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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Band 3-2  Seite 366
Kommentar Seite 500

Aus: »Das gerettete Bild«


Der Berg Thaneller

Bayerische Vorkriegsinfanterie, blau und rot, mit blauem Rock und rotem Kragen, aber weißen Hosen, langen, weißen, flatternden Paradehosen, und mit roten Gesichtern und roten glänzenden Specknacken marschiert auf dem Platz vor dem steinernen Säulentempel auf. Die blau und rot und weiß schimmernden Rechtecke sind wie Zündholzschachteln, die spielend hin und her geschoben werden, und wenn ein Leutnantsdegen blitzt, oder eine Bajonettspitze da und dort, so ists, als würde ein Schwefelholz entflammt. Von oben, wo ich stehe, zwischen den Säulen des Tempels, und an eine der Säulen gelehnt, die heiß ist und körnig wie frischgebackenes Brot, schau ich das Wirken einer unsichtbaren Macht, die Längs? und Querstäbe zusammenzwingt, und als Ruhe in die Kolonnen gekommen ist, eine grelle Stimme wie eine Feuerlerche hoch über die Truppen und in den Himmel steigt, und dann alles unbeweglich verharrt, nur mein Auge sich dreht: da ist das riesige M einer schönen Antiqua auf den Platz hingeschrieben. Wie aus einem Kasten der Setzer hat ein greiser, ordenklirrender Helmträger das M genommen, und da steht es nun. Es ist ein kriegerisches M, eine lebendige Letter, und keine könnte eroberischer und waghalsiger und frecher und räuberischer sein, als das große lebende M auf dem Platz vor dem Säulentempel.
  In den Sockel der Trajanssäule in Rom ist dieses M ein-gegraben, dieses kampflustige Eroberer – M, aus dem Geist eines kriegerischen Volkes geboren, und in jedem starken Buch marschiert es, und das A und das O und das Z marschieren mit, in vorwärtsdrängenden, schwarzen Buchstabenkolonnen, wild beflügelt, als stünde hinter der letzten Buchseite der Dichter und trommelte einen heftigen Wirbel, einen ins Blut gehenden Wirbel, daß die Lettern eilen und stürmen müssen zum Ziel.
  Der General mit dem weißen Schnurrbart öffnet wieder den Mund. Das Schnurrbartgebüsch rauscht und wogt, das ist das Nest der Feuerlerche, die nun wieder grell aufsteigt und singt. Die Balken und Beine des M lösen sich voneinander, schieben sich hintereinander, zu einem dicken Strich, zu einer Raupe, zu einem Tausendfüßler, der nun über den heißen Platz kriecht und durchs Tor hindurch und hinweg.
Drei Schritte, und da bin ich im Bauch des Tempels; in dem aber kein sanfter Christengott verehrt wird, und kein heidnisch nackter und wilder der Vorzeit, nur Bilder und wieder Bilder hängen hier, goldgerahmt, und blau und rot strahlt es auch hier von den Wänden, und der Blutwurm, der noch eben draußen durchs heiße Tor rasselte, ist auf einen andern Wurm gestoßen, blutrot und blau wie er, und dampfend haben sie sich nun ineinander verbissen und verknäuelt, zur Alexanderschlacht, wie sie der große bayerische Mann und Künstler Altdorfer gemalt hat. Und über den Kämpfenden, über einer phantastischen Landschaft unter einer prangenden Sonne, über Qualm und Schrei schwebt eine gelassene epische Tafel und sagt in einer harten und straffen Schrift – Antiqua nennt sie der Buchdrucker –, daß Alexander, der raublustige Mazedone, und Darius, der Perserkönig, mit ihren Heeren da unten, tief da unten, in der tiefen Ebene des Geschehens, gegeneinanderstürmen.
  Der sonnenflirrende Platz ist leer, und der General reitet über den leeren Platz, und sein weißer Schnauzbart ist ein Schnauzbart und kein Lerchennest, und er wackelt mit dem Greisenkopf, und als er sieht, wie ich, in einem Buche lesend, ihm entgegenkomme und fast zu spät ausweiche und fast überritten werde, zieht er eine höhnische Fratze, und ist erbost über den Bücherleser und denkt: seine Zeit mit Lesen zu vertrödeln! Das denkt er, dieser alte Mann, und ist doch nur der Befehlshaber eines einzigen Buchstabens, des Buchstabens M. Aber in meinem schönen Buche, und das ist alt und uralt und älter als der alte General, sind tausend Buchstaben, und das Buch ist kriegerischer und eroberungssüchtiger, und tausendmal frecher und lebendiger ist seine sprungbereite Antiqua als dieser wackelnde Soldatenführer auf seinem Gaul.
  Er reitet vorbei, und hinter ihm wende ich mich und klappe schmetternd das Buch zu, hinter dem Gaul drein, daß es ihm wie ein scharfer Wind zwischen die Hinterbacken fährt und er einen kriegerischen Sprung nach vorn tut, so saust ihm die Musik des Buches ins Gebein.
  Das braune Holz der Tiroler Bauernwirtshausveranda raucht in der Sonne. Eisgrün fließt unten der Lech. In einem zerlesenen Dorfkalender, der vor mir auf dem Tisch liegt, ein flügelschlagender Hahn ist auf dem Umschlag, sah ich, grau und schäbig gedruckt, das Bild der Parade, den Stechschritt der Infanteristen, den krummen Rücken des Generals. In die Sonne blinzelnd, Purpur vor den Augen, habe ich die magische Wandlung in die feierlich kühne Antiqua herbeigeführt.
  Ein Heuwagen fährt vorbei, die Zugochsen schlagen mit den Schwänzen nach den großen Fliegen. Die schartige Messerklinge des Gebirges schneidet ein gezacktes Stück blauen Tuches aus dem Himmel, blau wie das bayerische Infanterieblau, und die Wolke über dem Berg Thaneller ist ein wattebuschiges Lerchennest wie der Generalsschnauzbart.
  Morgen mit der geliebten Frau, mit der braunen Frau, aufwärts durch das Kellergrün und Kellerfeucht der Wälder, über den hölzernen Wildbachsteg, während aus der Blattwirrnis die Augen der Erdbeeren funkeln! Und wo bei der Biegung der Weg lanzengerade in den Äther hinaus will, glimmert vor uns der urgraue Stein der Felswand betäubend und rauchend. Morgen!
Auf einem Papierfetzen, den der Wind hierher auf die Veranda geweht haben mag, dem abgerissenen Stück einer Großstadtzeitung, ist unter den vermischten Nachrichten eine zu lesen, die ich zweimal und dreimal lese, mit Lächeln und einem froschkalten Schauer über Brust und Rücken. Auf dem schon vergilbenden Holzpapier melden Schriftzeichen, verwischt, farbverschmiert, aus dem Maul der unermüdlich Lettern spuckenden Setzmaschine, das Ende eines Liebespaares. Die vierzigjährige Frau eines Angestellten fand man tot in der Küche, während das Leuchtgas still und giftig noch strömte. Sie war nackt, und im Haar trug sie Blumen. Neben ihr war der tote Geliebte und Ehebrecher, nackt, in einen roten Mantel gehüllt. Und während das Leuchtgas still und giftig sich ergoß, lag der junge Mensch mit zuckendem Mund bei der Frau, und wie er sie umarmte und ihre Beine spürte, nickte und schwankte vor seinen Lippen eine der roten Rosen. Sie schwankte, die Rose, weil die nackte Frau den Kopf bacchantisch warf, oder vielleicht, weil das Gas sie traf. Sind die beiden mehr wert als ein Gelächter, diese beiden Schauspieler im Leben und im Tode, die in der Küche, wo die Bratpfannen und Kochtöpfe über ihnen glänzten wie Wappenschilder, in Schönheit und mit Blumen im Haar im Strom des Leuchtgases starben?
  Ich lache laut, aber der Wattepfropfen über dem Thaneller scheint mir im Schlund zu sitzen, und während ich den Zeitungspapierfetzen drehe und die verblaßten, unscharfen Schriftzeichen anstarre, die diesen lächerlichen Tod der beiden Gimpel melden, dieser blöden Vögel, die sich im Netz würgten, aber dann singend starben, blickt mich der Uhu des Grauens groß und eiskalt an.
  Ich schlage den Kalender zu, und das Blatt mit den vermischten Nachrichten lege ich dazwischen, da hinein, wo die Paradeinfanterie marschiert. Ich habe mir das militärische Schauspiel, grau auf der graufaserigen Kalenderseite, in tiefschwarze Antiqua auf Bütten übersetzt. Aber ich kann nicht, homerisch und heroisch, die Todesfeier der beiden Küchenvögel in ein strahlendes Licht heben, aus den Blumen im Haar der welkenden Frau kann ich keine starrende Königinnenkrone machen, und aus dem roten, seidengefütterten Schlafrock des Ehebrechers keinen cäsarischen Purpurmantel. Diese Sperlinge der vermischten Nachrichten, mit den gefärbten roten Flügeln, mit dem verlogenen Kopfputz, mit der Pfaufeder der Eitelkeit in den wächsernen Todeshänden, ich kann sie nicht zu Adlern aufblasen, und ich mag nicht mit tuschschwarzen Antiqualettern ein Hohelied schreiben, wenn für das Schnaderhüpfel die Setzmaschine erfunden wurde.
  Der Thaneller sieht lockend und steingrau her. Morgen mit der braunen Frau durchs Kellerfeucht der schwarzen Wälder empor zu ihm, und hoch über den Lech empor, und über die Theatertragik der lahmen Küchenvögel ins bayerische Infanterieblau des Himmels.
 
 



 


 

Drucknachweise und Anmerkungen:

S.366 Der Berg Thaneller
Der Text erschien zugleich in: Ausritt 1938/1939. Almanach des Verlages Langen-Müller [Oktober 1938], S.83-87.
Eine leicht abweichende erste Fassung u.d.T. Der Berg zuerst in: Simplicissimus,
28, 1924, S.610f. [10.März]. - Dann, ganz leicht verändert, in: Michael und das Fräulein, S.85-92. [M]
S.366, Z. 8f.: Leutnantsdegen blitzt [...] Schwefelholz entflammt. M: Leutnantsdegen oder eine Bajonettspitze blitzt, wird ein Schwefelholz an der Reibfläche der Schachtel entflammt.
S.366, Z.26.f: aus dem Geist eines kriegerischen Volkes geboren Fehlt in M. 5.366, Z.31: Dichter M: Autor
S.367, Z.8-11: Tempels [...] goldgerahmt M: großen Säulenhauses
S.368, Z. 14: ein flügelschlagender Hahn ist auf dem Umschlag Fehlt in M.
S.370, Z. 1-4: keine [...] Purpurmantel. M: nicht zu riesigen Rosen werden lassen, aus denen in starken Stößen das Leuchtgas strömt statt des Duftes, süß und giftig und unablässig.
Der »Thaneller« ist ein Berg (2343 m hoch) nicht weit von der bayerischösterreichischen Grenze, südlich des am rechten Ufer des Lech liegenden Tiroler Ortes Reutte; es handelt sich um den am frühesten touristisch erstiegenen Gipfel der Lechtaler Alpen (vor 1800). - Mit dem »Tempel« (S.366, Z.10; S.367, Z.7f.) ist die Neue Pinakothek in München gemeint, in der sich auch die von B. genannte »Alexanderschlacht« Albrecht Altdorfers befindet. - Albrecht Altdorfers »Alexanderschlacht« (1529) stellt dar, wie Darius III. von Persien mit seinen Truppen vor Alexander von Mazedonien flieht; allerdings versetzt der Maler der »Donauschule« die Szenerie in die Reformationszeit und geographisch in eine phantastische Donaualpenlandschaft. Die von B. angesprochene »Tafel« schwebt in Altdorfers Gemälde als holzumrahmte Tafel mit einer längeren lateinischsprachigen Inschrift über den kämpfenden Truppen.
Friedo Lampe, der B. sehr geschätzt haben soll (vgl. Bode, S.76), schrieb eine Erzählung mit dem Titel Die Alexanderschlacht (1945 in der Sammlung Von Tür zu Tür. Zehn Geschichten und eine, Hamburg: Goverts), in der ein Doktorand mit Namen Albrecht, der über Alexander den Großen schreibt, während der Aufführung einer Musikposse im Kurtheater einschläft und träumend mit seinem Freund die Alexanderschlacht nacherlebt (E Lampe: Das Gesamtwerk, Hamburg: Rowohlt 1955, S.265-275).
»Schnaderhüpfel« bedeutet im bayerisch-österreichischen Raum ein meist improvisiertes, vierzeiliges Scherz-und Spottgedicht, das zu einer Melodie gesungen wird.
Vgl. zu diesem für B.s dichterisches Selbstverständnis zentralen Text (dazu Bode, S.27, S.83 u.ö.) auch die Buchstabenphantasien Das Initial, Das stelzbeinige E und Der nackte Engländer (abgedruckt in Bd.I).