesen sprechenden Leuten, mit den Fingern klopften sie auf den Tisch, sie setzten das Glas, das sie schon am Mund hatten, wieder ab, weil ihnen einfiel, daß sie doch eben erst getrunken hatten. Und
S.36o, Z. 12-14: Kopf des toten Schauspielers. [/] Der Bildhauer E: Kopf des toten Doktors Puschka. [/] Ja, es war der weiße Kopf des Doktors Puschka, mit seiner herausfordernden, nach oben stehenden, dicklichen, knolligen Nase, mit den listigen, kleinen Augen, mit der Glatze, mit den genießerisch gezogenen Lippen, und als die Kellnerin Anna den Kopf sah, kreischte sie auf es waren nicht mehr viele Leute in der Wirtsstube, da durfte sie sich gehen lassen und kreischen, aber vielleicht hätte sie es auch getan, wenn die Stube voll gewesen wäre. [/] So war also der Doktor Puschka mitten zwischen den sieben, acht Leuten, sah gutgelaunt um sich, und einer der sieben, acht
S.36o, Z.24-27: der Bekränzte [...] »Hinaus in die Nacht! « E: der bekränzte Doktor Puschka blinzelte listig und lustig vor sich hin, und einer sagte: »Wenn man mir auch sagt, daß der Doktor Puschka jetzt im Leichenhaus liegt und morgen beerdigt werden soll, so sage ich, daß das nicht wahr ist, daß er hier unter uns ist, den Kranz trägt und mit Wein beträuft ist, und wieder getauft und immer lebendig ist!« [/] Er hatte ihn, der so redete, auf ein Holzgesims gestellt, den Doktor Puschka, das über dem Tisch an der Wand hinlief, er hatte ihn so erhöht, und so sah er von oben herab auf die Zechenden und Bezechten, die die Gläser gegen ihn erhoben und ihm zutranken, und der Sprecher sprach weiter und sprach: »Er ist lebendig, der Doktor Puschka, ist mitten unter uns, ist hoch über uns, und wenn man einen Lebendigen daran erkennt, daß er einen anderen Lebendigen totschlagen kann-das kann er auch noch, der Doktor Puschka!« Und wandte sich zu dem der sieben, acht, der dicht unter der Büste saß, und sagte zu ihm: »Wenn er jetzt wackelt, der Doktor Puschka, und warum soll er nicht wackeln? und stürzt, und warum soll er nicht stürzen? und trifft dich, und warum soll er dich nicht treffen? so bist du vielleicht tot-und warum sollst du nicht tot sein?« [/] Es schallte, es krachte, es donnerte; der so gesprochen hatte, schloß die Augen, er wollte nicht sehen, was geschehen war, wollte das zerschmetterte Haupt des Freundes nicht sehen und wunderte sich nur, daß das Gespräch so laut weiterging, blinzelte auf die Tischdecke aus halbgeöffnetem Auge, sah die roten Blutflecken auf dem weißen Tischtuch, aber dann erkannte er, daß es nur rote Weinflecken waren, und was geschallt hatte, war die Tür gewesen, die einer, der ging, so heftig ins Schloß geworfen, und der Doktor Puschka lächelte aus seiner Höhe herab, und der darunter saß, lächelte. [/] »Einen Nachtspaziergang!«
S.36, Z.3: Bildhauer E: Musikant
S.361, Z. 15: den Kopf. E: den Kopf des Doktors Puschka, und nun sah der Doktor Puschka lächelnd in die wallende Augustnacht hinaus, die dampfend unter ihm war.
S.362, Z.17-27: Sie hob das Gesicht [...] an den Toten dachte. E: Sie drehte das Gesicht dahin, woher die Klänge ziehend durch die Bäume kamen; es war, als sähe sie den Kopf wieder im Mondschein vor sich, den sie oben im Tempel geküßt hatte, und dann drehte sie sich zu dem Mann und sah ihn lange und forschend an und neigte sich vor, küßte ihn mit vorsichtigen Lippen, ließ leicht und bebend ihre Lippen auf den seinen, der stillhielt, dann die Arme um die weiße Gestalt schloß.
S.363, Z.35 - S.364, Z.4: gesenkt. In dem Sarg [...] verwegen geschmückt E: gesenkt -, und daß die Beerdigung unter Einhaltung frommer Bräuche vor sich ging, entsprach durchaus den Absichten des Schauspielers, der, wenn er auch lässig in ihm gewesen, nie vom Glauben seiner Kindheit abgewichen war. Es hieß, daß im Sarg der Doktor Puschka liege, Junggeselle und kinderlos, aber er
S.364, Z.24-S.365, Z.1: und hielt sich [...] auf den kalten Mund E: und sah einen Mann vor sich stehen, der hatte das Gesicht der Büste im Tempel, und das Gesicht verwandelte sich und war, wie verschattet, das Antlitz des fremden Mannes auf der Bank, und dieses Gesicht wieder zerschmolz und formte sich neu zu dem Gesicht ihres eigenen Mannes, und zauberhaft und rasch gingen die Gesichter ineinander über, aber zuletzt blieb das weiße Gesicht der Büste, deren Lippen sie in der Sommernacht
S.365, Z.11-23: Der letzte Absatz fehlt in E.
Die Erzählung spielt in München- wie auch Das Liebespaar und die Greisin: »der ›Park‹ der ›Totenfeier‹ ist der Englische Garten, der Tempel der Monopteros dort«; so B. in einem Brief an Bode (2.10.1959).