Georg Britting
Sämtliche Werke

Herausgegeben von Ingeborg Schuldt-Britting

Band 14

Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
DRAMEN

 

Das Storchennest

Eine Komödie
[1921]

Personen

SEBALD • ANNA • LYDIA • ALEXANDER • TRUDEL • DER TOTENGRÄBER • DES TOTENGRÄBERS FRAU • DER POLIZEIINSPEKTOR • DER LANDSTREICHER • DER MATROSE • IRENE • MAJA • EVA • DIE BORDELLWIRTIN • DER BURSCHE • DAS MÄDCHEN • DER STRASSENBAHNER • DER ANDERE STRASSENBAHNER • DIE SECHS SCHUTZLEUTE

ERSTER AKT

Abend. Straße vor der weißen Friedhofmauer, im unwirklich grellen blauen Mondlicht. Die tiefschwarzen Schatten der Figuren spielen mit.

SEBALD im dunklen Straßenanzug, ohne Hut, treibt den Kreisel: Dreh dich, Luder! Spring! Tuts weh? Spring nur! Vielleicht lernst du noch fliegen! Hoppla, meine kleine Weltkugel! Hopsassa! Friß dich durch den Staub! Ich will mir noch ein paar Kreisel anschaffen und ein ganzes Sternensystem in Bewegung setzen. Wenns jetzt dem lieben Gott einfiele, die Peitsche fortzuwerfen? Wirft sie fort.

DER STRASSENBAHNER kommt von links: Zehn Minuten Aufenthalt! Zieht ein Buch aus der Tasche. Kennen Sie Marx? Ich verstehe ja manches nicht, aber genug, um überzeugt zu sein, daß er das Rechte sagt.

SEBALD Ich hatte einen Mitschüler, der so hieß. Der hat in der Mathematikstunde einen Feuerfrosch losgebrannt. Der machte dem Lehrer ein Loch in die Hose. Ich habe lange nichts mehr von dem Menschen gehört. Sollte er nun ein Buch geschrieben haben?

DER STRASSENBAHNER Ich bin Sozialist.

SEBALD Was ist das?

DER STRASSENBAHNER Der Sozialismus will, daß alle Menschen gleichen Anteil haben sollen an der Erde.

SEBALD Besteht Aussicht, daß das heute abend noch durchgeführt wird? Eifrig: Heute abend noch? Die Frage ist für mich von Wichtigkeit. Gleichen Anteil an allem dieser Erde. Heut abend wirds wohl nicht mehr gemacht werden können?

DER STRASSENBAHNER Nicht mehr. Aber im goldenen Löwen ist Volksversammlung. Ich nehme Sie mit.

SEBALD Ich gehe nicht.

DER STRASSENBAHNER Was hält Sie ab?

SEBALD Ich verbringe meine Abende vor dem Haus einer jungen Dame. Ich gehe vor dem Haus auf und ab. Immer auf und ab. Ich kenne jeden Pflasterstein vor dem Haus.

DER STRASSENBAHNER Sie stehen Wache?

SEBALD Ich kann das Haus nicht eine Sekunde aus dem Auge lassen. Ich könnte kein Auge zumachen, wenn ich einmal nachts nicht dort wäre.

DER STRASSENBAHNER So besuchen Sie eine Versammlung bei Tag!

SEBALD Bei Tag schlafe ich. Ich muß bei Tag schlafen, weil ich nachts wache.

DER STRASSENBAHNER Ich scheine Sie nicht ganz zu begreifen. Am Tag müssen Sie nicht vor dem Haus der Dame stehen?

SEBALD Ich kann doch nicht immer bei ihr sein. Man kann nicht immer bei einem Menschen sein. Wenn man täglich nur zehn Minuten mit ihm beisammen ist und erreichts nicht, daß man dann immer bei ihm ist, sollte man auch die zehn Minuten nicht opfern.

DER STRASSENBAHNER Über Marx können Sie mir also nichts Genaueres sagen?

SEBALD Halten Sie nur daran fest, daß alle Menschen gleichen Anteil an der Erde haben sollen. Das ist ein guter Satz.

DER ANDERE STRASSENBAHNER kommt von links: Guten Abend!

DER STRASSENBAHNER vorstellend: Das ist Herr Oschatz. Sebald und Oschatz neigen sich voreinander. Sie fahren nicht mit? Es ist der letzte Wagen. Dann Adieu!

SEBALD Adieu! Vergessen Sie nicht: den gleichen Anteil. Die beiden gehen. Man hört das Klingelzeichen der Straßenbahn. Wer an den Satz vom gleichen Anteil glaubt, ist ein guter und vortrefflicher Mensch. Dieser Beamte ist ein wackerer Mensch.

TRUDEL im Ballkleid, darüber einen dünnen Abendmantel, kommt von rechts. Sie hört das Klingeln, verhallend, der Bahn: O Sebald, der Wagen fährt ab, und ich muß zu Fuß nun gehen.

SEBALD küßt ihre Hand: Wohin?

TRUDEL Zum Uraniaball.

SEBALD Ich hab die Plakate gelesen. Gartenfest mit Lampions. Wo ist deine Papierlaterne? Muß man die nicht mitbringen zu einem Gartenfest mit Lampions?

TRUDEL Die sind an den Bäumen aufgehängt. Willst du nicht mitgehen zum Fest?

SEBALD Wenn zu Recht besteht, was mir der freundliche Beamte vorhin sagte, könnte mirs niemand verwehren. Ein Herr von der Straßenbahn hat mir gesagt, jeder Mensch habe gleichen Anteil zu fordern an allem dieser Erde. Was hältst du davon?

TRUDEL Ich fühle, daß der Herr recht hat.

SEBALD Fühlst du das, Trudel? Dann fordere ich meinen Anteil an dir. Bleib bei mir diesen Abend. Bleib, wenn du schon dem Beamten recht gibst.

TRUDEL Ich soll bei dir bleiben?

SEBALD Fühlst du nicht, daß du mußt? Daß ich eine gerechte Forderung habe, von der du dich nicht entbinden kannst?

TRUDEL Aber das Gartenfest, Sebald?

SEBALD Du fühlst, daß du im Unrecht wärst, wenn du gingst. Du fühlst, Trudel, daß du bleiben mußt.

TRUDEL Ich bin im Ballkleid. Ich trage Ballschuhe.

SEBALD Dein Herz sagt dir, daß du bleiben mußt.

TRUDEL Ich trage die Ballfrisur. Ich habe nur diesen Abendmantel.

SEBALD Häng nicht deinen Abendmantel vor den klaren Befehl, den du fühlst. Bleib!

TRUDEL Ich weiß keine Widerrede. Wie sagte der Herr von der Straßenbahn?

SEBALD Gleichen Anteil an allem, sagte der Beamte. Ich erhebe Anspruch auf meinen Anteil an dir.

TRUDEL Aber die andern, Sebald, die andern. Du vergißt die andern.

SEBALD Die andern?

TRUDEL Bekannte warten auf mich. Lampions warten auf mich. Sie haben ein Recht auf mich.

SEBALD Auch die andern?

TRUDEL Der ganze Abend gehört nicht dir, Sebald. Aber den Teil, der auf dich trifft, will ich dir geben.

SEBALD Das ist?

TRUDEL Zehn Minuten. Zehn Minuten dieses Abends treffen auf dich, die will ich dir geben.

SEBALD Es scheint, ich vergaß die andern.

TRUDEL Ich will dir auch einen Tanz geben, Sebald. Streift den Abendmantel ab, achtlos auf den Boden. Tanzen wir, Sebald! Sebald umfaßt sie. Stumm tanzen sie. Stumm tanzen die schwarzen Schatten auf der mondweißen Mauer.

TRUDEL läßt Sebald los: Damit mußt du zufrieden sein, Sebald. Mehr darfst du nicht verlangen.

SEBALD hängt ihr den Mantel um: Mehr nicht?

Trudel geht nach links ab. Winkt noch einmal zurück. Sebald drückt sich tief in das Dunkel der Tür. Von rechts kommt das Liebespaar umschlungen.

DER BURSCHE Du mußt aufbegehren gegen deine Mutter. Ein Abendspaziergang ist kein Verbrechen. Deine Mutter war auch einmal jung.

DAS MÄDCHEN Gestern wars besonders schlimm. Und heut hat sie mich noch mit keinem einzigen Blick angesehn. Ich muß heut früher heimgehn, Alois. Sonst macht sie mirs unerträglich.

DER BURSCHE Was hat man vom Tag, wenn nicht diese zwei Abendstunden? Das Mädchen drängt sich an ihn.

DER BURSCHE Niemand darf sie uns nehmen. Das Mädchen küßt ihn.

SEBALD tritt aus dem Schatten: Küsse mich auch!

DER BURSCHE Machen Sie, daß Sie weiterkommen!

SEBALD Küsse mich auch!

DER BURSCHE Ich werde Ihnen ein paar Maulschellen geben, wenn Sie sich nicht verziehen.

SEBALD Was fahren Sie mich grob an? Ich verlange nur, was recht und billig ist.

DER BURSCHE Recht wärs, wenn ich Ihnen einen Fußtritt versetzte. Und billig, wenn ich Sie verprügelte.

SEBALD Lassen Sie mich mit dem Mädchen reden. Zu dem Mädchen: Warum küssest du mich nicht?

DER BURSCHE Sie erlauben sich Witze mit einem Arbeiter. Ich lasse nicht mehr lang mit mir spaßen.

SEBALD Haben Sie nichts davon gehört, daß die Menschen gleichen Anteil an allem haben sollen? Mir erzählte es heute abend ein Beamter der Straßenbahn.

DER BURSCHE Ich bin organisierter Arbeiter. Ich bin Sozialist. Ich vertrete ganz Ihre Anschauungen.

SEBALD Warum werden Sie dann unwillig, wenn ich Ihre Braut bitte, mich zu küssen?

DER BURSCHE Das Mädchen ist mein. Ich küsse nicht Ihre Braut. Jedem das Seine.

SEBALD Ich muß alles mit andern teilen. Teilen Sie mit mir.

DAS MÄDCHEN Aber die Liebe läßt sich nicht teilen.

SEBALD Aber die Liebe läßt sich nicht teilen? Ich muß den Herrn von der Straßenbahn suchen. Er behauptete, ich hätte Anspruch auf gleichen Anteil an allem. Mir geschieht Unrecht. Man verweigert mir meinen Anteil.

DER BURSCHE Es gibt so viele Mädchen auf der Welt.

DAS MÄDCHEN Komm, Alois! Sie gehen verschlungen nach links ab.

SEBALD Was will ich noch in der Stadt? Ich bleibe hier. Er zieht kräftig an der Glocke, die einen hohen, bellenden Ton von sich gibt.

DER TOTENGRÄBER unter der Tür: Ihr Wunsch, mein Herr?

SEBALD Verzeihen Sie, daß ich so spät noch störe. Eine unaufschiebbare Angelegenheit...

DER TOTENGRÄBER Ich habe gerade im Tageblattroman gelesen. Ich habe die Lektüre nur ungern unterbrochen. Aber wenn die Pflicht ruft, säume ich nicht.

SEBALD Ich lese den Roman auch. Die beiden letzten Fortsetzungen sind mir entgangen, weil man sie bei mir zu Hause als Einwickelpapier benutzt hat. Wie geht es Anneliese?

DER TOTENGRÄBER Sie ist Schreibmaschinenfräulein geworden.

SEBALD Der Leutnant Leo ist ein Schurke. Aber der rächende Finger Gottes wird ihm noch das Herz blutig tippen.

DER TOTENGRÄBER Alle Schuld rächt sich auf Erden. Mein Beruf bestärkt mich in dieser Ansicht. Warum denn müssen alle Leute sterben?

SEBALD Sie haben schon viele begraben. Sie haben sicherlich schon große Übung darin. Das macht es mir leichter, meine Bitte auszusprechen. Sie werden sie mir nicht abschlagen. Warum auch gerade mir?

DER TOTENGRÄBER Ich tu gern alles, was in meinen Kräften steht.

SEBALD Warum sollte es gerade bei mir über Ihre Kräfte gehen? Ich will mich ganz klein machen. Ich will es Ihnen möglichst leicht machen.

DER TOTENGRÄBER Soll ich Ihnen die beiden Fortsetzungen des Romans geben, die man Ihnen vorenthalten hat? Ich will es gern tun. Sie werden mir die Nummern wieder zurückgeben. Ich will mir den Roman am Jahresende binden lassen.

SEBALD Mein Wunsch bezieht sich auf die Tätigkeit, die Sie hier von amtswegen ausüben. Ich hoffe, nicht unbescheiden zu sein, wenn ich das Ersuchen an Sie richte; Begraben Sie mich!

DER TOTENGRÄBER Gewiß will ich Sie begraben. Und gern will ich Sie begraben. Sie sind zwanzig Jahre jünger als ich. Es soll mich freuen, wenn ich Sie überlebe. Und dann will ich Sie auch gern begraben.

SEBALD Ich möchte gleich und auf der Stelle begraben werden. Fangen Sie frisch an: in einer halben Stunde können Sie fertig sein und zu Bette gehn.

DER TOTENGRÄBER Ich bin Totengräber. Ich begrabe nur Tote. Nur Leute, denen der Leichenschein ausgestellt ist. Kommen Sie in zwanzig Jahren wieder in einem schwarzen Wagen.

SEBALD Ob tot oder lebendig, ist Ihnen das so wichtig? Ich bitte Sie inständig: begraben Sie mich!

DER TOTENGRÄBER Warum haben Sie es so eilig?

SEBALD Ich kann heut nicht mehr heimgehen. Ich hab meinen Hausschlüssel verloren. Ich bitte Sie, begraben Sie mich!

DER TOTENGRÄBER Das ist doch kein Grund. Es gibt in der Stadt Gasthöfe.

SEBALD Ich fürchte mich vor den fremden, kalten Betten. Begraben Sie mich doch, Herr Totengräber!

DER TOTENGRÄBER Das müssen Sie sich aus dem Kopf schlagen. Ich begrabe Sie nicht.

SEBALD Ich will Ihnen die Hacke tragen. Ich will Ihnen die Schaufel tragen. Ich will mit schaufeln. Ich will den größern Teil der Arbeit auf mich nehmen. Dann leg ich mich in die Grube, und Sie werfen die Erde auf mich. Bitte, bitte, lieber Herr Totengräber, begraben Sie mich!

DER TOTENGRÄBER Nein und nein und nein!

SEBALD Ich will mich mit einem Kindergrab begnügen. Ich will die Nase zwischen die Knie stecken und die Hände in die Hosentaschen.

DER TOTENGRÄBER Nein und nein und nein!

SEBALD Ist das Ihr letztes Wort? Sie wollen mich nicht begraben? Und nur, weil ich nicht tot bin? Sie schlagen mir eine kleine Bitte ab und aus einem so lächerlichen Grund? Mache ich Ihnen lebend mehr Mühe, als sie Ihnen mein Leichnam machen würde? Sie gebrauchen Ausreden, die ich durchschaue. Sie wollen sich von Ihrer Arbeit drücken. Aber ich bestehe darauf, daß Sie mich begraben. Sie werden mich noch heute begraben. Noch in dieser Stunde. Der Mond leuchtet Ihnen. Ich fordere Sie auf, Ihre Pflicht zu tun! Begraben Sie mich!

DER TOTENGRÄBER Es darf nicht sein, mein Herr!

SEBALD Sie sind ein pflichtvergessener Beamter! Sie sind ein ganz trauriger Totengräber! Sie sind der ekelhafteste aller Totengräber! Ohrfeigt ihn.

DER TOTENGRÄBER packt ihn am Hals und wirft ihn gegen die Mauer: Was fällt Ihnen ein? Sind Sie betrunken? Gehen Sie nach Hause!

SEBALD Verzeihen Sie mir! Ich bitte Sie, verzeihen Sie mir! Die Wut riß mich hin. Ich hätte mich beherrschen müssen. Tun Sie mir den Willen und begraben Sie mich!

DER TOTENGRÄBER Nimmermehr!

SEBALD fast weinend: Sie versündigen sich! Sie vergreifen sich an mir! Schicken Sie mich nicht weg! Begraben Sie mich!

DER TOTENGRÄBER Nein und nimmermehr!

SEBALD Ich will begraben werden! Jetzt! Sofort! Wenn Sie die Lebenden nicht begraben, begraben Sie denn die Toten?

DER TOTENGRÄBER Das ist mein Amt!

SEBALD zieht eine Pistole: Gut! Totengräber, an die Arbeit! Erschießt sich.

DER TOTENGRÄBER Dumme Scherze! Tun Sie die Kinderpistole weg! Narretei! Stehen Sie auf! Rüttelt die Leiche. Treiben Sie die Kinderei nicht zu weit! Es ist genug! Stehn Sie auf! Gehn Sie heim! Schreit schrecklich. Aber er ist wirklich tot! Er ist tatsächlich tot! Ich müßte doch wissen, wie ein Toter aussieht. Ich müßte doch wissen, wie sich ein Toter anrührt. Fluch! Fluch! Fluch! Er ist tot! Er hat sich erschossen! Er hat sich meinetwegen erschossen! Zerrt an der Leiche. Entsetzlicher Mensch! Mußte das sein? Man hätte dir keine Pistole in die Hand geben dürfen. Wie konnte man einem jungen Menschen eine Pistole in die Hand geben! Fluch! Fluch! Fluch!

DES TOTENGRÄBERS FRAU unter der Tür: Was schreist du, Adolf? Wo bleibst du so lange?

DER TOTENGRÄBER Hier liegt ein Toter! Sieh genau zu, ob er wirklich tot ist! Vielleicht verstellt er sich nur, damit ich ihn begrabe. Sieh genau zu!

DES TOTENGRÄBERS FRAU Ein Toter! O, und eine Pistole! Und Blut! Er ist noch warm! So ein hübscher junger Mensch!

DER TOTENGRÄBER Fluch! Fluch! Fluch! Er ist wirklich tot! Ich habe ihn ermordet! Ich bin sein Mörder! Ich habe ihn in den Tod getrieben!

DES TOTENGRÄBERS FRAU Was sagst du, Adolf? Warum bist du so aufgeregt? Wieviel Tote haben wir schon gesehen in unserm Leben? Junge und alte. Warum schreist du? Er hat sich erschossen. Er wird seine Gründe gehabt haben. Ich bedauere ihn. Er tut mir leid. Aber ich kanns nicht ändern.

DER TOTENGRÄBER Ich hätte es ändern können. Er bat so inständig. Er bat so rührend. Wenn ich ihm die Bitte nicht abgeschlagen hätte, er hätts nicht getan. Ich bin schuld.

DES TOTENGRÄBERS FRAU Kennst du den jungen Mann, Adolf? Du sprichst von einer Bitte. Was wollte er?

DER TOTENGRÄBER Ich habe ihn in den Tod getrieben. Er meinte es ernst mit seinem Verlangen. Ich habe seine Worte nur für Spaß genommen. Er hat mich fürchterlich belehrt. Er hat sich meinetwegen erschossen. Nun geschieht, was er wollte. Nun werd ich ihn begraben.

DES TOTENGRÄBERS FRAU Was wollte der Tote von dir? Um was bat er dich?

DER TOTENGRÄBER Ich trage Schuld an seinem Tod. Niemand kann mich freisprechen von dieser Schuld. Ich habe gemordet! Schreit laut in die Nacht: Ich habe gemordet! Ich bin sein Mörder!

DER ERSTE SCHUTZMANN ein riesiger Schatten von links: Das ist Ruhestörung! Wer schreit hier so? Was ist hier los?

DER TOTENGRÄBER Hier liegt ein Toter! Ich bin mitschuldig an seinem Tod!

DER ERSTE SCHUTZMANN hebt die Pistole auf: Ich konfisziere die Waffe. Ich nehme den Tatbestand auf. Knipst seine Taschenlaterne an, zieht Notizbuch und Bleistift. Sie heißen ...?

Vorhang

ZWEITER AKT

Das Zimmer ist grell und stechend beleuchtet, als läg es im Licht von Scheinwerfern und ist ganz leer bis auf einen Tisch, zwei Stühle und einen kleinen Wandspiegel. Zwei Türen, eine in der Mitte zum Treppenflur, eine rechts in die Küche. Keine Fenster. Anna und Alexander sitzen sich am Tisch gegenüber. Lydia steht vor ihnen, ein Stück Leinwand in der Hand.

ANNA Nein, nein, Lydia. Das geht nicht. Das kannst du so nicht lassen. Das mußt du ändern.

LYDIA klagend: O!

ANNA Der Hemdenausschnitt ist zu weit, ist viel zu weit, ist für ein junges Mädchen viel zu weit.

LYDIA O!

ANNA Schäme dich! Du mußt den Ausschnitt enger machen. Und dein Rock ist zu kurz und deine Strümpfe sind zu dünn. Wie du aussiehst! Lydia geht in die Küche.

ALEXANDER Ich habe gestern in der Oper den Faust gehört.

Anna sieht ihn aufmerksam an.

ALEXANDER Ich hab mich gewundert, daß der Teufel Baß sang. Ich hielt den Teufel für einen Tenor.

ANNA nimmt Wolle aus der Tischschublade: Halten Sie! Streift ihm die Wolle über die Hände und beginnt, sie zu einem Knäuel zu wickeln.

ALEXANDER Können Sie sich denken, daß der Teufel Baß singt? Ich hätte eher auf Sopran geraten.

ANNA Wie war er angezogen?

ALEXANDER Feuerrot, blutrot, wie die Wolle hier.

ANNA Halten Sie fester!

ALEXANDER Hab ich gezittert? Was wollen Sie stricken?

ANNA Strümpfe für mich.

ALEXANDER küßt schnell die Wolle: Rote Strümpfe ums weiße Knie.

ANNA Lassen Sie das und halten Sie fester.

ALEXANDER Ich liebe Sie.

ANNA Sie wissen, daß ich einen Mann habe.

ALEXANDER Liebe ich Sie darum weniger?

ANNA Aber Sie dürfen es mir nicht sagen.

ALEXANDER langsam: Ich ... liebe ... Sie ...

LYDIA kommt aus der Küche: Sebald ist noch immer nicht da ...

ANNA Ich weiß nicht, wo er sich herumtreibt. So bekommt er heut kein Abendessen.

LYDIA Ich habe ihm ein paar Butterbrote aufgehoben.

ANNA Iß sie nur selber. Du bist so mager, daß dir kein Rock halten will. Mach deine Frisur zurecht. Lydia ordnet vor dem Spiegel die Haare, geht in die Küche.

ALEXANDER Ich habe mir jetzt doch das Gütchen gekauft.

ANNA Der Preis?

ALEXANDER Fünfundsiebzigtausend Mark.

ANNA Ist das nicht zu teuer?

ALEXANDER Nein, nein, ich habe sogar ein gutes Geschäft gemacht.

ANNA So wollen Sie jetzt ganz aufs Land ziehen?

ALEXANDER Ich will mir eine Hühnerfarm anlegen. Ich will mir das Körnerfutter selber bauen, Wald und Wiese ist dabei, daß die Hühner scharren und flattern können. Es ist nicht viel Arbeit, und für das wenige will ich mir noch eine Magd einstellen.

ANNA Ich lebte gern auf dem Lande.

ALEXANDER Gehen Sie mit mir. Ich liebe Sie.

ANNA unwillig: Sie wissen, daß ich einen Mann habe.

ALEXANDER Durchschnittlich legt ein Huhn im Jahr zweihundertfünfzig Eier. Vielleicht richte ich mir einen Brutofen ein.

ANNA Ich hab das einmal gesehen, wenn das Ei zerspringt und der kleine Vogel ausschlüpft. Ich lebte gern auf dem Lande.

ALEXANDER Auf dem Hausdach hat ein Storch sein Nest gebaut. Das bedeutet Glück.

ANNA O, ein Storchennest. Ich lebte gern auf dem Lande.

ALEXANDER So gehen Sie mit mir.

ANNA unwillig: Mein Mann ...

ALEXANDER Die Scheidung ...

ANNA Achten Sie auf die Wolle.

LYDIA tritt ein: Hast du nichts gehört?

ANNA Was?

LYDIA horcht: Sebald ...

ANNA Ich höre nichts.

LYDIA Wo er nur bleibt? Geht in die Küche.

ALEXANDER Ich ... liebe ... Sie ...

ANNA Das will ich nicht hören.

ALEXANDER Ich ... liebe ... Sie ...

ANNA Ich habe schon einen Mann.

ALEXANDER Der abends nicht heimgeht. Der sich nicht um Sie kümmert. Der Sie vernachlässigt. Lieben Sie ihn?

ANNA Er ist mein Mann.

ALEXANDER Er ist Ihr Mann. Nun gut, aber lieben Sie ihn?

ANNA Ich liebe ihn, weil er mein Mann ist.

ALEXANDER Könnten Sie nicht auch mich lieben?

ANNA Aber Sie sind nicht mein Mann.

ALEXANDER Wenn Sie sich scheiden ließen? Wenn wir uns heirateten? Wenn wir ein Ehepaar würden?

ANNA Ich bin nun schon verheiratet.

LYDIA tritt ein: Hört ihr nichts? Anna und Alexander horchen. Sie sind immer noch durch die rote Wolle verknüpft. Sie stehen langsam auf, mit den Köpfen zur Tür. Man hört von tief unten schwere Schritte, die näher kommen. Es klopft schauerlich an der Tür. Anna und Alexander sind wie erstarrt.

LYDIA mit klarer Stimme: Herein. Die Tür springt auf. Der erste Schutzmann und der Totengräber tragen eine verdeckte Bahre herein und stellen sie nieder.

TOTENGRÄBER zu Lydia: Sie sind die Frau. Sie haben über mich zu richten. Sie sind seine Frau.

LYDIA Ich nicht, die dort. Weist auf Anna.

TOTENGRÄBER sieht Lydia forschend an: Sie nicht?

ANNA legt die Wolle auf den Tisch: Was ist?

TOTENGRÄBER zu Lydia: Sie haben über mich zu richten. Ich habe auf dem Weg hierher über meine Schuld nachgedacht. Da ist sie kleiner geworden. Sie sollen mich ganz freisprechen.

LYDIA Sie sind freigesprochen. Ganz langsam: Wer ... liegt ... auf... der ... Bahre ...? Der Totengräber hebt das Tuch von Sebalds weißem Gesicht. Anna kreischt wild auf, schlägt die Hände vors Gesicht, läuft in eine Ecke, wo sie schluchzend, das Gesicht gegen die Wand, stehenbleibt.

LYDIA läßt sich neben der Bahre auf die Knie fallen: Sebald! Sebald! Sebald!

TOTENGRÄBER Ihm hätte man keine Pistole geben dürfen.

DER ERSTE SCHUTZMANN Ich muß die Personalien aufnehmen. Der Untersuchungsrichter muß verständigt werden. Es ist viel zu tun. Zu Lydia: Wie heißen Sie?

LYDIA zu Sebald: Du hast mir nichts gesagt. Ich biß in ein Butterbrot, da legtest du an. Ich schmierte eins für dich, da drücktest du los. Ich nähte an meinen Hemden, sie trugen dich hierher.

DER ERSTE SCHUTZMANN Ich muß die Namen wissen. Den Geburtstag. Den Beruf. Zu Alexander: Mein Herr, können Sie mir Auskunft geben?

ALEXANDER Ich kann Ihnen einiges sagen. Sie treten beiseite, der Schutzmann notiert.

ANNA kommt langsam aus ihrem Eck, tränenüberströmt, kniet nieder neben Sebald, Lydia gegenüber: Daß du mir das antun konntest. Daß du mir das antun konntest. Habe ich das um dich verdient! War ich dir nicht immer eine gute Frau?

TOTENGRÄBER Sie hätten ihm die Pistole aus der Tasche nehmen müssen.

DER ERSTE SCHUTZMANN Beruf?

ANNA schluchzend: Habe ... ich ... das ... um ... dich ... verdient?

TOTENGRÄBER Ich hätte ihn daran hindern können. Warum habe ich ihm die Pistole nicht aus der erhobenen Hand geschlagen? Wenn Sie die Frau sind, sprechen Sie mich frei.

DER ERSTE SCHUTZMANN Das genaue Alter?

TOTENGRÄBER Er wollte, daß ich ihn lebendig begrübe. Aber das konnte ich doch nicht.

ANNA Was reden Sie?

TOTENGRÄBER Das sehen Sie doch auch ein, daß ich ihn nicht lebendig begraben durfte?

ANNA Scherzen Sie nicht mit einer Witwe. Sie steigern meine Verwirrung. Was sind das für dumme Redensarten?

TOTENGRÄBER ja, ja, ja, ich fühls auch, ich bin unschuldig.

DER ERSTE SCHUTZMANN Ich weiß das Nötigste jetzt. Morgen werde ich noch mehr erfahren. Guten Abend. Er salutiert und geht. Im Schweigen hört man seine verhallenden Schritte.

ALEXANDER zum Totengräber: Wir danken Ihnen für Ihre Bemühungen. Sie sind nicht mehr notwendig.

LYDIA steht auf, zum Totengräber: Er wollte sich lebendig begraben lassen?

TOTENGRÄBER Das konnte ich doch nicht.

LYDIA Nein, nein, das konnten Sie nicht. Gibt ihm die Hand. Und vielen Dank. Der Totengräber sieht noch einmal alle an und geht.

ALEXANDER bedeckt das Gesicht Sebalds, zu Anna: Setzen Sie sich. Sie müssen sich fassen. Wenn auch das Unglück groß ist. Lydia wankt, hält die Hand vor die Augen, Alexander springt zu, sie zu stützen. Sie steht und geht langsam in die Küche.

ANNA Ich habe nichts geahnt. Wir haben keinen Streit vorher gehabt. Unsere Ehe war immer glücklich. Und nun das.

ALEXANDER Fassen Sie sich.

ANNA Was hat der Totengräber dummes Zeug gesprochen? Etwas von lebendig begraben. Sebald war doch nicht lebendig begraben. Er lebte doch hier mit mir und war glücklich, und dieses Zimmer ist doch keine Gruft. Was hat der Totengräber nur so dummes Zeug gesprochen?

ALEXANDER Geben Sie nichts darauf,

ANNA Man muß für die Beerdigung sorgen. Man wird ihn nicht kirchlich beerdigen wollen. Man wird ihm ein christliches Grab verweigern. In der Selbstmörderecke wird man ihn verscharren. Ich überlebe die Schande nicht.

ALEXANDER Beruhigen Sie sich. Ich kenne den Amtsarzt. Er wird feststellen, daß Sebald die Tat in geistiger Umnachtung beging. Er kann es feststellen. Denn welche Gründe sollte Sebald sonst gehabt haben, sich zu töten? Man wird ihn christlich beerdigen.

ANNA Guter Freund. Ja, reden Sie mit dem Arzt. Und ich will morgen früh gleich zum Pfarrer gehn und ihn bitten – es ist .. so .. schrecklich .. Weint.

ALEXANDER Das wird sich alles in Ordnung abwickeln. Dafür lassen Sie mich Sorge tragen. Sebald soll ein wunderschönes Begräbnis bekommen. Ich werde die Trauermusik bestellen. Und ein Engel aus Marmor soll auf das Grab.

ANNA Guter Freund. Aber keinen Engel, der paßte wohl mehr auf ein Kindergrab. Ich denke mir: eine schwarze Säule, eine geborstene schwarze Marmorsäule. Weint. Gestern saß er noch hier am Tisch und jetzt reden wir über sein Begräbnis.

ALEXANDER Ich bitte Sie, in diesen schweren Tagen ganz über mich zu verfügen. Ich nehme Ihnen ab, was Sie mir abzunehmen erlauben.

ANNA Guter Freund.

ALEXANDER Sie wissen, daß ich Ihnen mehr sein möchte.

ANNA Nicht. Nicht in dieser Stunde. Schweigen Sie. Ich bitte Sie.

LYDIA kommt, setzt sich auf den Rand der Bahre: Er war lebendig begraben.

ANNA Fängst du jetzt auch an?

LYDIA Er war lebendig begraben. Es war ein Toter unter uns. Es aß mit uns und redete und lachte mit uns ein Gestorbener.

ANNA Sie wiederholt das Gerede des Totengräbers.

LYDIA Bruder, und ich habs nicht gespürt, daß du schon erkaltet warst. Ich habe wie ein Kind deine kalte Hand gehalten und gelacht und gesagt, sie ist wie ein Eiszapfen. Bruder, und da warst du schon tot.

ANNA Lydia, hör doch auf.

LYDIA sieht sich um: Ist das nicht wie eine Gruft? Fröstelnd: Lebe ich noch? Bin ich eine Tote unter Toten? Geht traurig in die Küche.

ANNA Was redete Sie?

ALEXANDER Der Schmerz hat sie verwirrt.

ANNA Sie ist ein Kind.

ALEXANDER Gleich nach dem Begräbnis zieh ich aufs Land. Das Haus ist eingerichtet. Ich kann es sofort bewohnen. Für Sie wäre ein Aufenthaltswechsel gut nach solchen Tagen. Ich kann Ihnen ein paar Zimmer einräumen im ersten Stock.

ANNA Nein, nein, das tu ich nicht.

ALEXANDER Und es wäre doch gut für Sie. Sie brauchten keine fremden Menschen sehen. Sie könnten ganz Ihrem Schmerz leben.

ANNA Wir können noch darüber reden. Noch ist alles zu frisch. Ich bin noch wie betäubt. Wie viele Zimmer haben Sie im ersten Stock?

ALEXANDER Drei.

ANNA Und Lydia?

ALEXANDER Sie kann mitkommen. Oder kann vorläufig hier wohnen bleiben, oder zu ihrer Großmutter ziehen.

ANNA Wir wollen sie fragen. Ruft: Lydia! Lydia! Lydia tritt unter die Tür.

ANNA Höre, Lydia, willst du hier wohnen bleiben einstweilen oder mit mir zu Herrn Alexander ziehen? Er bietet uns den ersten Stock seines Hauses an.

LYDIA teilnahmslos: Ich bleibe hier. Ist doch auch Sebald hier.

ANNA Aber nach dem Begräbnis?

LYDIA Ich will hierbleiben. Geht ihr doch, ich will hierbleiben. Tritt in die Küche zurück.

ANNA Es ist schwer mit ihr auszukommen. Sie hat viel von Sebald. Ich habe mich auch nie recht mit ihm verstanden.

ALEXANDER Ich werde morgen die Zimmer für Sie instand setzen lassen.

ANNA Ich habe mich noch nicht entschlossen. Die nächsten Tage bringen noch so viel Trauriges.

ALEXANDER Inzwischen werden auch die Brasilianer angekommen sein, die ich in Hamburg bestellt habe. Es sind große, schöne Tiere.

ANNA Ist das Gut mit der Bahn zu erreichen?

ALEXANDER Das Dorf liegt nur zehn Minuten von der Station.

ANNA So werde ich meine Witwenjahre auf dem Lande verbringen. Graue, trostlose Jahre.

ALEXANDER Ich liebe Sie.

ANNA Still, ich darf das nicht hören.

ALEXANDER Ich liebe Sie. Ich bitte Sie, meine Frau zu werden.

ANNA Still, o still, was reden Sie?

ALEXANDER Wir werden das Trauerjahr abwarten. Sie werden den Toten vergessen. Sie werden mich lieben lernen. Sie werden mich heiraten.

ANNA Schweigen Sie. Ich habe meinen Mann geliebt.

ALEXANDER Er ist tot, und Sie werden mich lieben.

ANNA weint: Armer, armer, lieber Sebald. Kniet neben der Bahre nieder.

ALEXANDER Erheben Sie sich. Sie dürfen ihn nicht immer ansehen. Wir wollen ihn in die Ecke tragen. Sie tragen die Bahre in eine Ecke, setzen sich dann wieder an den Tisch. Alexander greift in die Wolle. Anna lächelt. Alexander hebt die Wolle, küßt sie. Anna lächelt ein gleichbleibendes glückliches Lächeln.

ALEXANDER verträumt: Das Storchennest.

Vorhang

DRITTER AKT

Die Polizeiwache, ein kahler Raum ohne Fenster, grell beleuchtet. Ein großes Regal mit vollständig leeren Fächern an der einen Wand. Gegenüber ein dürftiges Stehpult. Kein Möbelstück sonst. Es ist Mitternacht. Die Schutzleute stehen im Halbkreis um den Inspektor und rapportieren.

DER ZWEITE SCHUTZMANN Es war schon ganz dunkel. Da fuhr er ohne Laterne zum Tor herein. Ohne Laterne auf dem Rad. Ich schrieb seinen Namen auf

DER DRITTE SCHUTZMANN Alles schlief Da zogen die beiden durch die Straßen und lärmten und sangen laut. Ich habe ihre Namen notiert.

DER VIERTE SCHUTZMANN Alle Lokale waren schon geschlossen. Im grünen Pfau war noch Licht. Durch eine Ritze im Fensterladen sah ich, wie er mit einem seltsam frisierten Mädchen tanzte. Die Polizeistunde war weit überschritten. Ich habe den Wirt, den Tänzer und die Tänzerin um ihre Namen gefragt.

DER ERSTE SCHUTZMANN Er hat sich vor dem Friedhof erschossen.

DER POLIZEINSPEKTOR aufgeregt: Erschossen?

DER ERSTE SCHUTZMANN Mit einer Pistole erschossen. In den Kopf

DER POLIZEIINSPEKTOR Das ist wichtig. Das ist sehr wichtig. Ich werde die Meldung sofort an den Herrn Staatsanwalt weitergeben. Grund der Tat?

DER ERSTE SCHUTZMANN Er hat sich erschossen, weil sich der Totengräber weigerte, ihn lebendig zu begraben.

DER POLIZEIINSPEKTOR Ich höre nicht recht. Weil ihn der Totengräber ...

DER ERSTE SCHUTZMANN Nicht lebendig begraben wollte.

DER POLIZEIINSPEKTOR Auch der Totengräber muß vernommen werden. Ein sonderbarer Selbstmörder. Ein Narr vermutlich.

DER ERSTE SCHUTZMANN zieht eine Pistole aus der Tasche: Hier ist die Waffe.

DER POLIZEIINSPEKTOR Ein Narr also. Auch der Herr Gerichtsarzt muß verständigt werden.

DER ERSTE SCHUTZMANN Der Totengräber fühlt sich schuldig, weil er ihm nicht zu Willen war.

DER POLIZEIINSPEKTOR Er hätte sich selber strafbar gemacht. Es ist natürlich verboten, Lebendige zu begraben.

DER ERSTE SCHUTZMANN Der Totengräber behauptete, er habe den Mann in den Tod getrieben durch seine Weigerung.

DER POLIZEIINSPEKTOR Was? Was? Ich werde ganz aufgeregt. Schweigen Sie. Ich verstehe das nicht. Dummes Zeug. Läuft hin und her. Unsinn. Es ist natürlich, daß der Totengräber sich strafbar gemacht hätte. Der Mann ist ein Narr.

DER ERSTE SCHUTZMANN Er macht sonst einen vernünftigen Eindruck.

DER POLIZEIINSPEKTOR Was? Was? Was? Ich werde irrsinnig, das ist eine irrsinnige Meldung. Zu den andern Schutzleuten: Was gab es sonst noch?

DER ZWEITE SCHUTZMANN Es stellte sich heraus, daß der Radfahrer auch keine Ausweiskarte hatte.

DER DRITTE SCHUTZMANN Die Ruhestörer entfernten am Marktplatz ein Ladenschild.

DER VIERTE SCHUTZMANN Die beiden, die so spät noch tanzten, sind Mitglieder des Allgemeinen Sozialistenvereins.

DER POLIZEIINSPEKTOR Ich werde Ihre Meldung auch an die politische Abteilung weiterleiten. Es klopft scharf Auf das Herein des Inspektors kommt der fünfte Schutzmann mit dem Liebespaar.

DER BURSCHE Das ist doch ein starkes Stück. Ich möchte mich beschweren.

DER POLIZEIINSPEKTOR Sie haben hier ruhig zu sein. Zu dem fünften Schutzmann: Machen Sie Ihre Meldung.

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Ich habe die beiden ertappt.

DER BURSCHE Ich werde mich beschweren. Das wäre ja noch schöner.

DER POLIZEIINSPEKTOR Sie haben zu schweigen. Zu den ersten vier Schutzleuten: Es ist gut. Gehen Sie wieder. Bedenken Sie, daß die schlafende Stadt Ihrer Hut anvertraut ist. Wer nach Mitternacht noch auf den Straßen sich herumtreibt, ist verdächtig. Ist lichtscheu. Ist schlimmer Gesinnung. Gehen Sie und bedenken Sie, daß die schlafende Stadt auf Sie vertraut. Die Schutzleute salutieren und gehen im Gänsemarsch ab.

DER BURSCHE Ich bitte um die Adresse des Herrn Justizministers. Ich werde ihm einen langen Brief schreiben. Ich will mich beschweren.

DER POLIZEIINSPEKTOR Schweigen Sie.

DER BURSCHE Ich schweige nicht. Ich werde reden. Ich werde sehr laut reden. Ich werde schreien.

DER POLIZEIINSPEKTOR Schweigen Sie. Zum Schutzmann: Melden Sie.

DER BURSCHE Da gibt es nichts zu melden. Zuerst will ich hier reden.

DER POLIZEIINSPEKTOR Ich lasse Sie abführen. Ich lasse Sie in Einzelhaft stecken, wenn Sie nicht schweigen. Zum Schutzmann: Melden Sie.

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Ich habe die beiden ertappt.

DER POLIZEIINSPEKTOR Was? Was? Was? Sie machen mich aufgeregt. Was heißt das wieder; ich habe die beiden ertappt? Was? Was? Was?

DER BURSCHE Wir gingen spazieren.

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Es war im städtischen Park.

DER BURSCHE Der städtische Park ist für jedermann. Ist für alle Leute. Ist auch für arme Leute.

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Es war im städtischen Park, in der Nähe des Friedhofs.

DER BURSCHE Tags arbeite ich. Tags kann ich nicht im Park spazieren gehen wie andere Leute. Aber nachts hab ich Zeit. Der städtische Park ist für alle.

DER POLIZEIINSPEKTOR Schweigen Sie. Sie verwirren alles. Zum Schutzmann: Reden Sie deutlich. Haben Sie die beiden beim Spazierengehen ertappt? Das ist nicht verboten. Da hat der Mensch recht. Ich hoffe, daß Sie keine Voreiligkeit begangen haben.

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Ich habe die beiden ertappt.

DER POLIZEIINSPEKTOR Was? Was? Was? Ertappt? Was heißt das?

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Auf einer Bank in der Nähe des Friedhofs.

DER BURSCHE Sind nicht die Bänke für alle da? Sind nicht die Bänke auch für uns da?

DER POLIZEIINSPEKTOR Da hat er recht. Die Bänke sind auch für ihn da. Zum Schutzmann: Ich hoffe, Sie haben keine Ungehörigkeit begangen.

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Ich habe sie ertappt. Sie haben sich umarmt.

DER BURSCHE Darf ich nicht mein Mädchen umarmen? Legt den Arm wie schützend um das Mädchen. In der Nacht, im städtischen Park auf der Bank, darf ich das nicht?

DER POLIZEIINSPEKTOR Das darf er. Da hat er recht. Warum haben Sie ihn festgenommen?

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Ich habe sie ertappt. Sie hatten sich umarmt. Ich nahm Ärgernis. Es war eine unsittliche Umarmung. Es war eine ungehörige Umarmung. Es war eine gemeine Umarmung.

DER BURSCHE drohend: Das sagen Sie noch einmal.

DAS MÄDCHEN beschwichtigend. Alois.

DER POLIZEIINSPEKTOR Verstehe ich Sie recht?

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Es war eine ganz und gar ungehörige Umarmung. Ich habe sie ertappt.

DER POLIZEIINSPEKTOR Das ist stark. Das ist sehr stark. Auf einer Alleebank. Zum Mädchen: Sie haben sich nicht geschämt?

DAS MÄDCHEN Ich habe mich nicht geschämt.

DER POLIZEIINSPEKTOR Sie haben kein Gewissen. Sie haben kein Gefühl für Ehre. Warum haben Sie das getan?

DAS MÄDCHEN Weil ich ihn liebe.

DER POLIZEIINSPEKTOR Ah, weil sie ihn liebt. Weil sie ihn liebt, vergißt sie Ehre und Anstand. Vergißt sie die Lehren ihrer Eltern, auf einer Alleebank.

DER BURSCHE Das geht niemanden etwas an. Das geht keinen Menschen etwas an.

DER POLIZEIINSPEKTOR Das ist verboten. Das ist strafbar. Das erregt Ärgernis im städtischen Park.

DER BURSCHE Wir haben keine Wohnung. Wir haben kein Bett.

DER POLIZEIINSPEKTOR Das darf nicht geduldet werden. Da muß eingeschritten werden. In der Nähe des Friedhofs.

DER BURSCHE Ich werde mich beschweren. Ich werde dem Herrn Justizminister schreiben. Der städtische Park ist für alle.

DER POLIZEIINSPEKTOR Für alle anständigen Leute. Für alle ehrlichen Leute. Für alle braven Leute.

DER BURSCHE Für alle armen Leute, die keine Wohnung haben, die kein Bett haben.

DER POLIZEIINSPEKTOR Nicht für Umarmungen. Nicht für ungehörige Umarmungen.

DAS MÄDCHEN zu Alois: Ich liebe dich.

DER POLIZEIINSPEKTOR Sie hat kein Gewissen. Sie hat kein Schamgefühl. Ich will nicht mehr länger mit ihnen verhandeln. Zum fünften Schutzmann: Haben Sie die Namen notiert? Haben Sie die Personalien festgestellt?

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Genau.

DER POLIZEIINSPEKTOR zum Liebespaar: Dann können Sie gehen. Gehen Sie. Schämen Sie sich. Im städtischen Park, auf einer Bank. Die beiden gehen.

DER POLIZEIINSPEKTOR kopfschüttelnd: In der Nähe des Friedhofs. Es klopft. Öffnen Sie. Der fünfte Schutzmann öffnet. Es tritt ein der Landstreicher und der sechste Schutzmann.

DER LANDSTREICHER zum Inspektor: Guten Abend, Exzellenz.

DER POLIZEIINSPEKTOR ohne den Landstreicher zu beachten, zum sechsten Schutzmann: Rapportieren Sie.

DER LANDSTREICHER auf den sechsten Schutzmann zeigend: Das ist ein sehr weichherziger Mensch.

DER SECHSTE SCHUTZMANN Ich traf den Mann ohne Ausweispapiere schlafend in einer alten Scheune.

DER LANDSTREICHER Ich bin bereit, die Miete für die Nacht zu bezahlen. Holt eine zerfetzte Brieftasche hervor.

DER POLIZEIINSPEKTOR Wo haben Sie das Geld her?

DER LANDSTREICHER Erbettelt.

DER POLIZEIINSPEKTOR Gestohlen.

DER LANDSTREICHER Ich bin fünfzehn Mal vorbestraft wegen Bettelns. Noch nie wegen Diebstahls.

DER POLIZEIINSPEKTOR Man hat Sie nie erwischt.

DER LANDSTREICHER Nie, Exzellenz. Wie wäre das auch möglich gewesen? Wo ich noch nie in meinem Leben etwas gestohlen habe?

DER SECHSTE SCHUTZMANN So? Nie? Und mir hat ers diesmal gestanden.

DER LANDSTREICHER Der Mann drückt sich ungenau aus, Exzellenz. Ich konnte keinen Diebstahl gestehen, weil ich keinen begangen habe.

DER SECHSTE SCHUTZMANN Wollen Sie jetzt leugnen? Wollen Sie Ihr Geständnis widerrufen? Aber ich habe die Beweise in der Tasche.

DER LANDSTREICHER Vorsicht. Geben Sie acht. Zerdrücken Sie keins. Geben Sie um Gottes willen acht. Ich habe die Löcher so sorgsam hineingebohrt. Achtung.

DER SECHSTE SCHUTZMANN zieht, während der Landstreicher besorgt zusieht, zwei große Eier aus den Hosentaschen: Da sind die Beweise. Hält auf den ausgestreckten Händen je ein Ei.

DER POLIZEIINSPEKTOR Was? Eier?

DER LANDSTREICHER Eier, Exzellenz. Zwei große, schöne, weiße Eier.

DER POLIZEIINSPEKTOR Ein Eierdieb also.

DER LANDSTREICHER Betrachten Sie die Eier genau, Exzellenz. Von allen Seiten. Ganz genau. Rund herum. Dreht die Eier auf den Händen des Schutzmanns. Was sind das für Eier?

DER POLIZEIINSPEKTOR Man sieht es ihnen so ohne weiteres nicht an, daß sie gestohlen worden sind.

DER SECHSTE SCHUTZMANN Er hat mirs gestanden.

DER LANDSTREICHER Die Miete will ich dem Eigentümer der Scheune bezahlen für die Nacht. Für die Eier zahle ich nichts. Der Eigentümer wird kein Geld nehmen.

DER POLIZEIINSPEKTOR Sie behaupten, daß Ihnen jemand die Eier geschenkt hat?

DER LANDSTREICHER Ich habe sie mir genommen.

DER POLIZEIINSPEKTOR Also doch ein Dieb.

DER LANDSTREICHER Kein Dieb, Exzellenz.

DER SECHSTE SCHUTZMANN Er hat mirs gestanden. Er hat die Eier aus dem Nest genommen.

DER POLIZEIINSPEKTOR Wie heißt der Bauer? Von welchem Hof?

DER LANDSTREICHER Betrachten Sie die Eier genau, Exzellenz, rund herum. Dreht wieder die Eier auf den noch immer ausgestreckten Händen des Schutzmanns. Das sind keine Hühnereier.

DER POLIZEIINSPEKTOR Gänseeier?

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Enteneier?

DER SECHSTE SCHUTZMANN Triumph: Storcheneier.

DER POLIZEIINSPEKTOR Storcheneier? Ja, woher?

DER LANDSTREICHER Aus dem Nest.

DER SECHSTE SCHUTZMANN Aus dem Nest gestohlen.

DER LANDSTREICHER Auf dem Dach der alten Scheune ist ein Storchennest. Ich habe mir zwei Eier daraus geholt. Sie waren noch nicht angebrütet. Ich hab sie ausgetrunken. Es reichte für ein Abendmahl.

DER POLIZEIINSPEKTOR Ausgetrunken?

DER LANDSTREICHER Ich habe vorsichtig zwei Löcher hineingebohrt und die Eier dann ausgetrunken.

DER POLIZEIINSPEKTOR Dann sind sie leer. Nimmt Sie von den Händen des Schutzmanns und beschaut sie rund herum.

DER LANDSTREICHER Vorsicht. Obacht. Sie zerbrechen so leicht.

DER POLIZEIINSPEKTOR sieht wie durch ein Fernrohr hindurch: Leer.

DER LANDSTREICHER Ganz leer.

DER POLIZEIINSPEKTOR Ja, mit welchem Recht?

DER LANDSTREICHER Die Miete für die Nacht in der Scheune will ich bezahlen. Für die Eier zahle ich nichts.

DER POLIZEIINSPEKTOR Ein schwieriger Fall. Sie hätten vorher bei der Behörde anfragen sollen, ob es erlaubt ist. Wahrscheinlich ists Forstfrevel.

DER SECHSTE SCHUTZMANN Tierquälerei.

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Vergehen gegen das Vogelschutzgesetz.

DER POLIZEIINSPEKTOR Der Storch ist ein sehr nützliches Geschöpf

DER FÜNFTE SCHUTZMANN Er fängt Frösche, Wasserschlangen.

DER SECHSTE SCHUTZMANN Und Feldmäuse.

DER POLIZEIINSPEKTOR Sie haben das behagliche Familienleben des Tieres gestört. Die Aufzucht verhindert. Ihm die Nestruhe genommen.

DER LANDSTREICHER Ich schlafe im Straßengraben. Ich decke mich mit Steinen zu.

DER POLIZEIINSPEKTOR Ich werde das Gutachten der Oberförsterei einholen. Einstweilen müssen wir Sie hierbehalten.

DER LANDSTREICHER Aber ich will ja die Nacht in der Scheune bezahlen.

DER POLIZEIINSPEKTOR In die Haftzelle! Die beiden Schutzleute nehmen den Landstreicher bei den Armen.

DER LANDSTREICHER In der alten zerfallenen Scheune. Das kann doch nicht viel kosten. Die Schutzleute führen ihn zur Tür. Warum soll ich jetzt in Haft gesetzt werden?

DER POLIZEIINSPEKTOR winkt. Sie gehen mit dem Landstreicher ab. Der Inspektor steht allein. Er sieht durch das Ei, schüttelt den Kopf: Ein Storchenei.

Vorhang

VIERTER AKT

Der Salon des Bordells, grell beleuchtet. Rote Plüschbänke an den Wänden. Ein kleines hochbeiniges Tischchen, sonst keine Möbel. Keine Fenster. Die Bordellwirtin und die drei Mädchen sitzen gelangweilt umher.

IRENE gähnt: Uäh, fader Abend.

MAJA gähnt: Ooah, es ist zum Auswachsen langweilig.

EVA gähnt: Wo ist mein Buch? Wo ist mein Roman? Wo bin ich stehn geblieben? Habt ihr mein Buch nicht gesehen?

IRENE Was kümmert uns dein Buch?

MAJA verschmitzt: Wo wirds denn sein?

IRENE Ich weiß nicht, wo es ist.

MAJA Laß deine Sachen nicht so herumschlampen.

EVA Ihr habt es. Gebt es her.

IRENE Was fällt dir ein?

MAJA Dich hats.

EVA Ich kratz euch die Augen aus. Ich reiß euch die falschen Locken herunter. Gebt mir mein Buch.

IRENE Schrei nicht so, du Aff

MAJA Plärr nicht so, du Gans.

IRENE Halt den Rand, Mistfink.

MAJA Schweig, du Spinatwachtel.

EVA Ich kratze euch. Ich spucke euch an. Ich schlage euch. Hebt die Hand zum Schlage.

IRENE Schlag her, wenn du Kurasch hast.

MAJA Ich brech dir die Finger ab. Faßt Evas Hand und biegt ihr die Finger um. Die Bordellwirtin ist bis jetzt teilnahmslos gesessen. Sie zieht das Buch unter der Bank hervor und schlägt damit auf die Mädchen ein.

DIE BORDELLWIRTIN Ihr Rotznasen, ihr Pfifferlinge, ihr Hemdennässerinnen, wollt ihr stille sein? Wollt ihr kuschen? Die Mädchen fahren auseinander.

EVA Sie haben mein Buch versteckt gehabt. Sie sollen meine Sachen in Ruhe lassen.

IRENE Einen Spaß darf man doch noch machen. Einen Scherz darf man sich doch noch erlauben.

MAJA Was braucht sie gleich so zu schimpfen, die Gräfin. Was braucht sie die Hand gegen uns aufzuheben.

IRENE Es war ein ganz harmloser Spaß.

MAJA Sie braucht nicht alles gleich krumm zu nehmen, die Baronin.

IRENE Sie denkt, sie kann uns Theater vorspielen.

MAJA Sie denkt, wir glauben es ihr, daß sie einmal beim Theater war.

IRENE Das Theater möcht ich sehen, wo die war.

MAJA Das Theater möcht ich kennen, wo die gespielt hat.

IRENE Das wird schon das richtige Theater gewesen sein.

MAJA Hu, die und beim Theater.

EVA mit geballten Fäusten vor ihnen: Schweigt, schweigt, schweigt!

DIE BORDELLWIRTIN Wollt ihr Ruhe geben, ihr Drecklappen? Müßt ihr immer streiten?

IRENE Naja, weils wahr ist. Wenn man einem jedes Wort im Mund ersticken will.

MAJA Sie braucht sich nicht gleich so zu zieren.

IRENE holt aus ihrer Tasche ein Stück Schokolade und beginnt zu essen: Fein. Fein. Das Pfund immer noch fünfundzwanzig Mark. Die drei schauen neidisch zu.

MAJA Wo hast du sie gekauft?

IRENE Geschenkt bekommen.

MAJA Ich erwisch nie so einen Kavalier

EVA Ich auch nicht.

IRENE schnullend: Fein. Fein.

MAJA Ist es Milchschokolade?

IRENE Feinste Milchschokolade.

EVA Früher gab es Schokolade, die war mit Nüssen gefüllt.

IRENE Er hat mir versprochen, mir einmal auch gefüllte zu bringen.

MAJA Mir schenkt nie einer was.

EVA Hast du noch viel?

IRENE zeigt noch ein großes Stück: Fein. Fein .

EVA Laß mich auch abbeißen.

MAJA Schenk mir auch ein Stück.

IRENE Ihr seid nicht gescheit. Das Pfund kostet fünfundzwanzig Mark.

EVA Ein kleines Stückchen bloß.

MAJA Nur einen Bissen. Irene macht drei Teile und gibt jeder.

EVA Fein.

MAJA Großartig.

DIE BORDELLWIRTIN Es ist gute Milchschokolade. Alle vier kauen.

IRENE Morgen will er wiederkommen. Und ein großes Stück Milchschokolade mitbringen. Es klingelt scharf.

EVA Uäh, ein Gast. Schon. Es ist noch nicht zehn. Die Bordellwirtin geht, um zu öffnen.

MAJA Wer wirds sein? Ein Viehhändler.

EVA Ein Student.

IRENE Ein Leutnant.

MAJA Ein Kohlenarbeiter.

EVA Ein Bäckermeister.

IRENE Ein Handlungsgehilfe. Die drei Mädchen gähnen laut. Die Bordellwirtin kommt, hinter ihr Lydia in einem dünnen Kleidchen.

EVA O Gott, ein Vögelchen.

MAJA Ein Spatz.

IRENE Was will denn die Kleine?

DIE BORDELLWIRTIN Was wollen Sie, Fräulein?

LYDIA Ich will mit Ihnen reden.

DIE BORDELLWIRTIN Aber Schnell, bevor die Gäste kommen. Was wollen Sie?

LYDIA Bin ich hier ... bin ich hier recht?

DIE BORDELLWIRTIN Das kommt drauf an, wo Sie hinwollen. Sie sind hier ...

EVA Im Freudenhaus.

MAJA Im Haus der Freude.

DIE BORDELLWIRTIN Im Bordell.

LYDIA Im Haus der Freude? Im Haus der Liebe?

MAJA Gerade da.

IRENE Liebe soviel Sie wollen, keine Bange.

EVA Mehr Liebhaber als dir bald lieb sein wird.

DIE BORDELLWIRTIN Was Wollen Sie?

LYDIA Ich will bei Ihnen bleiben.

DIE BORDELLWIRTIN Das wird sich machen lassen. Wie alt sind Sie?

LYDIA Zweiundzwanzig.

DIE BORDELLWIRTIN Gesund?

LYDIA Ja.

IRENE Sags nur, wies ist, der Arzt kriegts doch raus.

EVA Der kommt jeden dritten Tag. Mädchen, da gibts nichts.

DIE BORDELLWIRTIN Ein bissel mager bist du, ein bissel mager. Befühlt Lydias Brust.

LYDIA Lassen Sie.

MAJA Ei, das Täubchen.

IRENE Werden dich bald mehr anrühren.

EVA Hättst draußen bleiben müssen.

DIE BORDELLWIRTIN Was wollen Sie bei uns? Kennen Sie die Bestimmung dieses Hauses? Was zieren Sie sich dann?

LYDIA Hier lieben die Menschen einander?

IRENE Nicht zu wenig.

LYDIA Hier geht keiner ungeliebt aus der Tür?

EVA Hast du Angst, daß dir einer auskommt?

LYDIA Hier darf man gut zu jedem sein? Hier darf mans jedem zeigen, daß man ihm gut ist? Ich will zu jedem gut sein. Ich will jeden lieb haben.

DIE BORDELLWIRTIN Das darfst du. Das sollst du. Aber ein bissel mager bist du, ein bissel mager. Betastet Lydia, die den Kopf senkt und es sich stumm gefallen läßt.

EVA Kindchen, du wirst bald nicht mehr so begierig sein aufs Liebhabendürfen.

LYDIA Das ist das Haus der Freude. Ungetröstet soll keiner von mir gehen.

IRENE Die geht scharf ins Zeug.

MAJA Sie sieht aus wie ein Bürgermädel.

EVA Aber sie redet wie eine alte Hur. Ich genier mich fast.

DIE BORDELLWIRTIN Hast du keine Kleider? Keine Koffer? Wasche?

LYDIA Ich bin gegangen, wie ich war und stand. Ich wollte keinen Augenblick mehr verweilen. In jeder Stunde kann sich ein Ungeliebter auf immer verlieren.

DIE BORDELLWIRTIN Du kriegst alles bei uns auf Vorschuß.

LYDIA Ich hab ihn geliebt und hab es ihm nicht gezeigt. Ich will nicht mehr so verstockt sein. Jeder soll meine Liebe spüren.

EVA Schöne Absichten.

MAJA Das gibt sich schon. Es klingelt.

DIE BORDELLWIRTIN Ein Gast. Geht um zu öffnen.

IRENE Hoffentlich gefall ich ihm nicht.

EVA Ich möcht noch in meinem Roman lesen.

DIE BORDELLWIRTIN kommt mit dem ersten Schutzmann und dem Totengräber. Sie zeigt auf die Mädchen, die gelangweilt und kokett neben einander sich gestellt haben: Die Damen, bitte.

DER TOTENGRÄBER Guten Abend. Der erste Schutzmann salutiert.

EVA streichelt des Totengräbers Kinn: Alter Herr, gehn wir nach oben.

MAJA hängt sich beim Schutzmann ein: Schatz, schenk mir was.

DER TOTENGRÄBER macht eine tiefe Verbeugung vor Lydia: Das allergnädigste Fräulein? Wo haben Sie die Binde mit dem roten Kreuz? Sie sind Schwester und sind da, um zu helfen.

LYDIA Zu helfen bin ich da.

MAJA Schwester, haha?

EVA Vom roten Kreuz, uäh.

IRENE Fehlt nur die Binde um den Arm, hoho.

DER TOTENGRÄBER Warum lachen Sie so, meine Damen?

DER ERSTE SCHUTZMANN Ja, warum?

DIE BORDELLWIRTIN Die Lydia ist heute eingetreten bei uns. Frisches Fleisch. Kneift sie in den Schenkel. Wer hat Lust?

DER TOTENGRÄBER zu Lydia: Sie wären, allergnädigstes Fräulein?

DER ERSTE SCHUTZMANN In diesem Hause ...

LYDIA Diesem Haus der Freude.

DER TOTENGRÄBER Ich habe Ihren Bruder gemordet. Sie haben mich freigesprochen. Nun bringen Sie neue Schuld über mich. Was tun Sie hier? Wenn Ihr Bruder das wüßte. Wenn Ihr Bruder lebte, er holte Sie weg.

MAJA Du hast einen umgebracht, Alter?

IRENE Der sieht gar nicht so aus.

EVA zum Schutzmann: Und du läufst mit einem Mörder?

DER ERSTE SCHUTZMANN Die Sache verhält sich anders.

LYDIA zum Totengräber: Meines Bruders wegen bin ich da. Als er lebte, war er schon begraben. Weil er ohne Liebe war. Nicht Sie tragen Schuld an seinem Tod. Schreit: Ich. Ich. Ich.

IRENE Was hat sie?

EVA Was kreischt sie?

MAJA Na, du, sei ruhig.

LYDIA Ich liebte ihn und zeigte es ihm nicht. Drum ging er in den Tod. Ich will alle Menschen lieben. Keiner soll mehr sterben durch meine Schuld.

DER TOTENGRÄBER Allergnädigstes Fräulein, gehen Sie mit mir nach oben.

DIE BORDELLWIRTIN Also, los. Geht schon.

DER TOTENGRÄBER nimmt Lydia um die Taille: Allergnädigstes Fräulein, gehen Sie mit mir nach oben.

DIE BORDELLWIRTIN stampft mit dem Fuß: Na, wirds?

DER TOTENGRÄBER Allergnädigstes Fräulein, wenn Sie mit mir nach oben gehen möchten. Hat immer noch den Arm um sie gelegt.

MAJA Der alte Ziegenbock.

EVA Los mit dem Knackstiebel.

IRENE Tränensäcke hat er unter den Augen.

DER TOTENGRÄBER Allergnädigstes Fräulein, wollen wir nicht endlich nach oben gehen?

LYDIA Was soll ich tun? Warum? Können wir nicht auch hier unten bleiben?

DER TOTENGRÄBER Sie sollen mich lieben.

LYDIA Aber warum sollen wir nach oben gehen?

DER TOTENGRÄBER Allergnädigstes Fräulein, hier ... hier ...?

LYDIA Ja, ja, hier.

DIE BORDELLWIRTIN Bist du verrückt? Das ist gegen die Hausordnung.

EVA Das fehlte noch.

MAJA Meinetwegen. Mir ists gleich. Ich sehe gern einmal zu, wenn eine andere arbeitet.

DER TOTENGRÄBER Allergnädigstes Fräulein, es ist doch besser, wir gehen nach oben.

LYDIA Was wollen Sie?

DER TOTENGRÄBER Lieb haben sollen Sie mich!

LYDIA Ja. Ja. Ich hab Sie lieb.

DER TOTENGRÄBER So seien Sie doch ... zärtlich zu mir.

LYDIA Ja.

DER TOTENGRÄBER Streicheln Sie mich.

LYDIA Ja. Sie fahrt ihm übers Gesicht. Er legt unvermutet die Arme um ihren Hals und küßt sie. Sie springt erschrocken an die Wand zurück. Nicht. Nicht. Nicht.

DER TOTENGRÄBER Allergnädigstes Fräulein, Sie können es nicht.

LYDIA Ich will. Geht wie taumelnd ein paar Schritte auf ihn zu.

DER TOTENGRÄBER Allergnädigstes Fräulein, Sie sind zu fein dafür. Sie scherzen. Sie sind doch nur als Schwester hier, auf Visitation.

LYDIA Nein. Nein.

DER TOTENGRÄBER Allergnädigstes Fräulein, Sie sind nichts für mich. Zu Maja: Gehen Sie mit mir nach oben.

MAJA Jetzt kommen sie zu mir, alter Herr. Weil Sie dort einen Korb bekommen haben.

LYDIA zum Totengräber: Gehen Sie nicht.

DER TOTENGRÄBER Allergnädigstes Fräulein sind zu fein. Macht eine Verbeugung vor Lydia und geht mit Maja ah.

DIE BORDELLWIRTIN zu Lydia: Da wirst dus weit bringen, wenn du dich immer so zierst.

EVA zum Schutzmann: Und wir, Schatz, wollen wir uns nicht lieb haben?

DER ERSTE SCHUTZMANN zur Wirtin: Ist das Mädchen – auf Lydia weisend – ordnungsgemäß eingetragen? Angemeldet? Untersucht?

DIE BORDELLWIRTIN Sie ist volljährig und kann tun, was sie will.

DER ERSTE SCHUTZMANN Und die ärztliche Untersuchung?

DIE BORDELLWIRTIN Morgen.

DER ERSTE SCHUTZMANN Die polizeiliche Anmeldung?

DIE BORDELLWIRTIN Morgen.

EVA Fadian, laß doch die dumme Fragerei.

DIE BORDELLWIRTIN Wollen Sie noch mehr wissen?

DER ERSTE SCHUTZMANN wendet sich wieder Eva zu: Später. Vielleicht.

IRENE zu Lydia: Kannst du Sechsundsechzig spielen? Sie hat ein Spiel Karten in der Hand.

LYDIA Nein.

IRENE gähnt: Wie langweilig. Es klingelt.

DIE BORDELLWIRTIN Ein Gast. Geht um zu öffnen. Man hört die Stimme der Wirtin und eine grobe Männerstimme streiten. Eintreten die Wirtin und ein betrunkener Matrose.

DER MATROSE Dieses freche Weib. Faust gegen die Wirtin. Will einem ehrlichen Mann den Eintritt verwehren. Ich zahl mein Geld wie jeder andere und will behandelt werden wie jeder andere.

DIE BORDELLWIRTIN Stinkt auf drei Meter nach Schnaps.

DER MATROSE Besser als nach Zwiebeln wie ein Jud.

DIE BORDELLWIRTIN Besoffenes Schwein.

DER MATROSE Dreckiges Luder.

IRENE Mach, daß du wieder rauskommst.

DER ERSTE SCHUTZMANN Verlassen Sie das Lokal.

DER MATROSE Du Bleisoldat.

DER ERSTE SCHUTZMANN Ich warne Sie. Es kann Beamtenbeleidigung entstehen.

DER MATROSE Mir gleich. Ich bleib. Setzt sich schwer schnaufend.

DIE BORDELLWIRTIN So ein Kerl.

DER ERSTE SCHUTZMANN Warum ließen Sie ihn herein?

DIE BORDELLWIRTIN Wenn er mir fast die Tür eindrückte.

DER MATROSE grölt, schlägt auf seine Armmuskeln: Wenn ich dich nur zerquetscht hätte.

DER ERSTE SCHUTZMANN Keine Bedrohung.

DER MATROSE Steht auf schwankt zu Lydia: Mein Püppchen. Hascht nach ihr. Taumelt. Mein Zuckerpüppchen. Lydia weicht ihm leicht mit dem Oberkörper aus.

DER MATROSE abschätzend: Zu dünn. Alles zu dünn. Kneift sie in den Arm. Zu wenig Fleisch. Verächtlich: Viel zu dünn. Wendet sich von ihr.

DIE BORDELLWIRTIN Wählerisch auch noch.

DER MATROSE besieht sich Eva: Kleiner Schneck. Geht um sie herum. Krumme Beine.

EVA kreischt. Frecher Mensch. Frecher Mensch.

DER MATROSE Krumme Beine und lange Arme. Greift ihr in die Bluse. Keine Brust.

EVA schlägt nach ihm: Verschwind. Der Schnaps steht dir in den Augen.

DER MATROSE Deine krummen Beine sah ich noch. Geht zu Irene. Na, mein Butterblümchen, Schockoladehäschen, Marzipantierlein. Du gefällst mir. Alles da. Klatscht ihr auf den Hintern. Geh mit mir nach oben.

IRENE Streckt ihm die Zunge heraus: Mit des Teufels Gevatterin kannst du nach oben gehen.

DER MATROSE Du gefällst mir. Sei lieb zu mir.

IRENE Du meinst, ich rieche Schnaps gern?

DER MATROSE Ich schenke dir ein Goldstück.

IRENE Nicht für drei.

DER MATROSE erwischt sie bei der Hand, will sie zur Tür schleppen: Komm. Komm. Red nicht.

IRENE Hilfe.

DER ERSTE SCHUTZMANN Lassen Sie das Mädchen los.

DER MATROSE Dummes Ding. Wendet sich wieder zu Eva: Ich schenke dir zwei Goldstücke.

EVA Nicht für drei.

DER MATROSE Ich will mir zuvor den Mund spülen, daß der Schnapsgeruch verschwindet.

EVA Ich mag nicht.

DER MATROSE wütend, zur Wirtin: Was hast du da für Gänse? Wozu sind sie denn da? Ich zahl wie jeder andere.

DIE BORDELLWIRTIN Gehen Sie wieder. Gehen Sie in ein anderes Haus.

DER MATROSE wieder zu Irene: Dicke, geh mit mir.

IRENE Geh heim und schlaf deinen Rausch aus.

DER MATROSE Aas.

DER ERSTE SCHUTZMANN Keine Beleidigungen.

DIE BORDELLWIRTIN zum Matrosen: Sind Sie immer noch da?

DER MATROSE Ich geh nicht eher bis ...

LYDIA tritt vor den Matrosen hin: Nimm mich.

DER MATROSE zweifelnd: Das Püppchen?

LYDIA Ich will mit dir nach oben gehen.

DER MATROSE Du Püppchen.

IRENE Da wäre mir der alte Herr noch lieber gewesen.

EVA Pfui Teufel.

DIE BORDELLWIRTIN Wenn du willst ... Ich verlangs nicht von dir.

DER MATROSE nimmt Lydias Hand: Fingerlein klein. Rülpst: Los, gehn wir.

LYDIA zur Wirtin: Wollen Sie mir nicht sagen ...? Ich will ihn lieb haben, aber was muß ich da tun?

EVA Das ist nicht schwer. Er wirds schon wissen.

DIE BORDELLWIRTIN Du wirsts schon merken.

LYDIA Werd ichs können?

IRENE Sicherlich. Jedenfalls.

DER MATROSE legt den Arm um Lydia: Ich schenke dir zwei Goldstücke.

LYDIA Ich will dein Geld nicht. Ich will mit dir gehen, weil du nach Liebe verlangst.

DER MATROSE Ich will nichts geschenkt haben. Ich zahl mein Geld wie jeder andere.

DIE BORDELLWIRTIN Nimm sein Geld und gib es mir.

IRENE Das ist das wichtigste.

DIE BORDELLWIRTIN giftig: Schweig, du.

LYDIA Ich denk an meinen toten Bruder, daß es mir leichter fällt.

EVA Er wird sich im Grab umdrehen.

DER ERSTE SCHUTZMANN Man müßte einschreiten. Das Mädchen ist nicht normal.

DIE BORDELLWIRTIN Laß dir die Goldstücke geben, hörst, die Goldstücke.

DER MATROSE Habt ihr weiche Betten?

EVA Für dich täts auch ein Strohsack.

DER MATROSE Komm. Komm. Komm. Begehrlich. Strebt zur Tür.

LYDIA Muß, muß, muß es sein?

DER MATROSE hitziger, schwankend: Marsch, rauf und ins Bett.

LYDIA O Bruder. Beide ab.

DER ERSTE SCHUTZMANN mit Bleistift und Notizbuch: Wie heißt das Mädchen? Ich werde doch morgen Meldung machen beim Amt. Ich glaube. Sie werden Schwierigkeiten bekommen.

EVA Sei nicht fad.

DIE BORDELLWIRTIN Sie ist volljährig.

IRENE Ein erwachsener Mensch.

EVA Und kann tun, was sie will.

DIE BORDELLWIRTIN Das geht uns nichts an.

DER TOTENGRÄBER kommt, am Arm Maja: Mich friert. Reibt sich die Hände.

EVA Der ist gut, den friert.

DIE BORDELLWIRTIN Das Geld?

MAJA holts aus dem Strumpf: Da.

DIE BORDELLWIRTIN zählt: Das ist zu wenig.

EVA Ausplündern will sie uns.

DIE BORDELLWIRTIN Und meine Kosten? Und meine Auslagen? Das elektrische Licht? Das Essen? Meint ihr, ich bekomme alles geschenkt? Die Miete?

MAJA Ich hab nicht mehr.

DIE BORDELLWIRTIN bettelnd: Ein paar Mark noch.

MAJA Ich hab nicht mehr.

DIE BORDELLWIRTIN reißt ihr das Ledertäschchen aus der Hand: Wollen sehen.

MAJA wütend: Gemeinheit.

EVA Frechheit.

DER ERSTE SCHUTZMANN Das dürfen Sie nicht. Das ist Diebstahl.

DER TOTENGRÄBER Das Geld gehört dem Mädchen.

DIE BORDELLWIRTIN Und meine Auslagen? Die vielen Kleider? Hat einen Schein aus dem Täschchen genommen und es dem Mädchen wieder gegeben.

MAJA wütend, verbirgt das Täschchen im Strumpf: Der Hungerlohn wird einem auch noch gekürzt.

DIE BORDELLWIRTIN Und meine Auslagen?

DER TOTENGRÄBER Das war nicht recht.

DER ERSTE SCHUTZMANN Das war Diebstahl.

EVA Gemeiner Diebstahl.

DER TOTENGRÄBER Wo ist das allergnädigste Fräulein? Von oben ein langer, lauter Schrei. Alle fahren zusammen und schweigen in unbeweglicher Haltung einige Augenblicke. Dann wiederholt der Totengräber die Frage: Wo ist das allergnädigste Fräulein?

DIE BORDELLWIRTIN Sie ist nach oben gegangen.

EVA Die Zierpuppe, was schreit sie so.

IRENE Naja, halt das erste Mal.

MAJA Sie ist schon wieder ruhig. Alle sind noch seltsam bedrückt.

DER ERSTE SCHUTZMANN Es ist schon wieder alles in Ordnung.

DER TOTENGRÄBER Wo ist das allergnädigste Fräulein?

DIE BORDELLWIRTIN Ach, oben.

EVA Sie wird schon wieder runter kommen.

IRENE Mit zwei Goldstücken.

DER ERSTE SCHUTZMANN Ich muß dann noch ihre genauen Personalien aufnehmen. Man hört jemand die Stiege herunter poltern. Eintritt, verstört, lallend, der Matrose. Lehnt an der Wand wie erschöpft, schweigt.

DIE BORDELLWIRTIN Was ist?

EVA Schon da?

IRENE Wo ist die Kleine?

DER TOTENGRÄBER Wo ist sie?

DER MATROSE Sie liegt droben.

DIE BORDELLWIRTIN Warum geht sie nicht mit runter?

DER MATROSE Sie kann nicht mehr gehen.

MAJA Ist sie so müde?

DER MATROSE Todmüde.

DER TOTENGRÄBER Warum hat sie so geschrien?

EVA Ja, warum?

DER MATROSE Vor Schreck.

IRENE Hol sie doch jetzt.

DER MATROSE Ich kann sie allein nicht tragen.

EVA Wenn du sie führst, wirds schon gehen.

DER MATROSE Man muß sie schon tragen. Sie ist tot. Alle verharren unbeweglich.

DER TOTENGRÄBER Tot? Anschwellend: Tot?

DIE BORDELLWIRTIN zum Matrosen: Dann gib mir die Goldstücke.

DER ERSTE SCHUTZMANN zum Matrosen, indem er den Bleistift zieht: Wie heißen Sie? Wann sind Sie geboren?

Vorhang

FÜNFTER AKT

Wieder vor dem Friedhof. Abend, Mond und tiefschwarze Schatten. Noch liegen da Peitsche und Kreisel. Die Bühne ist leer. Man hört das Rollen der Straßenbahn, ein kurzes Läuten. Es kommen von links die beiden Straßenbahner im Gespräch.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Zehn Minuten Aufenthalt.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Bis zum letzten Wagen.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Gehen Sie mit, heut abend?

DER ANDERE STRASSENBAHNER Wohin?

DER ERSTE STRASSENBAHNER Versammlung des allgemeinen Sozialistenvereins.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Nein. Meine Frau ...

DER ERSTE STRASSENBAHNER Die können Sie doch mitnehmen.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Das Kind ...

DER ERSTE STRASSENBAHNER Das geben Sie der Nachbarin in Pflege.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Kurz, ich mag nicht.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Das ist sündhaft.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Oho.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Das ist schwere Sünde.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Glaubs nicht.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Kennen Sie Marx?

DER ANDERE STRASSENBAHNER Nein, wer ist das?

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ein Schriftsteller.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Ach.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ein sozialistischer Schriftsteller.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Er wird lügen.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Er lügt nicht.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Vielleicht ... merken Sies nur nicht.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ah, er lügt nicht, ich fühls.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Ich bleib zu Hause.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Soll ich Ihnen etwas sagen, etwas Sozialistisches?

DER ANDERE STRASSENBAHNER mit abwehrender Hand: Ach.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Soll ich Ihnen etwas sagen, etwas Sozialistisches, das Ihnen wie der Blitz ins Herz fahren wird?

DER ANDERE STRASSENBAHNER Ach.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Etwas Sozialistisches, einen Satz, der Ihnen die Welt umkehrt, um und um.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Ach.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Einen Satz, etwas Sozialistisches, daß Sie sich mit den Händen an der Mauer halten werden, weil Sie fürchten, der Weg könne Sie allzu schnell in den Himmel reißen.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Ach.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Etwas Sozialistisches, ein Wort, das Sie zersprengt, einen Satz, der Ihre Augen tanzen macht.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Ach.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Hören Sie, was der Sozialismus Ihnen sagt: Jeder Mensch soll gleichen Anteil haben an allem dieser Erde. Weil der andere sich nicht rührt, eindringlich: Gleichen .. Anteil .. an .. der .. Erde.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Ach.

DER ERSTE STRASSENBAHNER erschrickt: Haben Sie mich nicht recht verstanden? Hören Sie: Gleichen Anteil.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Ach.

DER ERSTE STRASSENBAHNER schreit: Gleichen Anteil. Sie hören das Evangelium und zittern nicht? Sie hören das Wort und fallen nicht in die Knie?

DER ANDERE STRASSENBAHNER Ach. Redensarten. Hirngespinste. Phantastereien.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Das .. das ist ..

DER ANDERE STRASSENBAHNER Ich esse am Sonntag Schweinebraten.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Das .. das ist ..

DER ANDERE STRASSENBAHNER Das ist Zufriedenheit. Nur ein zufriedenes Herz macht glücklich.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ich bin ..

DER ANDERE STRASSENBAHNER Sie sind Sozialist, Kamerad, ich, kurz, bin es nicht.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Aber Sie sind ein Mensch.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Meins.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ein Christ.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Meins wohl.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Und kein Sozialist? Mensch, man muß, man muß.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Was?

DER ERSTE STRASSENBAHNER mutlos: Ich weiß es nicht. Grad wußt ichs noch. Aber jetzt weiß ichs nimmer.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Kamerad, das sind so verschiedene Ansichten.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ja.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Da kann man verschiedener Meinung sein.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ja, ja, ja.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Wies eben verschiedene Menschen gibt.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Jawohl.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Kurz, ich bleib heut abend zu Haus.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Richtig.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Sie täten besser, auch einmal nicht hinzugehn.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ja.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Kommen Sie heut abend zu mir. Meine Frau wird sich freuen. Zu einem Glas Bier. Und ein Zipfel Wurst wird auch noch da sein. Dann reden wir vernünftig miteinander.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ja. Ja, ja. Schreiend: Nein, nein, nein.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Was schreien Sie, Kamerad? Ist ja gut. Aber Sie werden schon noch sehen, daß ich recht hab.

TRUDEL kommt im Abendmantel, wie im ersten Aufzug: Guten Abend. Die beiden Straßenbahner verneigen sich stumm. Die Straßenbahn .. fährt noch?

DER ERSTE STRASSENBAHNER sieht auf die Uhr: In zwei Minuten geht der letzte Wagen.

TRUDEL Gottlob, daß ich ihn noch erreichte.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Sie wollen ins Theater, Fräulein?

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ins Konzert?

DER ANDERE STRASSENBAHNER Zu einem Ball?

DER ERSTE STRASSENBAHNER Eine Einladung?

TRUDEL Ach, schöner.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Singt ein Tenor?

DER ANDERE STRASSENBAHNER Predigt ein Mönch?

TRUDEL Ach, schöner.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Varieté, Akrobaten, Messerschlucker, der fliegende Mensch?

DER ANDERE STRASSENBAHNER Vielleicht gehen Sie gar zu Hof?

TRUDEL Schöner, viel schöner.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ich kann nicht mehr raten. Gehen Sie am End in die Versammlung des allgemeinen Sozialistenvereins?

TRUDEL Was denken Sie, nein. Sozialisten? Was ist das?

DER ANDERE STRASSENBAHNER Der gleiche Anteil an der Erde.

TRUDEL Ich laß mich heut nicht wieder aufhalten.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Wer will das?

TRUDEL Sie reden von Sozialisten. Einmal, als ich zum Ball ging, wollte Herr Sebald seinen Anteil an mir. Ich hab auch mit ihm getanzt. Ich hab ihm zehn Minuten gegeben. Seinen ehrlichen Teil. Seinen gerechten Teil. Heut und in Zukunft tu ich das nicht mehr. Darf ich das nicht mehr.

DER ERSTE STRASSENBAHNER War Herr Sebald nicht im Recht?

TRUDEL Damals wohl. Heute nicht mehr.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Heute nicht mehr?

TRUDEL Weil heute .. Läßt den Mantel fallen, steht im weißen Brautkleid. Ich gehe zu meiner Verlobungsfeier.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ich gratuliere.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Meinen Glückwunsch.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Meinen aufrichtigen Glückwunsch.

TRUDEL nickt ihnen zu: Danke. Danke.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Darum tanzen Sie heute nicht?

TRUDEL Mein Verlobter erlaubt es nicht.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Eifersüchtig?

TRUDEL Er will es nicht.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Das ist nicht gerecht. Einen Tanz kann er erlauben.

TRUDEL Nein, er will es nicht.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Tanzen Sie mit mir, Fräulein Trudel?

TRUDEL lächelnd: Nein, ich darf nicht.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Nur kurz, Zweimal links und zweimal rechts herum.

TRUDEL Nein, nein.

DER ANDERE STRASSENBAHNER Der Bräutigam siehts ja nicht.

TRUDEL Nein. Bedauernd: Nein.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ich weiß einen Tanz, den Sie tanzen dürfen.

TRUDEL Ich darf nicht.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Mit einem andern zu tanzen, hat Ihnen Ihr Verlobter verboten

TRUDEL Hat er mir verboten.

DER ERSTE STRASSENBAHNER Dann tanzen Sie .. doch .. allein .. vor uns.

TRUDEL Allein?

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ja, allein, das ist Ihnen doch nicht verboten?

TRUDEL sich besinnend: Das ist mir nicht verboten.

DER ERSTE STRASSENBAHNER O, tanzen Sie doch. Fängt an, leise und immer stärker eine Walzermelodie zu pfeifen.

TRUDEL Nein .. nein .. Beginnt sich zu drehen und tanzt. Ohne mit dem Pfeifen aufzuhören, tanzt nun auch der erste Straßenbahner. Sie berühren sich nicht, umkreisen sich tanzend.

TRUDEL hält ein und rafft ihren Mantel vom Boden auf: Geht der Wagen noch nicht?

DER ERSTE STRASSENBAHNER Ja, nun ist es Zeit.

DER ANDERE STRASSENBAHNER zieht die Uhr: Ja, es ist Zeit, abzufahren. Sie gehen. Die Bühne ist leer. Man hört das Klingeln des abfahrenden Wagens. Von rechts kommt das Liebespaar.

DER BURSCHE Ich hab heut schon wieder Streit gehabt, mit dem Kerl, dem Vorarbeiter. Er sitzt mir auf. Ich schlag ihm nächstens einmal das Kreuz ein.

DAS MÄDCHEN Alois, nimm dich zusammen. Wenn du entlassen wirst.

DER BURSCHE Der Bursche hats auf mich. Ich kann ihm nichts recht machen. Immer schleicht er um mich herum.

DAS MÄDCHEN Gib ihm keine Gelegenheit, daß er dich melden kann.

DER BURSCHE Wenn ich gehn muß, lauere ich ihm nachts auf und zahl ihm jeden schiefen Blick heim.

DAS MÄDCHEN Nimm dich zusammen, Alois. Wenn du entlassen wirst.

DER BURSCHE Ich schlag ihn krumm und klein.

DAS MÄDCHEN Wenn du doch deine Arbeit tust wie jeder andere.

DER BURSCHE Ich kann ihm nichts recht machen.

DAS MÄDCHEN Wenn du entlassen würdest, Alois.

DER BURSCHE Ich find was anderes.

DAS MÄDCHEN Nicht so leicht, Alois.

DER BURSCHE Dann gibts die Erwerbslosenunterstützung. Damit kommt ein lediger Mensch aus ein paar Wochen. Damit verhungert ein lediger Mensch nicht.

DAS MÄDCHEN Duck dich lieber ein wenig, Alois. Hör nicht hin, wenn er was sagt. Daß du nicht entlassen wirst.

DER BURSCHE wütend: Den Arm schlag ich ihm ab. Ich mag mich nicht ducken.

DAS MÄDCHEN Alois, schau ..

DER BURSCHE Ich kann mich nicht ducken. Ich will mich nicht ducken.

DAS MÄDCHEN Tus meinetwegen, Alois.

DER BURSCHE Wenn ich ein paar Wochen ohne Arbeit bin, können wir uns auch einmal am hellen Tag treffen und brauchen nicht des Nachts im Park herumzuschleichen.

DAS MÄDCHEN Es wäre schrecklich, wenn du entlassen würdest.

DER BURSCHE Ich werd nicht verhungern. Ein einzelner Mensch schlägt sich durch.

DAS MÄDCHEN Ich muß dir etwas sagen.

DER BURSCHE Ein lediger Mensch kommt schon aus.

DAS MÄDCHEN Wir werden ein Kind haben, Alois.

DER BURSCHE Wir .. werden .. ein Kind ..

DAS MÄDCHEN Ein Kind haben, Alois.

DER BURSCHE So ein kleines, kleines Kind.

DAS MÄDCHEN Wir müssen rasch heiraten, Alois.

DER BURSCHE Schnell. Ja, heiraten, und ein Kind.

DAS MÄDCHEN Meine Mutter weiß noch nichts. Sie solls auch nicht erfahren.

DER BURSCHE Ja, rasch heiraten. Gleich morgen stellen wir den Antrag beim Standesamt.

DAS MÄDCHEN Die Wohnung. Die Möbel. Wäsche.

DER BURSCHE Ja, allerdings. Freudig: Rasch heiraten und ein Kind.

DAS MÄDCHEN Das Leben ist teuer, Alois.

DER BURSCHE Dich kann ich schon noch mitfuttern. Dich und das Kind.

DAS MÄDCHEN Aber ..

DER BURSCHE Was tun die verheirateten Kameraden? So gehts bei uns auch.

DAS MÄDCHEN Aber, der Vorarbeiter ..

DER BURSCHE Der Vorarbeiter?

DAS MÄDCHEN Wenn du entlassen würdest. Wenn du stellungslos wärst.

DER BURSCHE Ich werd .. nicht .. entlassen .. werden.

DAS MÄDCHEN Kannst du dich ducken? Willst du dich ducken?

DERBURSCHE mühsam: Ich will. Das Kind.

DAS MÄDCHEN Du tust deine Arbeit wie jeder andere.

DER BURSCHE schwer: Ich werd mich bücken.

DAS MÄDCHEN Wir wollen meiner Mutter sagen, daß wir uns verlobt haben. Daß wir bald heiraten werden. Dann kann sie nichts mehr dagegen haben, daß wir uns täglich treffen. Dann haben wirs leichter.

DER BURSCHE Ja, und gleich morgen gehen wir zum Standesamt wegen der Papiere.

DAS MÄDCHEN Dann sind wir bald immer beisammen.

DER BURSCHE Wir drei, du und ich und das Kind.

DAS MÄDCHEN Du und ich und das Kind.

DER TOTENGRÄBER ist mit einem schnellen Schritt lautlos aus seiner Tür getreten: Wo ist denn das Kind? Das Mädchen schreit laut auf.

DER BURSCHE Dumme Scherze. Erschrecken Sie das Mädchen nicht.

DER TOTENGRÄBER Habt ihr mich für ein Gespenst gehalten?

DER BURSCHE Es gibt keine Gespenster.

DER TOTENGRÄBER So? Wo habt ihr denn das Kind?

DER BURSCHE Was kostet jetzt eine bescheidene Wohnungseinrichtung?

DER TOTENGRÄBER Für wie viele Zimmer? Salon, Eßzimmer, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad? Ein Klubsessel kostet tausend Mark.

DER BURSCHE Wir werden im Wohnzimmer kochen.

DER TOTENGRÄBER Und in der Küche schlafen. Da ists warm. Wo habt ihr denn euer Kind?

DER BURSCHE Sind Sie verheiratet?

DER TOTENGRÄBER Ja.

DER BURSCHE Dann kann ichs Ihnen ja sagen. Meine Braut erwartet ein Kind.

DER TOTENGRÄBER Das .. freut.. Sie ..?

DER BURSCHE reicht dem Mädchen die Hand. Beide sagen: Ja.

DER TOTENGRÄBER Sie kaufen sich besser eine Wiege statt eines Klubsessels.

DER BURSCHE So ein kleines Kindchen.

DER TOTENGRÄBER Dann heiratet nur bald.

DER BURSCHE Gleich morgen geh ich zum Standesamt wegen der Papiere.

DAS MÄDCHEN Heut noch sag ichs meiner Mutter.

DER TOTENGRÄBER Baut euch ein Nest.

DER BURSCHE ist nicht so hoffnungsvoll als er tut: Und der Vorarbeiter ..? Ich will ihn freundlich ansehn.

DAS MÄDCHEN Ja, Alois. Duck dich.

DER BURSCHE Ich will ihm gute Worte geben.

DAS MÄDCHEN Ja, Alois, duck dich vor ihm.

DER BURSCHE Ich will nicht entlassen werden.

DAS MÄDCHEN Bück dich vor ihm, Alois.

DER TOTENGRÄBER Baut euch ein Nest.

DER BURSCHE Es wird schon gehen.

DER TOTENGRÄBER höhnisch: Sicherlich. Wenn Sie sich ducken.

DAS MÄDCHEN Das Kind, Alois.

DER TOTENGRÄBER Ein Storchennest, an eine Turmspitze geklebt. Ein warmes Nest. Und nicht zu weit fliegen und immer wieder zurück ins Nest.

DER BURSCHE Er meints vielleicht gar nicht so schlimm, der Vorarbeiter.

DAS MÄDCHEN Du tust deine Arbeit wie jeder andere.

DER TOTENGRÄBER Und nicht zu weit fliegen. Sonst stößt man sich den Schnabel am Mond blutig. Zurück ins Nest.

DER BURSCHE träumend: So ein kleines, kleines Kindchen.

DAS MÄDCHEN Es wird schon alles gut werden.

DER TOTENGRÄBER Und das Nest auspolstern. Und nicht zu weit fliegen. Im Sumpf stelzen nach Fröschen. Und dann ins warme Nest.

DER BURSCHE in einem Anfall von Wut: Ich hätt ihm schon gern den Arm abgeschlagen, dem Kerl. Er sitzt mir auf. Ich kann ihm nichts recht machen. Sie schmiegt sich an ihn. Ich wills hinunterschlucken.

DAS MÄDCHEN Ja, duck dich, duck dich, Alois. Sie gehen Arm in Arm nach links ab.

DER TOTENGRÄBER Warum bloß der Mond so infam lächelt? Wart, ich komme. Flattert mit den Armen, tut, als ob er Flügel hätte: Die Flügel sind zu schwach und der Schnabel ist zu kurz. Schwer atmend: Das Nest. Sieht Sebalds Kreisel. Was liegt da für ein Kinderspielzeug? Fängt an, den Kreisel zu treiben. Grotesk springt sein Schatten. Dreh dich, Luder, dreh dich.

DES TOTENGRÄBERS FRAU unter der Tür: Adolf, bist du verrückt? Was machst du?

DER TOTENGRÄBER Ich laß den Kreisel springen. Rund herum. Wirft die Peitsche weg. Fliegen kann ich doch nicht. Stelzt wie ein Storch zur Tür.

DES TOTENGRÄBERS FRAU Gehn wir schlafen . Verschwindet in der Tür.

DER TOTENGRÄBER Ist das Nest.. auch hübsch warm? Stelzt ab.

Vorhang

Das Herz

Ein Tanz auf dem Seil in einem Akt
[1923]

Figuren

KATTA • DER DIREKTOR • DER RINGKÄMPFER • AUGUST

Die Zirkusgarderobe. Ein Wandschränkchen, ein Stuhl, ein Fenster, zwei Türen. An der Wand lehnen einige Peitschen.

AUGUST kommt: Ich bin unglücklich. Trostlos bin ich. O, was ist das für ein Schmerz! O, was ist das für ein brennender Schmerz! Ich möchte mir die Augen ausreißen, daß ich das gesehen habe. Setzt sich auf den einzigen Stuhl. Ich bin eine traurige Tränenwasserlache. Kommt niemand mit einem Lumpen, mich aufzuwischen?

DIREKTOR in Reitstiefeln und mit der langen Peitsche: August, Halunke, da bist du?

AUGUST Ja, mein sehr verehrter Herr Direktor.

DIREKTOR Du bist nicht draußen im Sand?

AUGUST Nein, mein sehr verehrter Herr Direktor.

DIREKTOR Ich glaube gar, du hast geweint.

AUGUST Ja, mein sehr verehrter Herr Direktor.

DIREKTOR Mein sehr verehrter Herr Direktor hin, mein sehr verehrter Herr Direktor her – du bekommst hundert Mark Strafe wegen Pflichtversäumnis.

AUGUST Seien Sie gnadenreich, Herr Direktor. Ich bin ein armer Mann. Setzen Sie mir die Strafe auf 99 Mark herab.

DIREKTOR Hundert Mark und keinen Pfennig weniger.

AUGUST Ach, ich Armer! Ach, ich Unglücklicher! Ach, ich Trauriger! Er weint.

DIREKTOR Pfui, schäme dich, wer wird da weinen! Wegen der einen Mark.

AUGUST Daß meine Augen das gesehen haben! O, wäre ich blind!

DIREKTOR Also 99 Mark.

AUGUST Dank, Großmächtigster.

DIREKTOR Aber nun los!

AUGUST Nie wieder!

DIREKTOR Auf und hinaus!

AUGUST fährt entsetzt an die Wand zurück: Da hinaus? Durch diese Tür? Das ertrüge ich nicht. Das wäre mein Tod. Lieber zahl’ ich doch die hundert Mark.

DIREKTOR Katta tänzelt über das Seil. Der Ringkämpfer geht mit ausgebreiteten Armen sie zu fangen, wenn sie fällt. Aber sie fällt nicht. Ich habe noch nie gesehen, daß sie gefallen wäre. Aber jetzt marsch! hinaus!

AUGUST Katta tänzelt über das schwankende Seil. Der Ringkämpfer schaut hinauf zu ihr mit ausgebreiteten Armen.

DIREKTOR Ja. Und du geh jetzt hinaus und mach deine Affensprünge.

AUGUST O, sie wirft ihm Blicke zu. Sie wirft ihm Kußhände zu. Kußhände so viele wie Sternschnuppen im August. Ich gehe nicht hinaus.

DIREKTOR Das Publikum will lachen. Es will sich den Bauch halten vor Lachen über dich. Hinaus und Purzelbäume geschlagen.

AUGUST Und sie wirft Kußhände wie Sternschnuppen, wie feurige Sternschnuppen. Ich laß mir nicht die Haare verbrennen.

DIREKTOR Du hast ja eine Perücke auf Los jetzt!

AUGUST Gut. Das ist wahr. Ich habe eine Perücke auf Ja. Also kann ich gehn. Aber so ohne Perücke reißt sie sich vom Schädel, so ohne Perücke kann ich unmöglich unter den Sternschnuppenfall mich wagen. Unmöglich. Meine Haare. Ganz unmöglich, mein sehr verehrter Herr Direktor.

DIREKTOR Die Zeit vergeht. Die Zeit springt. Das Publikum wartet. Raus. Was gehen dich Kattas Kußhände an?

AUGUST Jeder Kuß trifft mich wie ein Faustschlag auf den Magen. Jeder zweite wie ein Hieb auf die Kinnlade. Jeder zehnte zerschmettert mir das Nasenbein. Ich lasse mich aber nicht verstümmeln. Ich denke gar nicht daran, hinaus in den Sternschnuppenfall zu gehn.

DIREKTOR Jetzt lernst du mich kennen. Ich winke dir. Er schwingt die Peitsche. Los!

AUGUST Diese verdammte, verdammte, verdammte Bestie! Daß sie Hals und Bein bräche! Was will sie mit dem Ringkämpfer? Der Kerl hat Muskeln. Nun gut, die hat ein Pferd auch. Aber hat er einen Kopf? Nein. Was will sie mit einem kopflosen Liebhaber? Seh einer mich an. Hier, Nase, Augen, Mund, Ohren, Zähne, ein schöner, eirunder Kopf mit einem Gehirn drin. Was will sie mehr?

DIREKTOR Was ist das schon für ein Dutzendkopf! So einen hat jeder auf. Lüftet den Zylinder. Das ist dir ein Schädelchen, was? Zwirbelt den Bart. Gepecht und gewichst. Geh her, ich stech dich tot, Affenvisage.

AUGUST ohne ihn zu beachten: Gott, ja, Muskeln hat er, der Ringkämpfer. Aber kann er das große Einmaleins?

DIREKTOR Ich kann es dir, Kerlchen. Ich kann es dir. Paß auf: dreimal 16 ist 58.

AUGUST Das ist das Direktoreneinmaleins. Aber das große Einmaleins der Liebe?

DIREKTOR Vier Maulschellen und drei Fußtritte sind sieben Hiebe. Hinaus jetzt! Du erinnerst mich rechtzeitig an die Kassenabrechnung. Ich habe deine Purzelbäume vertraglich.

AUGUST Ich kann nicht, Herr Direktor. Wie könnte ich?

DIREKTOR schlägt ihm die Peitsche um die Beine: Willst du wohl?

AUGUST Wie könnte ich? Ich stürbe.

DIREKTOR schlägt: Vor ...

AUGUST mit einem Sprung zur Tür: Ach!

DIREKTOR schlägt: ... wärts!

AUGUST springt: Ach!

DIREKTOR schlägt zweimal: Vor ... wärts!

AUGUST springt zweimal: Ach! Ach!

Direktor holt wieder zum Schlag aus. August saust mit einem langen und lauten Ach! hinaus. Katta und der Ringkämpfer treten in diesem Augenblick durch die andere Tür herein.

KATTA Was hat der August?

DIREKTOR Ich hab’ ihm Beine gemacht.

KATTA Er hat doch schon zwei recht hübsche.

DIREKTOR Da hegt noch seine Perücke. Hebt sie auf. So tritt der Kerl vor das Publikum.

KATTA Wie hat er den Schopf verloren?

DIREKTOR Er wollte sich die Haare ausrupfen vor Schmerz. Aber er hat nur die Perücke erwischt. Wie war die Nummer? Beifall?

KATTA Es müssen viele Paar Handschuhe geplatzt sein.

Man hört von draußen Augusts langhallendes Ach!

DIREKTOR Was schreit er? Er soll Purzelbäume machen. Das Luder, das Luder! Er stürmt ab.

RINGKÄMPFER Wenn du nur einmal vom Seil fielst! Warum fällst du nie vom Seil?

KATTA Weil ich eine erstklassige Solokraft bin. Das wäre noch schöner!

RINGKÄMPFER Und ich steh’ immer mit ausgebreiteten Armen, und die Schultern tun mir weh, und warte, und du fällst nicht. Fall doch einmal, bitte, einmal falle! Damit ich weiß, warum mir die Schultern weh tun.

KATTA Fällst du von einem Brett? Ich geh’ auf dem Seil wie auf einem Brett. Das wär noch schöner, vom Strick zu fallen. Ich müßt mich vor jedem Maikäfer genieren.

RINGKÄMPFER Maikäfer, Johanniskäfer, Marienkäfer, Muttergotteskäferlein, flieg zu mir!

KATTA Bitte, gib mir einen Schnaps.

RINGKÄMPFER nimmt ihn aus dem Wandschränkchen: Aquavit. Brennt.

KATTA trinkt ein Gläschen: Warum war der August heut nicht bei unserer Nummer?

RINGKÄMPFER Liebst du den August?

KATTA Der Aquavit brennt.

RINGKÄMPFER Liebst du mich?

KATTA Vor jedem Mistkäfer müßt ich mich genieren, fiel ich vom Seil.

RINGKÄMPFER Du liebst mich. O, du liebst mich. Kniet. O, rutsch einmal vom Faden, damit ich weiß, warum ich mir die Schultern verrenke.

KATTA Nö, mein Lieber!

RINGKÄMPFER Ich will dir erzählen, wie ich dich liebe. Paß gut auf und überhör kein Wort. Keine Silbe darfst du überhören. In irgend so einer kleinen, winzigen Silbe, zum Beispiel in der Silbe go, kann meine ganze, große Liebe stecken. Hörst du’s: go?

KATTA Weiter.

RINGKÄMPFER Nun lade ich alle meine Gefühle auf diesen Kahn go. Nun schwimmt er zu dir. Er schwankt. Ohren auf! Daß er gut lande!

KATTA Vortrefflich angekommen.

RINGKÄMPFER Ich liebe dich so, daß ich nachts aufwache und nicht mehr einschlafen kann. Und wenn ich dann doch einschlafe, erwach’ ich gleich wieder. So nach zwei oder drei Minuten ungefähr.

KATTA O, das ist schön.

RINGKÄMPFER Am Morgen habe ich dann blaue Ringe um die Augen. So liebe ich dich.

Man hört von draußen Augusts langezogenes Winseln.

KATTA Ach, der August. Der dumme August.

RINGKÄMPFER Hör nicht auf ihn. Hör auf mich. Ich hab’ also am Morgen blaue Ringe um die Augen. Dann sagt meine Zimmerwirtin: Aber, mein Herr, haben Sie wieder so schlecht geschlafen?

KATTA Und was antwortest du?

RINGKÄMPFER Ich antworte: Ich habe die ganze Nacht kein Auge geschlossen, weil ...

KATTA Nun, weil?

RINGKÄMPFER Weil ich an eine schöne Frau denken mußte.

Wieder winselt August, diesmal näher.

KATTA Ach, der August. Hör nur, der August.

RINGKÄMPFER Er soll mir nicht immer wieder deine Aufmerksamkeit rauben. Ich will dir die Ohren verstopfen. Hier ist Watte. Er holt sie aus dem Schränkchen. Weiße Watte. Komm her. Nun wirst du ihn nicht mehr hören. Nun kann er mir deine Aufmerksamkeit nicht mehr entziehen. Stopft ihr Watte in das eine Ohr.

KATTA So ist’s schon besser.

RINGKÄMPFER Nun das andere.

KATTA So ist’s gut. Ich höre ihn nicht mehr.

RINGKÄMPFER Du Narr! Nun magst du schreien und winseln. Winsele nur. Ich fahre also fort. Wenn ich am Morgen die Treppe hinunter steige, knarrt jede Stufe, und bei jedem Knarren denke ich an dich. Jede Treppe hat vierzehn Stufen. Da es drei Treppen sind, denke ich jeden Morgen, beim Verlassen des Hauses, 3 mal an dich. Genügt dir das nicht?

KATTA Was meinst du? Ich seh’ zwar, daß deine Lippen sich rühren, aber ich höre nichts. Hast du mir etwas erzählt?

RINGKÄMPFER Ja. Etwas sehr Schönes.

KATTA Gib mir einen Schnaps.

RINGKÄMPFER gibt ihr: Aquavit.

KATTA Danke. Gut. Sprich weiter.

RINGKÄMPFER Wenn ich dann die Haustüre aufmache ... So sieh doch her zu mir! Wo gehst du denn hin? Schüttelt sie an der Schulter. Was gehst du denn auf und ab? Nun muß ich dir die Watte doch wieder aus den Ohren nehmen. Schade, sehr schade. Tut es.

KATTA Mir war’s jetzt gerade, als war ich auf dem Meeresboden herumgegangen. Es sauste um mich.

RINGKÄMPFER Das war dein Blut.

KATTA Ich bin froh, daß ich dich wieder höre.

RINGKÄMPFER Ich erzählte dir also, daß ich … Ganz nahe, an der Tür, winselt August. Verdammter Winsler! Katta hat sich an die gegenüberliegende Wand gedrückt.

KATTA August!

RINGKÄMPFER Laß ihn!

Augusts Winseln ertönt dicht hinter Kattas Kopf.

KATTA mit einem Sprung weg von der Stelle: Da ist er. Jetzt ist er da. Und nun hier. Überall ist er. Wirft sich mitten im Zimmer auf den Boden. Ach, nun ist er auch unter mir.

Steht auf. August winselt nicht mehr. Er rennt außen rund um das Zimmer, an den Wänden kratzend.

RINGKÄMPFER Ich fang ihn.

KATTA Es scharrt überall. Maulwürfe und Ratten! Hilfe! Sie steigt auf den Stuhl. Laut schreiend. Ich fürchte mich!

RINGKÄMPFER Ich fang ihn. Ich fang ihn.

Stürzt hinaus. Katta bleibt auf dem Stuhl, aber setzt sich auf die Lehne. Das Kratzen hat aufgehört. Es ist ganz ruhig.

KATTA probiert mit den Lippen: Go. Ach, Unsinn! Go.

AUGUST schleift hinter sich den bewußtlosen Ringkämpfer: Ich bringe ihn dir als Opfer. Da liegt er. Da sitzt er. Er lehnt ihn mit dem Rücken gegen die Wand. He, wo sind deine Muskeln nun? Was sagst du, Katta?

KATTA Go.

AUGUST Wie?

KATTA Go. Ich sage: Go. Du weißt wohl nicht, was go heißt?

AUGUST Wahrhaftig nein.

KATTA Wie sagst du, wenn du mir deine Liebe erklären willst?

AUGUST Ich sage ... Ganz einfach, ich sage, ich liebe dich.

KATTA Nun, ich weiß es noch einfacher. Go.

AUGUST Das ist Unsinn. Wie könnte ich all meine Liebe in der kleinen Silbe go unterbringen?

KATTA Er sagte go, wenn er von seiner Liebe sprach.

AUGUST Er ist auch nur ein Ringkämpfer. Du darfst ihm das nicht einmal so übelnehmen. Er hat starke Muskeln, aber keinen Kopf Go! Das ist lächerlich. Das sieht einem Ringkämpfer ähnlich.

KATTA Ich fand es auch gleich lächerlich.

AUGUST Wenn ich dir eine Liebeserklärung mache, eine richtige, die ist so lang wie der Kölner Dom. Aber von dem Mann ohne Kopf darfst du nicht mehr erwarten.

KATTA August, mach mir eine Liebeserklärung!

AUGUST nimmt eine Peitsche von der Wand: Eine Erklärung, so lang wie dieser Peitschenstiel. So biegsam wie dieser Stiel. Eine herrliche Liebeserklärung will ich dir machen.

KATTA Man kniet dazu.

AUGUST kniet: Holde Seiltänzerin..

Ringkämpfer unbeweglich, nur den Arm hebt er, nimmt eine Peitsche und schlägt August damit.

AUGUST Toter, was willst du noch? Rühr dich nicht. Zu Katta: Süßgoldige Tänzerin auf dem Seil. Ringkämpfer schlägt wieder wie vorhin. August springt auf und stellt sich wütend vor ihn.

AUGUST Kopfloser Bursche, was willst du? Kannst nichts als go sagen. Horch mir zu und lerne. Zu Katta: Feuerfarbene Tänzerin.

Ringkämpfer schlägt wieder.

AUGUST Ich werde dich mit der Peitsche rasieren. Willst du ein Peitschenduell, kopfloser Mann?

Schlägt zu.

RINGKÄMPFER immer noch sitzend: Jawohl. Nur los.

AUGUST schlägt: Genügt dir das?

RINGKÄMPFER Au! O, das tut weh. Da! Er schlägt.

AUGUST Au! Sag, kopfloser Bruder, warum prügeln wir uns?

RINGKÄMPFER Das wird wohl seine Gründe haben.

AUGUST Das wird es. Aber ich weiß sie nicht.

KATTA Ja, warum prügelt ihr euch?

AUGUST Bedenk ich’s recht, verdammt, ich weiß es nicht.

RINGKÄMPFER Laß mich nachdenken. Vielleicht fällt es mir ein.

AUGUST Bemüh dich nicht, kopfloser Bruder. Wie kann es dir einfallen! Aber Muskeln hast du.

RINGKÄMPFER Wie wär’s, wenn wir sie prügelten?

KATTA Mich?

RINGKÄMPFER Bruder, wir wollen sie schlagen. Warum sollen wir uns Striemen machen?

AUGUST Kopfloser Bruder, du hast recht.

Der Ringkämpfer ist aufgestanden. Sie stehen mit gehobenen Peitschen vor Katta.

RINGKÄMPFER Schlag zu!

AUGUST Hau hin!

RINGKÄMPFER Warum schlägst du nicht?

AUGUST Warum zögerst du?

RINGKÄMPFER Los, August, schlag!

AUGUST Ja. Schwerfällig hebt er den Arm, zielt auf Katta, aber der Hieb trifft den Ringkämpfer. Schlag zu, Bruder.

RINGKÄMPFER Ja. Er zielt auf Katta, aber auch sein Arm weicht ab und er trifft August. Es geht nicht, Bruder.

KATTA Nun schlagt ihr doch euch. Warum nicht mich?

RINGKÄMPFER Ich hab’ keinen Kopf Ich kann es nicht.

AUGUST Es geht nicht.

Er lehnt die Peitsche wieder an die Wand.

RINGKÄMPFER Es geht halt nicht.

Auch er lehnt die Peitsche weg.

KATTA Der eine hat keinen Kopf der andere hat keine Muskeln. Ihr seid ein paar Vögel.

AUGUST Das ist ein sauberes Vogelhaus.

RINGKÄMPFER Fliegen wir fort. Versucht es. Hoppsa, es geht nicht.

KATTA Gebt mir einen Schnaps.

AUGUST gibt ihr: Aquavit.

KATTA Das brennt. Den schönsten Schnurrbart im Zirkus hat der Direktor.

RINGKÄMPFER Bruder, reiß ihr das Herz heraus, dann ist sie tot.

AUGUST Du hast die stärkeren Muskeln.

KATTA Ihr seid beide glatt rasiert.

RINGKÄMPFER Reiß ihr das Herz heraus! Dann ist sie tot und wir sind erlöst.

KATTA Saubere Vögel.

AUGUST Reiß ihr das Herz heraus!

RINGKÄMPFER Es muß sein. Ergreift ihr in den Halsausschnitt und zieht ein rotes Herz heraus. Ein Herz wie jedes andere. Rot wie jedes Herz. Es blutet gar nicht.

AUGUST Hurra! Hast du’s! Nun ist sie erledigt.

RINGKÄMPFER Da liegt das Herz. Wirft es zu Boden. Nun ist sie tot.

AUGUST Wirf es zum Fenster hinaus! Hinaus damit!

Packt es und wirft es durchs Fenster. Es klirrt gellend.

KATTA greift sich an die Brust: Gebt mir einen Schnaps.

RINGKÄMPFER gibt ihr: Aquavit.

KATTA Mir ist auf einmal so leicht zumut. Ich möchte gleich auf dem Seil tanzen, so leicht ist mir zumut.

RINGKÄMPFER Sie Iebt noch.

KATTA Ist das ein wonniges Gefühl, kein Herz zu haben!

RINGKÄMPFER Bruder, Bruder!

KATTA Ich rate euch, werft euer Herz auch weg. Es ist so schön, ich kann’s euch gar nicht sagen. Ich schwebe. Ich dank’ euch auch recht schön.

RINGKÄMPFER Verdammt!

AUGUST Und tut dir gar nichts weh?

KATTA Gar nichts weh. Warum hast du mein Herz durchs Fenster geworfen? Ich hätt’s gern in die Hand genommen und angeschaut. So ein sonderbares Stück Fleisch.

RINGKÄMPFER Verdammt!

AUGUST Das war ein schlechter Rat von dir. Wie könnt ich auch auf deinen Rat was geben! Du hast Muskeln, aber keinen Kopf.

KATTA Ach, ist das herrlich!

DIREKTOR kommt: Fräulein Katta, Sie kommen gleich wieder dran, die nächste Nummer. Gut bei Stimmung?

KATTA In bester, liebster Direktor, in allerbester.

DIREKTOR Gut, gut. Die Herren schauen so betrübt.

KATTA Nur ein mißglückter Mord.

DIREKTOR Und deswegen solche Jammermienen. Pfui, meine Herren, schämen Sie sich! Deutsche Künstler!

KATTA Sie haben einen so schönen, langen Schnurrbart, lieber Direktor. Ob er mich trägt? Ich möchte darauf seiltanzen.

DIREKTOR Das wär’ eine feine Nummer. Das ist zu überlegen.

KATTA Ich kenne übrigens einen Polizeiinspektor, dessen Schnurrbart ist noch länger, noch spitzer.

DIREKTOR Sie betrüben mein Herz.

KATTA Döskopf. Ich muß seiltanzen. Ab.

AUGUST Damit waren Sie gemeint, Herr Direktor.

RINGKÄMPFER Ohne Zweifel waren Sie gemeint.

DIREKTOR Ich glaub’ es nicht. Das glaub’ ich nimmermehr. Aber ich werde sie selber fragen. Ab.

AUGUST Das kommt von deiner Kopflosigkeit. Nun haben wir die Sache noch schlimmer gemacht.

RINGKÄMPFER Ja.

AUGUST Jetzt, da sie herzlos ist, wird es uns noch schlechter gehen.

RINGKÄMPFER Hätten wir ihr das Herz gelassen!

AUGUST Nun wippt sie auf den Schnurrbartspitzen des Direktors, das Mädchen ohne Herz.

RINGKÄMPFER Vielleicht kann man ihr das Herz wieder einsetzen.

AUGUST Das ist eine Hoffnung! Wenn das ginge!

RINGKÄMPFER Man holt das Herz herauf, und eh sie sich’s versieht, haben wir ihr es wieder unter die Brust geschmuggelt.

AUGUST Kein schlechter Gedanke.

RINGKÄMPFER Ich will einmal sehen. Stürzt zum Fenster: O!

AUGUST Was ist’s?

RINGKÄMPFER Zu spät. Nun ist alles verloren.

AUGUST Das Herz ...

RINGKÄMPFER Da unter der Laterne sitzt ein großer Hund und frißt’s.

AUGUST langgezogen schreiend: Ach!

RINGKÄMPFER tritt vom Fenster weg, verstört: Sitzt ein großer Hund und frißt’s.

AUGUST Was sollen wir nun tun? Zwei Herzen gegen eine leere Brust.

RINGKÄMPFER Bruder, ich hab’ keinen Kopf.

AUGUST Aber Muskeln hast du.

RINGKÄMPFER Draußen der Hund hat das Herz gefressen.

AUGUST Komm! Wir wollen sie von den Schnurrbartspitzen des Direktors herunterreißen.

RINGKÄMPFER Bruder, ich hab’ keinen Kopf Wie wird das enden?

Sie stehen starr und stumm. Dann sagen beide laut und entschlossen aus einem Mund: Aquavit.

Paula und Bianka

Komödie in vier Akten
[1921]

Personen

PAULA • PAULAS MUTTER • BIANKA • KARL • REICHSWEHRHAUPTMANN

ERSTER AKT

Bürgerliches Wohnzimmer.

MUTTER So? Mit einer anderen? Soso? Mit einer anderen?

PAULA Ja, Mutter.

MUTTER Tuts dir weh?

PAULA langsam: Obs mir weh tut? Nein!

MUTTER Auf der Straße?

PAULA Ja. Sie gingen vor mir her, die ganze lange Ludwigstraße.

MUTTER Ist sie hübsch?

PAULA Ja. Es scheint. Sie sah sich einmal um. Ein freundliches Gesicht.

MUTTER Groß?

PAULA Nicht größer als ich.

MUTTER Ein sonderbarer Mensch.

PAULA Ja.

MUTTER Hat er dich geliebt, glaubst du?

PAULA In seiner Art. So gut ers konnte. Ich glaube schon.

MUTTER Ein sonderbarer Mensch.

PAULA Er ist ganz und gar allein. Er kann nicht über die Mauer greifen. Und er will es nicht. Er schichtet, im Gegenteil, immer noch Ziegelstein auf Ziegelstein immer höher.

MUTTER Du hast ihn gern gehabt?

PAULA Ich habe es versucht. Aber er ließ es nicht zu. Er hinderte mich daran. Mit allen Listen. Mit tausend Finten. Er wollte nicht, daß ich ihn liebte.

MUTTER Ich verstehe das nicht.

PAULA Er will allein sein. Ihm ist nur wohl, wenn er allein ist. Er will niemanden zu nahe an sich herankommen lassen. Er liebt Niemand. Er kann niemand lieben. So will auch er nicht geliebt sein.

MUTTER Wie schrecklich!

PAULA Ja, wie schrecklich! Aber nicht für ihn. Für ihn nicht. Für den aber, der zu ihm will.

MUTTER Es sollte eben niemand zu ihm wollen.

PAULA Und doch ist er liebenswert. Man darf nur nichts von ihm fordern.

MUTTER Wie lang hast du ihn gekannt?

PAULA Ein Vierteljahr. Dann fing er an, mich wegzuschieben. Vorsichtig. Unmerklich. Auf einmal lag eine breite sandige Strecke zwischen uns.

MUTTER War es unangenehm für dich?

PAULA Nein. Er ließ nichts schwer werden. Er ließ alles in der Schwebe. Eines Tages glitten wir ganz auseinander.

MUTTER Hast du ihn vergessen?

PAULA Vergessen nicht. Ich denke zuweilen an ihn. Ich glaube nur, er hätte es am ehesten noch mit mir ausgehalten. Aber ich war ihm zu arm.

MUTTER Hat er ans Heiraten gedacht?

PAULA ja, er will heiraten, will einen lautlosen Haushalt um sich. Da braucht er keine reiche Frau. Aber eine wohlhabende. Er hat mich anfangs dafür gehalten.

MUTTER Er ist Lehrer. Er hat seinen Gehalt. Er kann doch eine Frau ernähren.

PAULA Er will kein glänzendes Leben. Aber es soll auch nicht zu kümmerlich sein. Er sprach mit mir vom Heiraten. Als ich ihm sagte, daß ich arm sei, schwieg er davon. Und dann ging es langsam zu Ende.

MUTTER Deswegen also. Weil du kein Geld hast.

PAULA Nicht deswegen. Er braucht niemand.

MUTTER Und die Andere, mit der du ihn sahst?

PAULA Vielleicht ist sie wohlhabend. Dann wird er sie heiraten. Aber er wird sie nicht lieben. Das kann er nicht.

MUTTER Niemanden, denkst du?

PAULA Niemanden.

MUTTER Er hat ein Herz aus Stein.

PAULA Nein. Er ist gut. Aber er kann niemanden lieben.

MUTTER Da ist ein Fluch über ihm.

PAULA Oder ein Segen. Er befindet sich wohl dabei.

MUTTER Er hat kein Blut.

PAULA Es wallt in ihm, manchmal. Aber er kann sich beherrschen. Er wird einem Mädchen nichts zu leide tun.

MUTTER Er hat kein Blut.

PAULA Es will auch bei ihm manchmal kochen. Aber er schüttet kaltes Wasser dazu. Er fürchtet die Folgen. Er ist mir nie zu nahe gekommen. Er fürchtet Möglichkeiten, die ihm auf den Leib rücken könnten. Er wird kein Mädchen umarmen, vor der Ehe.

MUTTER Da kann man ihn nicht schelten. Ist es nicht anständig, die Folgen einer heißen Nacht zu bedenken? Er nimmt Rücksicht auf das Mädchen. Er nahm Rücksicht auf dich. Das ist sehr anständig. Ich bin ihm dankbar.

PAULA Er nimmt Rücksicht auf sich. Er will nicht, daß er jemanden verpflichtet ist. Ja, er ist anständig.

MUTTER Ich bin froh für dich.

PAULA schweigt.

MUTTER Jetzt ists wohl ein Jahr her, daß ihr auseinander seid.

PAULA Wir waren nie zusammen.

MUTTER Wars doch bitter für dich, als es aus war?

PAULA Die Trennung konnte nicht weh tun, weil nichts verwachsen war. Es löste sich leicht, was kein Knoten war. Es blieb höchstens das Bedauern, daß es unmöglich war, die Schnüre zu binden.

MUTTER Es gibt noch andere Männer. Du bist jung. Er war der erste Mann, der dir begegnete. Nicht jeder ist ein steinernes Herz.

PAULA Nicht jeder. Nein, nicht jeder. Lächelt.

MUTTER Du findest noch dein Glück.

PAULA Ich glaube, ja, Mutter. Ich glaube ja.

MUTTER Du lächelst. Du bist schon auf dem Wege?

PAULA Ja, Mutter.

MUTTER Du hast mir nichts erzählt.

PAULA Ich wollte, heute, eben.

MUTTER Erzähle! Erzähle!

PAULA Er heißt Kisslein.

MUTTER Kisslein?

PAULA Karl Kisslein.

MUTTER Erzähl doch!

PAULA Ich kenne ihn seit zwei Monaten.

MUTTER Du liebst ihn?

PAULA Ja.

MUTTER Und er dich?

PAULA Ja.

MUTTER O, dann ists gut. Wie habt ihr euch kennen gelernt?

PAULA Auf dem Sommerfest der Angestellten. Er tanzte fast nur mit mir. Er tanzte gut. Und nur mit mir.

MUTTER Und er? Ist er anders als Heinrich? Ists der Richtige diesmal? Liebt er dich wirklich? Und du ihn?

PAULA Das fühlt man, Mutter.

MUTTER Ja, man fühlts. Was ist er?

PAULA Beamter der Kreditbank. Es geht ihm gut. Er ist aus vermögendem Haus und hat noch Geld zu erwarten.

MUTTER Umso besser. Lern ich ihn kennen?

PAULA Ja. Er will heut kommen.

MUTTER Heut?

PAULA Gleich. Um drei will er da sein.

MUTTER Drei? Es ist ja schon drei! Das ist eine Überrumpelung.

PAULA Ich hör seinen Schritt.

MUTTER Ich bin nur im Hauskleid.

PAULA O, Mutter.

MUTTER Die Haare? Ordnet sie. Wie sehe ich aus?

PAULA da es klopft: ... Er ists. Öffnet.

KARL küßt der Mutter die Hand: ... Gnädige Frau, ich ...

MUTTER Vor fünf Minuten wußte ich noch nichts von Ihnen.

KARL Gnädige Frau ...

MUTTER Mein Mann ist im Büro.

KARL Ich wollte gern, zuerst, mit der Mutter.

PAULA Ja, mit dir, Mutter.

MUTTER Das, das ist schön. Und aufmerksam. Und richtig.

PAULA Dort hängt meine Gitarre. Ich habe dir von ihr erzählt.

KARL Ich möcht dich gern einmal hören.

PAULA Du kommst ja nun öfter.

KARL Ja.

PAULA Dann werd ich manchmal abends eins singen.

MUTTER Tanz, tanz Wieselchen ...

PAULA vergnügt: ... La, la, la ...

KARL Ich freue mich sehr darauf

PAULA durchs Fenster: Dort, der Baum im Hof. Mein Gott ist der alt. Als Kinder haben wir seine Kastanien gesammelt, im Herbst.

MUTTER tritt zu ihr, so daß Karl jetzt etwas abseits steht: Und Ketten draus gemacht, lange, braune Ketten.

PAULA Die haben wir um den Hals getragen.

MUTTER Du hattest so einen weißen, dünnen Kinderhals damals. So dünn!

PAULA Ja, der hat mich viele Tränen gekostet. Die Buben spotteten drüber.

MUTTER lacht: Er sah auch aus! Zum Erbarmen!

PAULA Pfui! Ich ärgere mich jetzt noch.

MUTTER Und mit den Ketten seid ihr im Hof herumstolziert.

PAULA Ja, eitel, wie die Pferde auf ihr Geschirr.

MUTTER Und wer die längste Kette trug ...

PAULA War Kinderkönigin. Tanz, tanz. Wieselchen. Ach Mutter! Sie haben Karl ganz vergessen, er mischt sich jetzt ins Gespräch.

KARL Wer sammelt jetzt die Kastanien?

PAULA Wie du ungeschickt fragst; wieder Kinder.

MUTTER Aber sie müssen sich jetzt vorm Hausbesitzer in acht nehmen, die Kinder. Der sammelt sie selbst, um sie zu verkaufen.

KARL Er verkauft sie?

MUTTER Ja, als Viehfutter. Aber, setzen wir uns. Sie setzen sich.

KARL Ich hab mir heute von der Bank freigeben lassen.

MUTTER Sie sind Bankbeamter?

KARL Ja.

MUTTER Ich weiß es nicht, ist das ein schöner Beruf?

KARL Es gibt wohl schönere, gnädige Frau, aber ich fühle mich zufrieden.

MUTTER Mein Mann sitzt auch den ganzen Tag im Büro. Er ist bei der Regierung. Er klagt oft, das viele Sitzen ...

KARL Ich bin gut bezahlt. Für mein Alter sogar sehr gut. Ich darf wohl sagen, außerordentlich gut.

PAULA Karl ist bei seinem Chef gut angeschrieben.

KARL Er ist ein Freund meines Vaters. Das bringt mir manchen Vorteil.

MUTTER Man hörts oft, daß Verbindungen wichtiger seien, als alles andere. Ich kann darüber nicht mitreden.

KARL Ich bin sehr zufrieden mit meiner Stellung.

MUTTER Das ist jedenfalls sehr angenehm.

KARL Ich bin auch nicht unvermögend. Und meine Stellung in der Bank gibt mir manche Möglichkeit, Geldgeschäfte zu machen, die mir nützen.

MUTTER Ist das nicht gewagt? Kann man da nicht viel verlieren?

KARL Wenn man vorsichtig ist.

MUTTER Ich würd es mir nicht trauen.

KARL Ich mache Geschäfte mit ausländischen Geldpapieren. Ich habe es leicht. Ich habe gute Verbindungen. Ich bin ja auch Ausländer, jetzt.

MUTTER Ausländer?

KARL Ja. Seit dem Friedensschluß. Ich bin Tschechoslowake.

MUTTER Tschechoslowake?

KARL Ja. Seit dem Friedensschluß. Man hat mich nicht gefragt.

PAULA Im allgemeinen ...

MUTTER Und Ihre Eltern?

KARL Leben dort, im Ausland. Was jetzt Ausland heißt.

PAULA Es ist nicht weit.

KARL Nein, es ist nicht weit. Nehmen Sie daran Anstoß, gnädige Frau, daß ich Ausländer bin.

MUTTER Wie könnte man denn das?

KARL Dann wird es Sie nicht hindern, ja zu sagen, wenn ich Sie um die Hand Ihrer Tochter bitte.

MUTTER Ich bin verwirrt. Zu Paula: Paula.

PAULA Ja. Mutter, ein Heiratsantrag. Pause.

MUTTER Du hättest mir vorher ...

KARL Sie haben mir noch nicht gesagt ...

MUTTER Ich freue mich. Natürlich. Es ist mir sehr angenehm. Aber ...

KARL Meine Verhältnisse habe ich Ihnen auseinandergesetzt. Ich kann gut eine Frau ernähren.

MUTTER Ich bin etwas außer Fassung. Paula ist arm.

KARL Ja.

MUTTER Sie bekommt eine bescheidene Wohnungseinrichtung. Das ist alles.

KARL Ja.

MUTTER Wie benimmt man sich? Ich habe natürlich nichts dagegen. Nein, ich freue mich. Ich freue mich sehr. Ich freue mich außerordentlich.

KARL küßt ihr die Hand: ... Ich danke Ihnen.

MUTTER Und der Vater? Sie müssen noch mit dem Vater reden. Er wird sich auch freuen.

KARL Das werde ich natürlich. Ich hoffe auch daß er ...

PAULA Das ist gewiß.

MUTTER Auf einen Heiratsantrag gleich in den ersten zehn Minuten war ich nicht vorbereitet.

PAULA Auf was denn, Mutter?

MUTTER Nun, ich hielts für einen Antrittsbesuch.

PAULA Wir haben dir noch mehr zu sagen.

MUTTER Und Ihre Eltern?

KARL Ich habe noch nicht mit ihnen gesprochen. Ich schreibe ihnen noch heut. Ich bin gewiß ...

MUTTER Auch Ihre Mutter lebt noch?

KARL Vater und Mutter, beide.

MUTTER Sie werden sie ebenso überraschen, wie mich?

KARL Ja.

PAULA an seinem Hals: Ich bin neugierig auf deine Eltern.

KARL Ja.

PAULA Auf deine Mutter. Ich habe ein wenig Angst.

KARL Du wirst ihr gefallen.

PAULA Meinst du? Ich will alles dazu tun. Erzähl von ihr.

KARL Später. Nicht jetzt.

PAULA Deine Eltern, sie werden eine reiche und vornehme Schwiegertochter sich wünschen.

KARL Sie lieben mich und werden meinem Glück kein Hindernis sein wollen.

PAULA Nein. Pause.

KARL Ich würde die Hochzeit gerne sehr beschleunigen, gnädige Frau.

MUTTER Ihr redet schon von der Hochzeit, von der Trauung. Das hat noch Zeit. Das hat noch lang Zeit.

PAULA Wir wollen aber ...

MUTTER Es ist noch allerhand zu tun. Deine Wäsche – lacht – Möbel. Tausend Sachen. Tausend Dinge. Von heut auf morgen geht das nicht.

KARL Leider nicht von heut auf morgen. Aber Sie sind doch einverstanden, daß wir Hochzeit feiern, sobald es geht.

MUTTER Die Ungeduld! Nun sind Sie vorhin durch die Tür hereingetreten, als Junggeselle und als Ehemann möchten Sie wieder hinausgehn!

KARL Ja, am liebsten.

MUTTER Wir wollen die Brautzeit auf acht Wochen festsetzen.

KARL O, das ist zu lang.

MUTTER Die Möbel muß man kaufen. Eine Wohnung mieten. Sechs Wochen zum mindesten.

KARL Auch davon läßt sich noch was streichen.

MUTTER lachend: ... Ihr treibt Handel mit jeder Woche. Vielleicht schenke ich euch noch einige.

KARL Noch viele!

MUTTER Diese Eile!

PAULA Ist notwendig, Mutter.

MUTTER Ihr laßt euch Schönstes entgehen. Die Brautzeit. Allerschönstes. Warum? Ihr könnt euch häufig sehen. Täglich sehen. Bei uns; nun?

KARL Schon. Aber ...

PAULA Aber, Mutter ...

MUTTER Ihr seid merkwürdig.

PAULA Es wird gut sein, Mutter, wenn wir so bald als möglich Hochzeit machen.

MUTTER Was ... heißt ... das ,..?

KARL Ich bitte Sie um Verzeihung.

MUTTER Was heißt das?

PAULA Ich ...

KARL Ich ...

PAULA Verstehst dus nicht, Mutter, noch nicht?

KARL Ich bitte Sie um Verzeihung.

PAULA Mutter ...

KARL ... um Verzeihung.

MUTTER Ich bin …

PAULA Bist du bös, Mutter?

MUTTER Nein ich ... Weint leise in ihr Taschentuch; verlegen stehen die beiden neben ihr. Schweigen.

PAULA Es kam, es ...

KARL Wir wollen ja auch ...

MUTTER faßt sich: Ja.

PAULA Wir heiraten rasch, dann ...

MUTTER Ja, rasch.

PAULA Wann das war, mit dem Kind, das kann dann niemand ausrechnen.

MUTTER Nein.

PAULA Ach, Mutter!

MUTTER Es ist schon gut, Kind.

KARL Jetzt eilts freilich.

PAULA Darum unsere Eile!

KARL Hoffentlich gehts so rasch, wie wir es wollen. Wie es notwendig ist.

MUTTER Ja, das ist notwendig.

KARL Es könnte allerdings Schwierigkeiten geben.

MUTTER Und wieso?

KARL Ich bin Tschechoslowake.

MUTTER Ja.

KARL Die deutschen Behörden. Ich bin Ausländer.

MUTTER Ausländer.

KARL Die Heiratspapiere. Vielleicht macht man Schwierigkeiten. Als Ausländer.

MUTTER Gibts das?

KARL Ich fürchte sehr.

PAULA Du mußt es möglichst dringend machen.

KARL Das tu ich. Ich hoffe ja auch, ich bin ja auch überzeugt, es wird gehen.

MUTTER Ja. Es muß. Es wird gehen.

KARL Ich tue, was ich kann. Ich geh jetzt sofort zu unserem Konsul.

MUTTER Ja

KARL Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau. Ich trage die Schuld.

PAULA Ach! Küßt ihn.

MUTTER Es ist ja, Sie gehen ja jetzt zum Konsul. Es wird ja alles bald in Ordnung sein.

KARL Ich bin überzeugt. Ich geh jetzt gleich. Küßt der Mutter die Hand. Er will gehen, von Paula begleitet. Er ist unter der Tür, da sagt sie:

MUTTER Und, Herr Kisslein, Ihre Eltern? Was werden Ihre Eltern sagen?

KARL Sie wissen nichts.

MUTTER Aber ... Sie müssen doch ...

KARL Nicht ... Vorläufig. Vorläufig nicht. Langsam: Es wäre mir peinlich. Später vielleicht.

MUTTER Es ist dies alles sehr peinlich. Karl geht, von Paula begleitet. Die Mutter ist einen Augenblick allein. Peinlich.

PAULA kommt: Ach, Mutter.

MUTTER Dummes Kind. Streichelt sie.

PAULA Ich schäm mich eigentlich gar nicht.

MUTTER Ein wenig dürftest du es schon.

PAULA Ich schäme mich nicht.

MUTTER Nein? Liebst du ihn denn?

PAULA Stünde es denn sonst so?

MUTTER Ja, das ist wahr. Du liebst ihn also?

PAULA Ja. Wie gefällt er dir?

MUTTER Mir? Gut, Kind, gut.

PAULA Er ist hübsch.'

MUTTER Ja. Ein hübscher Mensch.

PAULA Und sonst?

MUTTER Er macht so höfliche Verbeugungen.

PAULA Wirfst du ihm das vor?

MUTTER Nein, nein. Und er sagt gnädige Frau zu mir und küßt mir die Hand. Er ist ein sehr höflicher Mensch, aber es setzt mich in Verlegenheit.

PAULA Daran wirst du dich gewöhnen.

MUTTER Ja, ich werd mich an ihn gewöhnen.

PAULA Es wird dir nicht schwer fallen.

MUTTER Und der Andere?

PAULA O, Mutter, der war ja nie etwas, das war doch alles nur ein Anfang. Ich habe ihn vergessen.

MUTTER So? Ich furchte fast ...

PAULA Was?

MUTTER Daß du, dein zu Herz betäuben ...

PAULA Ich liebe Karl.

MUTTER Ich glaub es schon.

PAULA In einem halben Jahr bin ich verheiratet.

MUTTER ja. Bist Frau. Und hast ein Kind. Freust du dich auf das Kind?

PAULA Ich weiß nicht recht.

MUTTER Das kommt noch.

PAULA So?

MUTTER Und dein Vater? Das liegt mir schwer auf dem Herzen.

PAULA Er brauchts nicht gleich zu erfahren.

MUTTER Wir müßten aber eigentlich ...

PAULA Später. Er erfährts früh genug ... Wenn ich schon verheiratet bin.

MUTTER Er erfährts früh genug ... Aber wir hintergehen ihn.

PAULA Wir schonen ihn.

MUTTER Es bleibt Unrecht. Wir solltens nicht tun.

PAULA Wenn nur die Hochzeit schon wär.

MUTTER Kannst dus nimmer erwarten?

PAULA Kanns nimmer erwarten.

MUTTER Kind, Kind!

ZWEITER AKT

Karls Zimmer in der Pension.

KARL Mein Magen ist leer und beschwert. Leer und schwer, gleichzeitig. Ein Kunststück immerhin.

BIANKA Es hat ihnen nicht geschmeckt?

KARL Es hat mir gar nicht geschmeckt. Das war wie Leim.

BIANKA Nicht viel besser.

KARL Wie Leim sage ich, wie fünfmal und sechsmal verrührter Leim.

BIANKA Dafür war das Fleisch ...

KARL Hart, härter ...

BIANKA Am härtesten.

KARL Ein Bündel Stricke.

BIANKA Und das alles zusammen ...

KARL Suppe, Fleisch, Pudding ...

BIANKA Und geröstete Kartoffeln ...

KARL Zimmer inbegriffen fünf Mark. Nur fünf Mark täglich.

BIANKA Man triffts anderswo nicht besser.

KARL Bestimmt nicht schlechter. Wollen Sie eine Zigarette? Sie rauchen.

BIANKA Sie haben das schönste Zimmer der Wohnung. Um wieviel ist meines kleiner.

KARL Ja.

BIANKA Sie haben sogar einen Diwan. Ich muß mich mit einem Lehnsessel begnügen.

KARL Ich habe auch einen Bettvorleger.

BIANKA aufspringend: Und, hier, hier ist das Mädchen, nach der der Jüngling bei mir die Arme ausstreckt! O, das schöne rosa Kleid! Sehen Sie nur! Man hat sie grausam getrennt, und durch die getünchte Wand geht nicht ihr dünner Ruf Oh, das arme Mädchen! O, der arme Jüngling!

KARL Das Mädchen hat Glotzaugen. Ich mag Mädchen mit Glotzaugen nicht.

BIANKA Das ist ein Vorurteil.

KARL Aber ein für allemal. Ich mag sie nicht.

BIANKA Heute Abend, Achtung! Ein neuer Film!

KARL So?

BIANKA Gehn Sie mit? Das Mädchen aus der Ackerstraße.

KARL Ach, Kino.

BIANKA Ich geh. Das muß ein süßer Kitsch sein.

KARL Ach!

BIANKA Sie fängt sich einen Grafen mit den dünnen Beinen. Sie lächelt und man legt ihr eine Perlenkette um den Hals. Sie hebt die Augen und Herren im Frackmantel winken ihr ein Auto herbei.

KARL Romantik.

BIANKA Wenns surrt und flimmert. Wenn der Motor knackt. Neigt sich zu ihm. Dunkel und Licht! Spürten Sie den Kitzel nie?

KARL Nein. Aber wie Sie’s sagen ...

BIANKA Wenn die Bilder tanzen. Und wieder Schwärze. Und der viele Atem. Verschlungene Hände. Vornübergebeugt der Saal. Das spürten Sie nie?

KARL O, wie Sie’s sagen? Mit Ihnen! Mit Ihnen!

BIANKA kühl: Ich kann dies alles auch allein genießen.

KARL Wir gehn heut abend. Gut. Wir gehn. Ich freu mich drauf

BIANKA Das Mädchen aus der Ackerstraße.

KARL Wir gehn. Holla, wir gehn ins Kino.

BIANKA gleichgültig: Ja. Pause.

KARL Ich werde nicht lang mehr diesen Pudding essen.

BIANKA Nicht?

KARL Und die gerösteten Kartoffeln.

BIANKA Wollen Sie ausziehen?

KARL Ja.

BIANKA Und Sie wissen schon, wo Sie’s besser finden?

KARL Ja.

BIANKA Eine andere Pension?

KARL Keine Pension? Sozusagen.

BIANKA Nach der Karte. Wollen Sie im Gasthaus essen?

KARL Da würde der Pudding nicht besser sein, fürchte ich.

BIANKA Ah, sicher in einer Familie.

KARL Ja, in eine Familie, das ist’s.

BIANKA Das ist, meistenteils, das beste. Pause.

KARL Man müßte heiraten.

BIANKA Heiraten?

KARL Warum nicht? Man sollte es tun.

BIANKA Wegen des Puddings?

KARL Nicht nur deswegen. Nicht nur.

BIANKA Ah, auch sonst gibt es Gründe!

KARL Es ist eine erprobte Einrichtung, die Ehe.

BIANKA Eine oft erprobte.

KARL Man müßte es einmal versuchen.

BIANKA Sie haben schon gewählt?

KARL Ja. Das heißt gewählt, das ist wohl nicht das richtige Wort.

BIANKA Man will Sie verheiraten?

KARL Ja.

BIANKA Die Eltern?

KARL Nein, nicht so. Im Gegenteil. Ich fürchte, meine Eltern ...

BIANKA Sind dagegen?

KARL Ja.

BIANKA Wer will denn dann ...?

KARL Es gibt Verhältnisse, die

BIANKA Zwingen?

KARL Es gibt Umstände, die ...

BIANKA Es notwendig machen?

KARL Unter gewissen Voraussetzungen, nicht wahr, muß es ...

BIANKA Muß es wohl sein?

KARL Kurz das Mädchen ...

BIANKA schnell: Erwartet ein Kind. Pause. Dann langsam: Erwartet ein Kind.

KARL Ja! Geht in die Ecke. Dreht sich um, dann: Ja.

BIANKA Dann müssen Sie wohl.

KARL Ja.

BIANKA Da wird Ihnen sonst nichts übrig bleiben.

KARL Nein.

BIANKA Sie lieben das Mädchen wahrscheinlich.

KARL Ja.

BIANKA Dann dürfen Sie doch froh sein. Seien Sie doch froh! Dann ist ja alles gut.

KARL Ja. Ich bin froh.

BIANKA Kenne ich das Mädchen?

KARL Nein.

BIANKA Warum erzählen Sie mir das alles?

KARL Ich weiß es nicht.

BIANKA Und Ihre Eltern?

KARL Ich fürchte, die werden mir Schwierigkeiten machen.

BIANKA Warum?

KARL Das Mädchen ist arm.

BIANKA O!

KARL Sie ist aus, nicht aus guter, das heißt, ihr Vater ist ein kleiner Beamter.

BIANKA Der Widerstand Ihrer Eltern wird sich brechen lassen.

KARL Ja.

BIANKA Er muß sich brechen lassen.

KARL Ja. Er muß.

BIANKA Vielleicht ist er geringer als Sie denken.

KARL Vielleicht?

BIANKA Es wird alles gut werden. Sie werden eine hübsche Frau haben. Ist sie hübsch?

KARL Ja.

BIANKA Den schlechten Pudding brauchen Sie nicht mehr essen.

KARL Nein.

BIANKA Es ist ein Glück. Wahrhaftig! Ich wünsche Ihnen Glück. Ich gratuliere Ihnen. Ich gratuliere Ihnen herzlich.

KARL Vielen Dank. Vielen Dank.

BIANKA Es wird notwendig sein, daß Sie die Formalitäten beschleunigen.

KARL Ja, das geschieht.

BIANKA Das arme Mädchen! Sie müssen es möglichst rasch aus seiner unangenehmen Lage befreien.

KARL Ja.

BIANKA Das ist Ihre Pflicht als Ehrenmann.

KARL Jawohl.

BIANKA Sie sind nicht sehr erfreut, scheint mir.

KARL Doch. Aber doch. Aber sehr.

BIANKA Es ist kein Unglück, ein hübsches Mädchen heiraten zu sollen, das man liebt und von dem man wieder geliebt wird.

KARL Nein.

BIANKA Sie werden doch wieder geliebt?

KARL Ja. Ich glaube. Ich weiß es bestimmt.

BIANKA Die Heirat ist [die] beste Lösung.

KARL Ja. Pause.

BIANKA Sie müssen mit Ihren Eltern vorsichtig reden. Ihnen nach und nach alles sagen.

KARL Ja.

BIANKA Glauben Sie, daß Ihr Vater sehr erzürnt sein wird?

KARL Ja. Das wird er wohl, aber er wird schon nachgeben.

BIANKA Und Ihre Mutter?

KARL Die wird auch dagegen sein.

BIANKA Ältere Frauen sind da oft wenig duldsam, in diesem Punkt.

KARL ja, ja, ja! Leider!

BIANKA Ältere Frauen reden da so leicht von gefallenen Mädchen.

KARL Ja, das fürchte ich.

BIANKA Auch müssen Sie reinen Mund halten, daß nichts ruchbar wird. Der Ruf Ihrer zukünftigen Frau. Sie müssen sehr vorsichtig sein.

KARL Ja.

BIANKA Das Mädchen hätte klüger sein müssen. Es hätte nicht nachgeben dürfen. Es hat auch Schuld.

KARL Nein; Das heißt, wir beide.

BIANKA Sie hätte sich Ihnen nicht gleich hingeben dürfen. Sie hätte ihre Reinheit besser in acht nehmen müssen.

KARL Aber, ich, ich habe ...

BIANKA Trotzdem, man tut das nicht. Ein Mädchen tut das nicht, so rasch nicht.

KARL Ja, aber ...

BIANKA Glauben Sie, daß Sie in der Ehe gut auskommen werden mit Ihr?

KARL Das glaube ich wohl.

BIANKA Es ist immerhin ein Wagnis.

KARL Wir lieben uns.

BIANKA Freilich, es hat schon mancher Mann ein Mädchen der niedren Stände geheiratet.

KARL O, sie ist nicht ungebildet, sie hat die Handelsschule besucht.

BIANKA Ja. Dann.

KARL Ich werde glücklich mit ihr werden.

BIANKA Ich fürchte ...

KARL Was?

BIANKA Daß Sie nur heiraten, weil Sie es der Ehre des Mädchens schuldig sind, schuldig zu sein glauben.

KARL Keineswegs.

BIANKA Es hat sich manche Übereilung schon gerächt.

KARL Davon kann hier keine Rede sein.

BIANKA Man hat auch Beispiele, daß das Mädchen ...

KARL Was meinen Sie?

BIANKA Daß das Mädchen, um des Mannes sicher zu sein, daß es einem Mädchen nicht unerwünscht kam ...

KARL Unerwünscht?

BIANKA Daß sie es begünstigt, daß sie es darauf abgesehen hatte ...

KARL Darauf abgesehen?

BIANKA Um den Mann zwingen zu können, um eine Drohung gegen ihn in der Hand zu haben. Um seiner gewiß zu sein. Ich würde mich nicht übereilen.

KARL Ach.

BIANKA Schließlich, wenn Sie nicht gekommen wären, vielleicht hätte ein anderer dann – die Blume gepflückt, und vielleicht ebenso leicht.

KARL Was reden Sie?

BIANKA Ich würde mir die Heirat noch reichlich überlegen. Mit den Eltern reden zuvor. Vielleicht weiß Ihr Vater Rat. Oder Ihre Frau Mutter.

KARL Nein. Ich muß. Wir könnten schon weiter sein, aber ...

BIANKA Aber?

KARL Die Papiere. Ich bekomme meine Papiere nicht so rasch, als es sein müßte. Ich habe Schwierigkeiten mit den Behörden. Weil ich Ausländer bin.

BIANKA Ah!

KARL Ich habe alles mögliche getan. Ich habe es dringend gemacht. Trotzdem ...

BIANKA Ja, dann müssen Sie eben Geduld haben.

KARL Geduld? In dieser Lage. Ich fiebre. Jeder Tag ist kostbar.

BIANKA Ja, trotzdem. Pause.

KARL Heut abend also, ins Kino.

BIANKA Ja. Zum Mädchen aus der Ackerstraße. Das ist vielleicht jetzt besonders spannend für Sie.

KARL Ich verstehe die Andeutung nicht.

BIANKA Das Mädchen aus der Ackerstraße. Wo wohnt Ihre Braut?

KARL Sie meinen?

BIANKA Das Mädchen, das durch eine Heirat in die Höhe kommt. Das ist nicht ohne Bezug auf Sie.

KARL Ach.

BIANKA Romantisch, eigentlich.

KARL Ich liebe das Mädchen.

BIANKA Schon gut. Aber würden Sie es auch heiraten, wenn nicht die Notwendigkeit vorläge?

KARL Ich ...

BIANKA Sie würden es nicht tun.

KARL Aber jetzt, liegt die Sache nun einmal so.

BIANKA Sie heiraten, weil man Sie zwingt.

KARL Niemand zwingt mich.

BIANKA Sie opfern sich. Das wird nicht gut werden.

KARL Ich ...

BIANKA Ein Trost. Das wird Sie retten.

KARL Was?

BIANKA Daß es mit den Papieren hapert. Das wird Ihre Rettung sein.

KARL So?

BIANKA Ich wünsche, daß es monatelang dauert. Ich wünsche es für Sie. Das hält Sie von einem unüberlegten Schritt zurück.

KARL Die Papiere ...

BIANKA Die Papiere, die Sie nicht haben ...

KARL Wenn ich nun aber ...

BIANKA Was?

KARL Die Papiere, wenn ich nun aber die Papiere schon hätte, sie hier in meiner Tasche hätte!

BIANKA Sie haben, ja[,] sie?

KARL Ja.

BIANKA Sie könnten also jetzt rasch heiraten.

KARL Binnen drei Wochen.

BIANKA Binnen drei Wochen. Warum haben Sie geheuchelt? Warum haben Sie vorgeschützt. Sie hätten die Papiere nicht?

KARL Ich habe sie erst vorgestern bekommen.

BIANKA Und das Mädchen, weiß es ...

KARL Weiß nichts.

BIANKA Es weiß nichts.

KARL Nein.

BIANKA Aber ihr hätten Sie es doch zuerst sagen müssen. Zu ihr hätten Sie fliegen müssen. Sie ist am meisten daran beteiligt. Warum taten Sie das nicht?

KARL Ich weiß es nicht. Ich wollte es mir noch überlegen. Ein paar Tage Zeit. Ich wollte ...

BIANKA Was?

KARL Ich weiß es nicht.

BIANKA Sie werden das Mädchen nicht heiraten.

KARL Ich werde das Mädchen ...

BIANKA Nicht heiraten.

KARL Doch. Wie kommen Sie darauf?

BIANKA Sie werden eine andere heiraten.

KARL Eine andere?

BIANKA Heut Abend ins Kino mit mir. Sie freuen sich drauf. Warum?

KARL So ... im Dunkel ... neben Ihnen.

BIANKA Gestern bei Tisch. Die Fleischplatte zitterte in Ihren Händen, als ich sie Ihnen abnahm. Warum?

KARL Zitterte sie?

BIANKA Ja. Ihre Gabel klopfte einen Marsch auf den Tellerrand.

KARL Das tat sie?

BIANKA Ja. Und die Kartoffeln aßen Sie ungesalzen. Warum?

KARL Ja, man ißt sie gesalzen, eigentlich.

BIANKA Und warum wollten Sie mir heut Ihr Zimmer zeigen, grad heut, grad jetzt?

KARL Ja, jetzt.

BIANKA Als ich ins Zimmer trat, spürte ich einen Stich, hier unterm Herzen.

KARL Sie spürten ihn?

BIANKA Ja, tief, o.

KARL Sie zittern, warum zittern Sie?

BIANKA Hier unterm Herzen, das ist[’s].

KARL Soll ich’s Ihnen sagen?

BIANKA Ja.

KARL Sie lieben mich. Das ist’s.

BIANKA Nein! Nein!

KARL Ja. Drum stach Sie’s ins Herz.

BIANKA Nein! Nein! Plötzlich in seinen Arm: Ja! Ja!

KARL Da liegst du in meinem Arm. Bist blaß. Liege gut! Liege sanft!

BIANKA So gut! O, hier lieg ich wohl. Liebst du mich?

KARL Ja! Ja! und ja. Dich liebe ich!

BIANKA Närrchen, warum hast du es mir nicht gesagt?

KARL Ich sag dir’s jetzt um so öfter. Ich liebe dich! Ich liebe dich!

BIANKA Deine Gutmütigkeit hätte dich ins Unglück gestürzt. Du hast Mitleid mit der Liebe verwechselt. Nun weißt du, wo dein Platz ist!

KARL Ja. Ich liebe dich! Sag ichs zu oft?

BIANKA Du schreibst gleich deinen Eltern.

KARL Ja. Gleich. Und du besorgst dir einen Paß. Wir fahren zu ihnen.

BIANKA Meine Eltern sind tot. Mein Bruder ist Hauptmann der Reichswehr. Wir telegraphieren ihm.

KARL Heute noch! Gleich! Auf der Stelle!

BIANKA Karl. Küssen sich.

KARL Und das Mädchen?

BIANKA Du mußt sie verständigen. Mußt ihr manches klar machen. Schütz deine Eltern vor. Die Papiere. Du mußt hart sein. Es ist auch besser für sie. Ihr hättet euch nicht vertragen.

KARL Es wird mir schwer, natürlich.

BIANKA Ich bin vermögend. Ich strecke dir eine Summe vor. Man gibt dem Mädchen Geld zur Abfindung. O, sie wird’s ertragen. In ihren Kreisen ist’s keine große Schande, das Kind.

KARL Ich schäme mich. Ihre Mutter.

BIANKA Du würdest nicht glücklich werden mit ihr, du hast dir das alles vorgeredet. Du hättest dich ins Unglück gestürzt.

KARL O, dich liebe ich!

BIANKA Wie werden wir glücklich sein!

KARL Wir wollen rasch heiraten. Nun ich die Papiere habe. In sechs Wochen, in drei Wochen.

BIANKA Wie wollen wir glücklich sein!

KARL Sie ist ein gutes Mädchen. Und hat mich sehr lieb. Ich hab sie wohl auch gern gehabt. Aber du, dich liebe ich!

BIANKA Mein Liebster!

KARL Ich hätte mich mit meinen Eltern entzweien müssen. Ich hätte große Schwierigkeiten gehabt. Ich wäre auch gesellschaftlich, nein, nicht unmöglich, aber es wäre unangenehm genug gewesen.

BIANKA Das Mädchen wird einen anderen nehmen. Für das Kind ist gesorgt. Geld.

KARL Ja. Ein Makel wär wohl immer an ihr hängen geblieben.

BIANKA Sicherlich.

KARL Ich möchte stolz auf meine Frau sein. Sie muß untadelig sein. Untadelig und ohne Makel, wie du, sie hätte sich wohl sträuben müssen. Reckt sich. Sie hätte es nicht dürfen. Nun habe ich dich.

BIANKA Wir lieben uns. Das rechtfertigt alles.

KARL Wir wollen gleich das Telegramm an deinen Bruder aufsetzen.

BIANKA Und an deine Eltern.

KARL setzt sich an den Schreibtisch, Bianka sieht ihm über die Schulter zu.

BIANKA diktiert: Hauptmann Hussler, Berlin-Wilmersdorf, Jenaerstraße 173.

KARL Jenaerstraße 173. Das bekommt er heut Abend noch.

BIANKA Ja. Man sollte es wohl nicht!

KARL aufschauen: Was sagst du?

BIANKA Nichts! Nichts! Schreib nur, daß ich dich liebe!

Dritter Akt

Paula und die Mutter am Kaffeetisch.

PAULA O, Mutter! Keine Milch? Wo ist die Milch?

MUTTER Steht noch draußen in der Küche.

PAULA Im Schrank? Du wirst vergeßlich, Mutter.

MUTTER Ja. Im Schrank. Im untersten Fach. Links unten.

PAULA geht und kommt.

MUTTER Wann kommt denn Karl? Wann kommt denn der Bräutigam?

PAULA Jeden Augenblick. Es ist schon zwei.

MUTTER Er macht sich selten in der letzten Zeit. Tut er das nicht?

PAULA Er war erst vor drei Tagen da.

MUTTER Erst sagst du?

PAULA Warum? Warum nicht? Ja.

MUTTER Es würde nicht jede so sagen.

PAULA Er hat doch viel zu tun. Das Geschäft. Die Bank. Er hat den ganzen Tag zu tun.

MUTTER Nicht abends.

PAULA Ja, abends. Da kommt er auch manchmal.

MUTTER Manchmal. Ja.

PAULA summt ein Lied.

MUTTER Du siehst nicht gut aus.

PAULA O!

MUTTER Du bist sehr blaß, die letzten Tage. Bist du krank?

PAULA Ich fühle mich ganz wohl.

MUTTER Vielleicht ist es ... dein Zustand.

PAULA Nein, nein, was du denkst.

MUTTER Kopfweh vielleicht, das vorübergeht.

PAULA Ja. Kopfweh.

MUTTER Wie kommt ihr miteinander aus?

PAULA Warum fragst du?'

MUTTER Vertragt ihr euch noch gut?

PAULA Sehr gut.

MUTTER Und meinst du, daß er der Richtige ist? Für dich der Richtige?

PAULA Ich liebe ihn.

MUTTER So? Dann wohl.

PAULA Ich habe ihn sehr gern.

MUTTER Dann ists ja gut.

PAULA Wir sind nicht so sehr zärtlich zueinander, denkst du?

MUTTER Das denk ich auch, manchmal. Auch das.

PAULA Es ist wohl unsere Lage, die du kennst. Es macht ihn befangen. Und mich.

MUTTER Das mag wohl sein. Ein Grund.

PAULA Es ist nicht leicht für ihn.

MUTTER Nein. Das muß man zugeben. Das muß man durchaus zugeben.

PAULA Und er hat sich sehr anständig benommen.

MUTTER Das hat er. Manch einer hat sich gedrückt, wenns so weit war.

PAULA Ja, manch einer. Er nicht.

MUTTER Das war sehr anständig von ihm, daß er gleich zu mir kam.

PAULA War es das?

MUTTER Er hat dich gern deswegen.

PAULA Er hat mich gern und ist sehr anständig. Deswegen heiratet er mich jetzt.

MUTTER Es ist schon zehn Minuten nach zwei.

PAULA Dann muß er gleich da sein. Um drei beginnt sein Dienst in der Bank.

MUTTER Ja.

PAULA Mutter, magst du uns nicht allein lassen heut?

MUTTER Aber, Kind, warum denn?

PAULA Du sagst selbst, wir seien so befangen zueinander. Vielleicht, deine Gegenwart macht ihn schüchtern. Das ist ja auch wohl verständlich.

MUTTER Ja. Aber recht schicklich ...

PAULA Mutter, schicklich, denk doch dran!

MUTTER verlegen: Ja. Ich laß euch allein.

PAULA Es ist ja nur eine Stunde. Eine kurze Stunde. Dreiviertelstunde.

MUTTER Ich geh jetzt ins Schlafzimmer. Ich hab zu arbeiten, Vaters Wäsche. Und ruf mich, wenn er wieder fort ist. Geht.

PAULA Ja. Sie sitzt, blaß, regungslos, auf dem Stuhl, bis es klopft. Herein!

KARL tritt ein: Guten Tag.

PAULA ihm entgegen, sie küssen sich: Du warst seit drei Tagen nicht mehr da.

KARL Ich hatte viel zu tun.

PAULA Ja, aber nimm Platz . Sie setzen sich. Sie schenkt ihm und sich ein.

KARL Und deine Mutter?

PAULA Hat zu tun. Sie kommt vielleicht, nachher.

KARL Ja.

PAULA Was gibt es an Neuigkeiten?

KARL Wenig. Im Geschäft ist’s immer das gleiche.

PAULA Und sonst?

KARL Nichts. Nichts von Wichtigkeit. Vor einigen Tagen war ich im Kino.

PAULA Ah.

KARL Das Mädchen aus der Ackerstraße. So heißt der Film!

PAULA So? Und sonst?

KARL Die Ziegelaktien habe ich jetzt doch noch rechtzeitig abgestoßen. Ich hatte Glück. Ich hätte sonst sehr Haare lassen müssen.

PAULA Film und Aktien und die Bank! Du weißt, daß ich auf andere Neuigkeiten begierig bin.

KARL Ich wollte nicht gleich damit beginnen. Ich kann dir noch nichts Erfreuliches sagen.

PAULA Die Papiere? Die Papiere?

KARL Habe ich noch nicht.

PAULA Noch immer nicht?

KARL Das Konsulat...

PAULA Ich verstehe das nicht. Es handelt sich bei dir doch um ganz geordnete Verhältnisse. Diese Umstände.

KARL Vorschriften über Vorschriften. Jeder Beamte entdeckt einen neuen Paragraphen, der uns eine Woche Zeit kostet.

PAULA Es ist schrecklich.

KARL Ja.

PAULA Und du beschleunigst alles nach Kräften?

KARL Das ist natürlich.

PAULA Was ist da jetzt zu tun?

KARL Geduld!

PAULA Geduld! Ich weiß nicht woher sie nehmen.

KARL Es muß sein.

PAULA Das frißt an mir.

KARL Warte.

PAULA Du sagst es ruhig. Du sagst es gelassen. Warte.

KARL Ich weiß kein anderes Wort, das besser auf deine Lage paßte.

PAULA Es ist nun zu Verzweifeln. Pause.

KARL Magst du nicht ... ein Lied? Auf der Gitarre!

PAULA Ich hab keine Finger mehr dafür. Finger wie erfroren ...

KARL Versuchs.

PAULA Und hab jeden Liedertext vergessen.

KARL Versuchen kannst du’s doch.

PAULA Nein. Ich kann nicht. Mir brächen die Finger ab.

KARL Kannst nicht?

PAULA Nein. Jetzt nicht. Nicht jetzt. Solang dies alles ...

KARL Schon gut.

PAULA Es sind vier Monate jetzt. Und die Hochzeit immer noch unbestimmt.

KARL Ich fürchte, es kann noch Wochen dauern. Ich fürchte viele Wochen.

PAULA Das darf nicht sein.

KARL Wir werdens nicht hindern können.

PAULA Es ist schrecklich.

KARL Wenn das nicht wäre ...

PAULA Was?

KARL Nun, das besonders ...

PAULA Was dann?

KARL Dann könnten wir ja ruhig zuwarten, auf die Papiere. Dann hätten wir Zeit.

PAULA Ja. Dann.

KARL Aber so, aber so, es ist ein Unglück.

PAULA Du klagst. Du klagst mich an.

KARL Nicht dich. Nicht uns. Aber wie ruhig könnten wir warten, wenn das nicht wäre.

PAULA Aber es ist.

KARL Ja. Es ist. Pause.

PAULA Du küßt mich nicht?

KARL Doch. Küßt sie.

PAULA Liebst du mich noch?

KARL Ja.

PAULA Wie an den Abenden, am Fluß?

KARL Ja.

PAULA Wie an dem Abend auf der Bank am Fluß?

KARL Ja.

PAULA Wo die Fledermaus uns schreckte; die schwarze. Weißt du’s noch?

KARL Die schwarze. Ja.

PAULA Sag mir’s, wie du mich liebst[!]

KARL Du weißt es. Du weißt es doch.

PAULA Warum küßt du mich nicht? So küß mich!

KARL Ja. Tuts.

PAULA Lieber Schatz.

KARL Ja, ja.

PAULA Liebster Schatz, wie wäre es schön, wenn wir schon verheiratet wären!

KARL Ja.

PAULA Ich könnte dann auch wieder Gitarre spielen, und singen ... Glaubst du?

KARL Ja.

PAULA wirbelt mit den Fingern auf der Tischplatte: Wie das wieder ginge! Schau! Meinst du?

KARL Ja.

PAULA Arme Gitarre!

KARL Es ist unser Unglück.

PAULA Was?

KARL Nun. Was denn? Das Kind.

PAULA O!

KARL Wenns nie geschehn war!

PAULA Möchtest du das?

KARL Ja.

PAULA schweigt.

KARL Wenn es ungeschehen zu machen wär!

PAULA Es ist nun einmal.

KARL Wenn sie wegzuräumen wär, diese ständige Drohung. Diese Last.

PAULA Ich trage sie.

KARL Ich trage mit. Aber es ist nichts zu machen. Wir müssen warten. Müssen geduldig auf die Papiere warten.

PAULA Wir können aber nicht. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Es eilt. Es eilt sehr.

KARL Wenn das Kind nicht wäre, dann eilte es nicht, dann eilte es gar nicht.

PAULA Ich kann nicht mehr warten.

KARL Du mußt, oder ... Er spricht dies und die folgenden Sätze in einem leichten und scherzenden Ton.

PAULA Oder?

KARL lachend: Zu einer weisen Frau mußt du gehen.

PAULA Was heißt das?

KARL Um das Geschehene ungeschehen zu machen.

PAULA Du rätst mir?

KARL immer noch lachend: Nichts.

PAULA Du meinst, ich sollte ... meinst du das?

KARL Was redest du? Was erregst du dich? Ich scherzte.

PAULA Du möchtest...

KARL Was?

PAULA Du wärst froh, wenn ich das Geschehene ungeschehen machte. Du weißt, es gibt Mädchen, die in der höchsten Not dies erdulden. Und du rätst mir, es zu tun?

KARL Ich riet dir nichts. Du drängtest. Ich machte einen schlechten Scherz. Weiter nichts.

PAULA Du nähmst es an und sagtest danke, tät ich es.

KARL Du bist ungerecht.

PAULA Du würdest aufatmen und dir die Hände reiben, wenn ich es täte.

KARL Du zankst. Und ohne Grund.

PAULA Ach!

KARL Was hast du?

PAULA Und wenn ich es nun schon getan hätte?

KARL Sprich nicht weiter.

PAULA Wenn ich deinen Wünschen zuvor gekommen wäre?

KARL Ich habe es nicht gewünscht.

PAULA Wenn ich deine Gedanken erraten hätte? Wenn ich getan hätte, was du dir heimlich ausmaltest?

KARL Red. Sag, daß du mich erschrecken willst.

PAULA Es eilt nicht mit den Papieren. Es eilt gar nicht. Wahrhaftig, es eilt nicht mehr, jetzt nicht mehr.

KARL Hör auf!

PAULA Wir können ruhig warten, jetzt. Wir können warten. O, ist das ein Gefühl, frei zu sein! Drei Reifen sind gesprungen, die mir um die Brust waren.

KARL Ist es wahr? Du hast?

PAULA Ja. Nie geschah etwas Besseres.

KARL Du hast... wirklich?

PAULA Durch eine weise Frau. O, durch eine weise, alte Frau. O, war die alte Frau klug und weise!

KARL Wie konntest du?

PAULA Sei froh.

KARL Das hättest du nie tun dürfen!

PAULA lacht.

KARL Wo hast du den Mut hergenommen?

PAULA Du willst sagen: Die Verzweiflung.

KARL Dazu lag kein Grund vor, zur Verzweiflung.

PAULA Nein. Das wars auch nicht. Das wars wohl auch nicht.

KARL Du hättest dich nicht hinreißen lassen dürfen.

PAULA Es war wohl überlegt.

KARL Ich fürchte mich vor dir.

PAULA Ich wollte frei sein.

KARL Ich verstehe dich nicht.

PAULA Ich wollte frei sein in meinen Entschlüssen. Keinem Zwang unterliegen. Nicht wie mit Ketten an dich gefesselt sein.

KARL Ach.

PAULA Auch du solltest frei wählen können. Du kannst es nun. Nichts zwingt dich. Wähle. Das hast du mir zu verdanken.

KARL Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht.

PAULA Wenn wir nicht heiraten wollen, wir müssen nicht. Wir sind frei. Ich bin es, und du bist es. Wir können nun tun und lassen, was wir wollen.

KARL Um welchen Preis?

PAULA Ich habe ihn bezahlt.

KARL Du bist unmenschlich.

PAULA Ach.

KARL Das kann ich dir nicht verzeihen.

PAULA Was?

KARL Du hast ein Verbrechen begangen.

PAULA Für uns, für mich, und für dich.

KARL Ich habe es nicht gewollt.

PAULA Du hast es mir geraten.

KARL Da wars schon geschehen. Ich scherzte nur.

PAULA Ich machte Ernst.

KARL Weiß es deine Mutter?

PAULA Nein, sie weiß nichts.

KARL Schrecklich!

PAULA Nur du weißt es, du und ich und jene Frau.

KARL Ich will nichts wissen. Ich will nicht Mitschuldiger sein.

PAULA Du bist es.

KARL Nein, nein. Laß mich aus dem Spiele.

PAULA Schreib deinem Konsul, nun könne er sich Zeit lassen.

KARL ja.

PAULA Du küßt mich nicht?

KARL Jetzt nicht.

PAULA Küsse mich.

KARL Laß das jetzt.

PAULA Kann man mehr für dich tun? Hat schon jemand mehr für dich getan?

KARL Nicht für mich.

PAULA Ich habs verdient um dich. Küsse mich.

KARL Ich habs nicht gewollt.

PAULA Aber küß mich.

KARL Ja. Küßt sie.

PAULA Nun sage, wollen wir heiraten?

KARL Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts jetzt. Ich bin wie vor den Kopf geschlagen.

PAULA Überleg dirs wohl. Kein Druck wird auf dich ausgeübt. Wollen wir?

KARL Lieber war es mir, du hättest es nicht getan.

PAULA Du mußt nicht fürchten, daß du mich kränkst, wenn du nun nicht mehr willst. Das mußt du nicht fürchten.

KARL Wie sachlich du sein kannst, auf einmal.

PAULA Du kannst es mir ruhig sagen. Sag es mir ruhig, wenn du nun nicht mehr willst.

KARL Wohin steuerst du? Was willst du? Liebst du mich nicht mehr?

PAULA Ich weiß es nicht genau. Ich weiß es nicht mehr ganz genau.

KARL So? Nun, besinne dich!

PAULA Ich will es dir leicht machen. Ich tret zurück. Ich will nicht mehr, nun ich nicht mehr wollen muß.

KARL Das fällt dir nicht schwer?

PAULA Du hast mir geholfen. Du bist mir den halben Weg entgegen gegangen. Es ist also aus.

KARL Das geht schnell.

PAULA So muß es sein.

KARL So rasch geb ich mich nicht zufrieden.

PAULA Du wirst es müssen.

KARL nach einer Pause: Vielleicht war ich auch ungerecht.

PAULA Ach.

KARL Ich muß doch bedenken ...

PAULA Was?

KARL Ich muß doch in Betracht ziehen, daß du gewissermaßen meinetwegen ...

PAULA Nicht deinetwegen. Ich tats für mich.

KARL Daß du meinetwegen ein Verbrechen begangen hast.

PAULA Das macht dir Eindruck?

KARL Ich liebe dich! Weißt du nicht, daß ich dich liebe? Will sie küssen.

PAULA Laß das, jetzt!

KARL Es bleibt dabei.

PAULA Wobei bleibt es?

KARL Wir heiraten.

PAULA Nein.

KARL Sei nicht verstockt!

PAULA Mein Entschluß ist fest.

KARL Du hast das für mich getan, und jetzt willst du mich nicht?

PAULA Nein.

KARL Deine Mutter, denk, was wird sie sagen?

PAULA Sie wirds verstehen.

KARL Die Leute!

PAULA Mögen reden.

KARL Sei nicht so hart. Sonst zwing ich dich.

PAULA Jetzt? Der Zwang ist beseitigt.

KARL Du hast ein Verbrechen begangen.

PAULA Du willst ...

KARL Ich habe dich in der Hand. Ich weiß um dein Geheimnis. Du mußt mich fürchten.

PAULA Das heißt?

KARL Daß ich dir schaden kann. Daß ich dich ins Gefängnis bringen kann.

PAULA Das wirst du nicht. Du würdest dich selbst anschuldigen.

KARL Ich bin unschuldig.

PAULA Du hast es mir geraten.

KARL Im Scherz. Aber da hattest du es schon getan.

PAULA Niemand wird es dir glauben. Das weißt du genau.

KARL Liebst du mich nicht mehr? Ja, liebst du mich denn nicht mehr?

PAULA Nein!

KARL Du sprichst im Zorn.

PAULA Ich bin ganz ruhig.

KARL Du wirst es dir noch überlegen.

PAULA Ich habe nichts mehr zu überlegen.

KARL Wenn ich mich sehr bemühte, noch mehr bemühte als bisher, wenn ich ihnen alle Türen einliefe, im Konsulat, vielleicht, daß ich die Heiratspapiere jetzt doch sehr bald bekäme!

PAULA Das ist nun nicht mehr nötig.

KARL Wenn ich mit allen Mitteln wie mit Pech und Schwefel arbeitete, vielleicht, daß ich die sechs Unterschriften jetzt doch sehr bald aus ihnen herausräucherte!

PAULA Du kannst sie abbestellen, die Papiere, du brauchst die nicht mehr.

KARL Heirate mich! Ich will von jetzt an hinter den sechs Unterschriften her sein, wie der Teufel hinter einer armen Seele. In vierzehn Tagen, in acht Tagen will ich sie haben. Heirate mich!

PAULA Und wenn du sie in drei Tagen bekämst, in zwei, und wenn du die Papiere jetzt in der Hand hättest, ich sagte: Nein.

KARL So? Sagtest du das? Überleg dir’s wohl! Hier – ich habe sie hier in der Hand. Holt sie aus der Tasche.

PAULA Du hast sie? Du trugst sie in der Tasche mit dir herum?

KARL Ja. Nun können wir heiraten. Nichts mehr steht uns im Weg.

PAULA Du hattest sie und verschwiegst es mir? Ich bin nachts oft wach geworden, und sah ein viereckiges Stück weißen Papiers vor mir, mit sechs Unterschriften wie schwarze Salamander, und griff danach und da liefen die sechs schwarzen Salamander weg und ich weinte. Und du hattest sie und sagtest mir nichts?

KARL Ich hab ... verzeih!

PAULA Warum logst du mich so an? Du wolltest mich also gar nicht heiraten?

KARL Ich habe geschwankt.

PAULA Gibst du nun zu, daß du mich nur gezwungen genommen hättest?

KARL Aber jetzt bin ich frei. Und du siehst ich will doch.

PAULA Ich hatte recht. Ich fühlte es. Ich löste einen Zwang.

KARL Ich liebe dich.

PAULA Meinst du?

KARL Heirate mich.

PAULA Es ist nun ganz unmöglich.

KARL Es war gemein von mir, ich sehe es ein. Aber ich liebe dich. Heirate mich.

PAULA Nein! Geh jetzt! Leb wohl.

KARL Paula!

PAULA Geh, geh. Und morgen bist du froh. Übermorgen bin ichs auch.

KARL Ich muß mit deiner Mutter reden.

PAULA Zwinge dich zu nichts. Geh jetzt. Bevor sie kommt. Es ist auch Zeit. Du mußt in die Bank.

KARL Wir sehen uns wieder. Ich komme morgen wieder.

PAULA Ach, geh. Es ist aus. Geh, nun, geh!

KARL Die Papiere, hier! Greif sie an, sie sind’s! Morgen komme ich wieder.

PAULA Ach! Wendet sich ab.

KARL zögernd: Gut. Gut. Geht.

PAULA sieht ihm nach, setzt sich. Wirft sich plötzlich, laut schluchzend, über den Tisch.

MUTTER kommt: Kind.

PAULA wieder ruhiger: Ja. Mutter.

MUTTER Ist Karl fort?

PAULA Ja.

MUTTER Habt ihr euch gezankt?

PAULA Nein.

MUTTER Wann kommt er wieder? Habt ihr euch verabredet?

PAULA Nein.

MUTTER Was heißt das?

PAULA Daß es aus ist, zwischen uns beiden.

MUTTER Nein.

PAULA Ja. Aus. Ganz und gar aus.

MUTTER Und warum? So rede doch, warum?

PAULA Ach, es ist so.

MUTTER Aber Mädchen, hast du an deinen Zustand gedacht?

PAULA Ja.

MUTTER Er darf dich doch nicht im Stich lassen, jetzt. Jetzt nicht.

PAULA Das gibt nun nicht mehr den Ausschlag, Mutter.

MUTTER Du und er, ihr gehört nun zusammen. Habt ihr das vergessen?

PAULA Das ist nicht mehr so, Mutter.

MUTTER Nicht mehr so?

PAULA Nein. Es ist alles, wie früher.

MUTTER Dein Zustand ...

PAULA Ich, habe kein Kind zu erwarten.

MUTTER Du hast kein ...

PAULA Nein.

MUTTER Ja. Dann aber. Dann aber. Mädchen du wirst dich doch nicht zeitlebens unglücklich gemacht haben.

PAULA Ich wollte nicht, daß Karl mich nur nimmt, weil ... Ich wollte, daß er frei wählen könne. Ich wollte frei wählen. Ich auch.

MUTTER Mich tragen die Beine nicht. Wie konntest du?

PAULA Sie mußte weg, die Fessel. Ich war entschlossen. Ich war zum letzten entschlossen. Ich ging zu einer weisen Frau.

MUTTER Mir zittern die Hände.

PAULA Die lachte. Die untersuchte mich und lachte. Und sagte: Da ist leicht abzuhelfen.

MUTTER Schrecklich! Hör auf!

PAULA Sie sagte mir, ich hätte mich getäuscht. Ich sei ganz wohl. Es sei keine Rede davon, daß ...

MUTTER Daß ...?

PAULA ... ich ein Kind zu erwarten hätte. Keine Rede sei davon. Sie sprach von Bleichsucht und schlechtem Blut, aber, ich sei ganz wohl.

MUTTER Ich bin noch wie betäubt.

PAULA Ich bin frei. Gott sei Dank.

MUTTER Daß du zu so etwas im Stande warst. Ich hätte es nie gekonnt. Du bist mein Kind. Daß Kinder mehr tun können als ihre Mutter!

PAULA Ich hätte es nicht mehr länger ertragen.

MUTTER Du hättest eine große Sünde begangen.

PAULA Ich habe sie begangen, als ich entschlossen war. Ich war entschlossen.

MUTTER Du hättest ein Verbrechen begangen?

PAULA Ja.

MUTTER Und Karl? Weiß er das alles?

PAULA Ja.

MUTTER Du hast ihn nicht geliebt.

PAULA Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht mehr.

MUTTER Du hast ihn noch nicht vergessen, den anderen, Heinrich.

PAULA Mutter, was du denkst? Er ist mir völlig fremd.

MUTTER Wenn es nur wahr ist.

PAULA Ich habe ihn vergessen. Und Karl auch. Auch ihn schon. Ich habe nur Furcht vor ihnen. Vor ihnen und vor allen Männern. Mutter, ich fürchte sie.

MUTTER Sie sind zu fürchten.

PAULA Ja. Sie sind’s.

MUTTER Daß du das Kind hättest töten wollen, dummes Mädchen. Es hätte keinen Vater gebraucht. Es hätt eine Mutter gehabt und das genügt.

PAULA versonnen: Ja.

VIERTER AKT

Ein kleiner Empire-Salon, leer. Nach einer kleinen Weile kommen Bianka und Karl. Karl im Frack, Bianka im weißen Brautkleid, Myrten im Haar.

KARL Die wenigen Gäste und doch soviel Trubel.

BIANKA Ich bin froh, daß es vorbei ist.

KARL Ich hab zuviel Eis gegessen.

BIANKA Ich zuviel geschlürft von der Predigt des Pastors.

KARL Ich hab zuviel Eis gegessen, das war so weiß und sauber. Das lockte mich. Aber es war auch so kalt. Da hab ich Wein drauf getrunken, es zu wärmen. Bin ich betrunken?

BIANKA Gar nicht, Karlchen.

KARL Nur lustig, nicht wahr? Und dazu habe ich allen Grund, habe ich ihn nicht?

BIANKA Das war also unsere Hochzeit.

KARL Ach, der Wein! Prickelts dir auch so in den Fingerspitzen?

BIANKA Ja, aber nicht bloß vom Wein.

KARL In den Fingerspitzen, in den Zehenspitzen. Es war eine schöne Feier!

BIANKA Aber jetzt! Auf nach Tirol!

KARL Horch! Drunten klingen noch die Gläser.

BIANKA Tirol!

KARL Sie trinken auf unsere Gesundheit.

BIANKA Bekomms ihnen wohl.

KARL Du siehst schön aus. Die schönste Braut.

BIANKA Ich möchte das weiße[,] starrende ausziehen, das Reisekleid liegt bereit. O, schon in Tirol zu sein!

KARL Warte. Der Zug geht erst in einer Stunde. Zum Umziehen ist noch Zeit.

BIANKA Ja.

KARL Das Brautkleid trägst du nur einmal und den Kranz. Geh einmal auf und ab, du bist die schönste Braut, ich möchte dich sehen.

BIANKA tuts: Zufrieden, nun?

KARL Bleib stehen dort! Rühr dich nicht! Ich möchte dich wie in ein Schaufenster auf Samt, ja, auf Samt stellen und dich durch die Scheibe anstarren, stundenlang.

BIANKA Das wäre langweilig! Komm her, schlag die Scheibe ein.

KARL Arm um sie: Wie ich dich liebe!

BIANKA Daß wir nun Mann und Frau sind. Weißt du es?

KARL Ich gewöhne mich ganz langsam daran. O, ich genieße alles. Nun folgt die Hochzeitsreise.

BIANKA Nach Tirol.

KARL Heut abend sind wir in unserem Hotel. Zum Pfauen. Er kann [nicht] eitler sein, als ich auf dich.

BIANKA Ich freue mich auf die Berge. Wir wollen Ausflüge machen.

KARL Auch, ja. Auch das.

BIANKA O, ich bin eine gute Bergsteigerin. Du wirst sehen.

KARL Du bist die Beste und die Schönste. Küßt sie. Wenn ich denke, daß ich mich mit einer anderen heut ...

BIANKA Ach!

KARL Es war eine Verirrung. Nur dich liebe ich.

BIANKA Schatz. Küßt ihn.

KARL Dich im Arm zu haben! O, unsere Ehe! Mit Schande hätte die andere begonnen. Auf der Hochzeit hätte die Braut ein Wiegenlied gesungen.

BIANKA Karl!

KARL Aber ich habe mich nicht fangen lassen. O, nein. Ich bin ihr entwischt. Ich bin aus ihrer Schlinge gestiegen. Ich war der Tölpel, doch nicht groß genug.

BIANKA Sprich nicht mehr davon.

KARL Noch mehr davon. Noch viel mehr davon. Wenn ich ins Schwarze sehe, blendet mich das Weiße noch mehr. Ein Mädchen darf das nicht tun. Sie darfs nicht tun, du hast recht, du hast das selbst gesagt. Das tut kein anständiges Mädchen vor der Ehe.

BIANKA Aber sie tats mit dir.

KARL Ja. Wohl. Aber weiß ich ob sie es nicht mit Anderen auch tat? Weiß ich das? Sie darf es niemals und mit niemandem tun.

BIANKA Man sollte wohl nicht.

KARL Du hast mir die Augen geöffnet, damals, an jenem Tage, als ich in ihre Falle gehen wollte.

BIANKA Tat ich das?

KARL Ich bin dir dankbar heut. Jetzt habe ich dich. Rein wie die Myrten in deinem Haar. O, ich bin glücklich!

BIANKA Ja.

KARL Die Andere hätte mir ein Kind mit in die Ehe gebracht und einen strohernen Kranz.

BIANKA Es wäre immerhin dein Kind gewesen.

KARL Mein oder nicht mein, mir ists lieber so.

BIANKA Du bist nicht gerecht.

KARL Ich bin glücklich. Wer könnte besser tauschen?

BIANKA Sag das nicht. Sags nicht zu oft.

KARL Ich sage es offen und laut und immer wieder. Soll ich mich meines Glücks nicht freuen? Ich habe dich, wo ich die Andere haben könnte. Ich habe die Reine, wo ich die ...

BIANKA Schweig! Schweig!

KARL Sie war zu allem fähig. Wie war sie schlecht! O, wie war sie erzschlecht! Jener Schritt, den sie tat.

BIANKA Wie darfst du ihr das vorwerfen! Du hast sie dazu getrieben.

KARL Ich bin unschuldig dran.

BIANKA Sie tats deinetwegen.

KARL Ich bin unschuldig dran, sie hat verbrecherisch gehandelt. Wie bin ich glücklich, daß ich dich habe! Jenes Frauenzimmer ...

BIANKA Schweig.

KARL Das darf eine Frau nicht tun. Sie hätte sich nicht einlassen dürfen mit mir. Nicht in dieser Weise. Aber vielleicht tat sie’s nur, um mich zu ködern. Gewiß tat sie es nur darum.

BIANKA Hör auf!

KARL O, du bist rein! Du verteidigst noch die Unreine. O, du bist gut! Nie hättest du das getan. Was habe ich an dir, du Reine, du Gute!

BIANKA Du lästerst mich.

KARL Ich liebe dich, weil du schön bist, weil du gut bist. Weil du rein bist. Ich verachte jene andere. Ja, ich verachte sie. Ich spucke sie an. Aber dich, dich bete ich an! Fällt vor ihr auf die Knie.

BIANKA stößt mit dem Fuße leicht nach ihm: Steh auf!

KARL Nein, ich bleibe so. Du Reinste!

BIANKA heftig: Du bist ein Narr. Schweig. Stehe auf. Ich bin nicht rein.

KARL Du Reinste.

BIANKA wütend: Du beleidigst mich. Du beschimpfst mich in der Andern. Was fügst du mir zu?

KARL Du Liebste, du Reinste.

BIANKA Ich schmeiß dir das Geständnis ins Gesicht. Ich bin wie die andere. Gerade so. Gerade und genau so.

KARL Nein! Nein! Nein!

BIANKA Ja und ja und ja.

KARL schreiend immer noch auf den Knien: Das ist nicht wahr.

BIANKA Es ist wahr.

KARL steht auf und taumelt: Es hätte dich, schon ein Anderer berührt?

BIANKA Ja.

KARL Ein Anderer dich geküßt? Dich im Arm gehalten ein Anderer?

BIANKA Zweifelst du noch dran?

KARL Es ist nicht wahr.

BIANKA Glaub nur, es ist so.

KARL Du willst mich strafen. Du sagst es nur um mich zu strafen. Weil ich gegen die Andere gefrevelt. Aber es ist nicht wahr.

BIANKA Es ist noch mehr wahr. Ich muß dir noch mehr sagen. Ich will dir noch mehr sagen. Jetzt. Du Tölpel. Ich bin wie die Andere war. Verstehst du? Genau so. Um kein Haar anders. Um kein Haar besser.

KARL Das soll heißen ...

BIANKA Jawohl. Ich habe ein Kind zu erwarten. Von einem Anderen. Aber du wirst sein Vater sein. Du, den ich geheiratet habe.

KARL Du ... Du...

BIANKA Ja. Besieht sich im Spiegel. Mir steht der Kranz deshalb nicht weniger gut. Und die starre Seide. Ich bin deswegen nicht schlechter. Was denkst du, du Tölpel, mir das vorzuwerfen.

KARL Du lügst. Das lügst du alles.

BIANKA Frag meinen Arzt.

KARL Wer ist der Andere?

BIANKA Ach, das ist gleichgültig.

KARL Geh zu ihm! Geh zu ihm! Ich will nichts mehr von dir wissen. Geh auf der Stelle zu ihm.

BIANKA Ich bleibe bei dir.

KARL Ich lasse mich scheiden. Es gibt noch Richter. Ich leite sofort die Scheidung ein. Ich fahre nicht nach Tirol. Ich fahre auf der Stelle zu einem Rechtsanwalt.

BIANKA Das wirst du nicht tun. Du fürchtest den Skandal.

KARL Ich fürchte nichts. Was sollte ich jetzt noch fürchten? Ich lasse mich scheiden!

BIANKA Dann werde ich der Polizei erzählen. Von der Anderen, von dem Kind, und wo es hinkam. Ich werde der Polizei eine lange Geschichte erzählen.

KARL Ich bin unschuldig.

BIANKA Das glaubt dir niemand.

KARL Ich lasse mich scheiden.

BIANKA Das wirst du nicht tun. Bedenke den Skandal. Deine Stellung in der Bank. Dein Chef, deine Eltern und mein Bruder. Er ist ein guter Pistolenschütze. Du weißt es. Er wird nicht dulden, daß du mir die Schmach antust. So oder so, du würdest dich schießen müssen mit ihm.

KARL Er soll mich erschießen, meinetwegen. Das gibt ein lustiges Geknalle. Auf den Schießstand, meinetwegen. Überall hin! Ins Grab lieber, als zu dir ins Hochzeitbett!

BIANKA Red nicht vom Grab. Du bist betrunken. Nach Tirol fahren wir!

KARL Du, du, du wirst es nicht schön haben bei mir. Du sollst die Hölle haben bei mir. Die leibhaftige Hölle.

BIANKA Ich geh nicht von dir.

KARL O, das wird lustig werden.

BIANKA Karl!

KARL Es ist furchtbar.

BIANKA Bin ich weniger schön als vorher? Warum liebst du mich weniger?

KARL Ich verabscheue dich!

BIANKA Ich liebe dich.

KARL Lügen über Lügen.

BIANKA Ich liebe dich.

KARL Alles kluge Berechnung. Klügste Berechnung. Du hast nun einen Vater für dein Kind. Ich Narr, ich dreimal verdammter Narr.

BIANKA Ich habe dich lieb, das ist die Wahrheit.

KARL Sei verflucht.

BIANKA Warum liebst du mich nun weniger? Ich habe den Anderen vergessen. Nur dich liebe ich.

KARL Ich glaube dir kein Wort. Geh zu dem Anderen.

BIANKA Den gibts nicht. Der ist eingesargt und siebenmal versenkt.

KARL Tot?

BIANKA Tot oder nicht, ich will leben. Ich geh nicht von dir. Ich halt dich. Ich brauche dich. Ich laß nicht von dir und bleibe.

KARL Hättest du geschwiegen. Hättest du wenigstens geschwiegen. Wie war ich glücklich! Nun war ich schon auf einem Berg in Tirol. Und bin abgestürzt.

BIANKA Besinne dich. Liebst du mich nicht mehr? Du mußt! Du kannst nicht anders.

KARL Schweig du! Warum geh ich nicht auf dich los?

BIANKA Wir fahren nach Tirol, du wirst alles vergessen. Breitet die Arme aus. Du mußt mich lieben Karl.

KARL Ich will nicht! Ich will nicht!

BIANKA Karl! Drückt sich in seinen Arm.

KARL steif: Geh.

BIANKA Gesicht an Gesicht: Liebster!

KARL schweigt.

BIANKA Liebster! Küßt ihn. In der Tür erscheint der Hauptmann.

HAUPTMANN Noch nicht umgekleidet? Verliebtes Paar. Klatscht in die Hände. Marsch! Marsch! Ich dacht euch schon weit. Ihr versäumt noch den Zug. Marsch, Schwager.

KARL Ich ...

BIANKA Ist’s unten noch lustig?

HAUPTMANN Es qualmt wie auf dem Schießstand. Euer Wein ist gut.

KARL Unterhältst du dich gut, Schwager?

HAUPTMANN Vortrefflich. Wir erzählen Anekdoten.

KARL Weibergeschichten ...

HAUPTMANN Pikant ... Pikant. Und Jägerlatein. Dein Onkel schneidet auf. Ein Münchhausen. Ich treff das Herz in der Spielkarte. Ich treffs, Schwager – lacht – Aber dein Onkel – ein Münchhausen. Ein Münchhausen.

BIANKA O, wenn ich mein Kind erst hab!

HAUPTMANN Hoho Schwesterchen. Hasts eilig! Weißt nicht, ob du eins haben wirst.

BIANKA Du sollst der Pate sein.

HAUPTMANN Warts ab! Manchmal bleiben sie aus.

BIANKA Im Arm wenn ichs halten werde mein Kind, o, mein Kind.

HAUPTMANN Was sagst du, Schwager. Du mußt auch mit dabei sein und wirst nicht gefragt.

KARL So scheints.

BIANKA Und dann bald ein zweites, Karl, noch eins, hörst du’s?

KARL Mir tun die Ohren weh.

BIANKA Ach, Karl, mein Kind, dein Kind!

KARL Ja.

HAUPTMANN Marsch! Marsch nun – küßt Bianka. Der Wagen steht unten. Los Schwager, los. Schüttelt ihm die Hand. Zwei Kinder! Geht lachend ab.

BIANKA Wir müssen uns umziehen, Karl.

KARL Ja.

BIANKA Beeile dich, ich bin rasch fertig.

KARL Ja . Er will in sein Zimmer.

BIANKA Karl.

KARL dreht sich um: Nun?

BIANKA Freust du dich auf Tirol?

KARL Ja sehr. Wie sollte ich nicht?

BIANKA Auf den Gasthof zum Pfauen. Wo wir allein sein werden, ganz allein, zum erstenmal. Und Berge vorm Fenster. Freust du dich?

KARL Mir schlägt das Herz schnell. Einen Wirbel. Und vor den Augen flimmerts mir. Und der Kragen hier, der ist zu hoch, der ist zu steif Das ist ein zu steifer, zu hoher Kragen.

BIANKA Wir ziehn uns ja jetzt um. Und dort trägst du nur weiche Kragen, niedrige, weiche Kragen. Liebst du mich, Karl?

KARL geht auf sie zu: Ich verabscheue dich! Wieder ein paar Schritte. Ich hasse dich! Fällt vor ihr auf die Knie, nimmt ihre Hand und küßt sie. Ich liebe dich!

BIANKA In zehn Minuten, in fünf Minuten. Ab.

KARL kniet noch allein. Über ihn fallt der

Vorhang.

Die Stubenfliege

Komödie in vier Akten
[1923]

Dramatis personae

GRUBER • ANNA • HERR SCHMELZLER • FRAU SCHMELZLER • FRAU SCHARMANN • FRAU ROTHEIS • LUISE SCHMERDEGEN • LINA SCHMERDEGEN • BAUMBAUER • FRAU KRESS • DER NOTAR • SCHLITTMEIER

ERSTER AKT

Ein Mainachmittag. Grubers Wohnzimmer, kleinbürgerlich eingerichtet. Auch ein Bett steht da. Links, rechts und in der Mitte je (vom Zuschauer aus) eine Tür. Die Stube ist unaufgeräumt, Besen und Schaufel lehnen traurig in einer Ecke. Wenn der Vorhang aufgeht, ist die Bühne leer, eine kleine Weile.

GRUBER ein hagerer Fünfziger, kommt durch die mittlere Tür. Er trägt, über dem Bratenrock, einen schwarzen Mantel, den Zylinder auf dem Kopf. Er geht unruhig und bekümmert auf und ab. Setzt sich auf einen Stuhl. Schüttelt den Kopf, schwerfällig: Ach Gott! Geht wieder hin und her, ordnet die Photographien auf der Kommode, nimmt den Besen und fängt an, wie er ist, ohne den Hut abzunehmen, die Stube zu kehren. Ach Gott! Ach Gott! Wirft den Besen hin, setzt sich und weint still in sich hinein. Es klopft. Er hört nichts. Zögernd wird die Türe geöffnet. Die beiden Nachbarinnen, Frau Rotheis und Frau Scharmann, treten herein. Beide in dem Gewand, das man bei Beerdigungen trägt.

FR. ROTHEIS Herr Gruber.

FR. SCHARMANN Lieber Herr Gruber.

GRUBER rührt sich nicht und regt sich nicht.

FR. ROTHEIS Soll ich Ihnen ... vielleicht was zu trinken?

FR. SCHARMANN legt ihm leicht die Hand auf die Schulter: Herr Gruber.

GRUBER hebt nur den Kopf sieht sie stumm an.

FR. ROTHEIS Einen Kaffee vielleicht?

FR. SCHARMANN Lieber Herr Gruber.

GRUBER Fünfundzwanzig Jahre.

FR. ROTHEIS Sie haben immer noch den Hut auf dem Kopf. Hängt den Zylinder an den Kleiderständer.

FR. SCHARMANN Es ist wohl schwer.

GRUBER Fünfundzwanzig Jahre. Und drei Tage bettlägrig die Frau, und allein dann. Und fünfundzwanzig Jahre zusammengewesen.

FR. ROTHEIS Es ist hart.

FR. SCHARMANN Auch den Mantel müssen Sie ausziehen. Sie sitzen Falten hinein. Sie helfen ihm aus dem Mantel.

GRUBER Ich fürcht mich in meiner eignen Stuben. Ich kenn mich nicht mehr aus, hierherin. Ich weiß nicht mehr, wo die Tür ist, und das Fenster. Da fehlt mehr als nur ein Mensch. Meine Frau war nicht groß. Und jezt wo sie fort ist, kommt mirs vor, als habe sie allein die ganze Stube ausgefüllt.

FR. ROTHEIS hängt den Mantel an den Ständer: Es ist ein merkwürdiges Gefühl.

GRUBER Ich kann mich nicht dran gewöhnen. Ich fürcht mich vor dem Abend.

FR. SCHARMANN Jetzt wärs gut, wenn Kinder da wären. Daß man noch was hätt von der Toten.

GRUBER Ja. Das war gut. Aber unser Marerl starb mit zehn Jahren.

FR. SCHARMANN Jetzt wär es erwachsen.

FR. ROTHEIS Gut ists, daß jetzt nicht Kinder auf dem Fußboden herumkriechen.

GRUBER Das wohl auch.

FR. SCHARMANN Ich weiß es nicht. Kinder ... man hätt was vom andern.

FR. ROTHEIS Gut ists, wenn nicht Kinder ins Grab hinein weinen.

GRUBER Eine schöne Grabrede wars. Er ist ein alter Freund von uns, der Geistliche. Vom katholischen Gesellenverein her. Die Sonne spielt durchs Fenster. Er hält die Hand hinein. Schön warm. Davon spürt sie nichts mehr. Aber droben wird sies auch schön warm haben. Schön warm. Wärmer als ich. Mich frierts in der Sonne.

FR. ROTHEIS Die Maisonne hat noch nicht die Kraft. Aber bald, wenns Sommer wird.

GRUBER Ich will ihr einen schönen Grabstein setzen lassen.

FR. ROTHEIS Einen schönen Grabstein.

GRUBER Und das Marerl laß ich ausgraben und zu der Mutter legen. Das tu ich. Zu der Mutter laß ichs legen.

FR. SCHARMANN Morgen müssen Sie wieder in die Fabrik?

GRUBER Ja. Morgen. In die Fabrik.

FR. ROTHEIS Der Direktor war auch bei der Beerdigung.

GRUBER Ja. Der auch.

FR. ROTHEIS Die vielen Fahnen. Sie müssen Mitglied vieler Vereine sein!

GRUBER Berufsvereine. Das muß man.

FR. ROTHEIS Es hat was Schönes auch. Es geht wer hinter dem Sarg. Sonst wärs recht still gewesen, die wenigen Verwandten.

FR. SCHARMANN Aber lauter fremde Leut. Da könnt der Tote im Sarg sich unbehaglich fühlen.

GRUBER Es hat einen Vorteil. Die Sterbekassen. Der Sarg ist so teuer wie eine Wiege.

FR. ROTHEIS Das ist er.

GRUBER betrachtet ein Bild, das auf der Kommode steht: Unser Brautbild. Jesus, gar nichts hat sich auf dem Bild geändert. Ich muß jetzt so allein herumlaufen. Und auf dem Brautbild, da stehen wir Arm in Arm, wie immer.

FR. ROTHEIS Da hat man noch die Puffärmel getragen. Und die weiten Hosen. Zu Gruber: Sie sehen gut aus auf dem Bild.

GRUBER zupft an seinem Ärmel: Das ist noch derselbe Anzug. Gewendet und in der Taille ein wenig moderner.

FR. SCHARMANN Er sieht noch schön aus. Und ist besser als einer aus Kriegsstoff.

FR. ROTHEIS Die Schneider und Schuster fuhren immer noch Krieg gegen uns. Die schließen sobald keinen Frieden.

GRUBER Sonntags sind wir manchmal zusammen aufs Hamstern gegangen. Da war sie oft recht müd.

FR. ROTHEIS Den Bauern hätt man das Dach über dem Kopf anzünden sollen, bei ihren Schandpreisen.

GRUBER Da war sie oft recht müd.

FR. SCHARMANN Jetzt bekommt man wieder alles. Zu teueren Preisen, aber man bekommts wenigstens.

GRUBER Recht müd war sie oft.

FR, ROTHEIS Die drei Treppen da herauf Ich bin froh, daß ich ein Stockwerk tiefer wohn.

FR. SCHARMANN Man gewöhnts.

GRUBER Ich hätt vielleicht eine Wohnung im ersten Stock nehmen sollen. Sie war oft recht müd.

FR. SCHARMANN Was Sie jetzt denken. Wir sind oft die drei Treppen zusammen herauf gestiegen. Ihre Frau hats ohne Schnaufen gemacht.

GRUBER zweifelnd: Schon ...

FR. ROTHEIS Wie mans gewöhnt ist. Mein Mann sagts auch. Es klopft.

GRUBER Herein.

ANNA fünfzig Jahre alt, dunkel gekleidet, kleines Hütchen auf dem Kopf: Grüß Gott.

GRUBER Grüß Gott.

ANNA Sie sind wohl ... der Herr Gruber?

GRUBER Jawohl. Der bin ich.

ANNA blickt auf die beiden Frauen: Wohl Verwandte?

GRUBER Nein. Nachbarinnen.

ANNA Ah. Blickt die beiden Frauen wieder musternd an: Ah.

GRUBER Und Sie? Sie sind?

ANNA Mich schickt der Herr Pfarrer Baumbauer.

GRUBER Das freut mich. Streckt ihr die Hand entgegen.

ANNA legt die ihre hinein: Mein Beileid, Herr Gruber.

GRUBER ja, das ist hart.

ANNA Wenns nicht einen Himmel gäb, der uns verheißen ist, auf den man hoffen darf, auf den man hoffen muß.

FR. SCHARMANN zweifelnd: Ja, der Himmel.

ANNA scharf: Das Wiedersehen im Himmel, das uns versprochen ist.

FR. SCHARMANN Versprochen ...

ANNA zu Gruber: Ich bleib gleich da. Beschaut sich das Zimmer.

GRUBER ja.

ANNA Jacke und Hut aufhängend: Das ist ihr Bett? Dabei auf das Bett weisend.

GRUBER Das ist meins.

ANNA Wo schlaf ich denn?

GRUBER deutet zur rechten Tür: Da drin.

ANNA Und die Küche?

GRUBER deutet auf die linke Tür: Dort.

ANNA Aha . Geht in die Küche.

FR. ROTHEIS Wer ist denn das?

GRUBER Der Pfarrer Baumbauer hat sie mir empfohlen. Sie soll eine recht ordentliche Person sein. Sie wird mir den Haushalt fuhren. Das kommt billiger als das Wirtshausleben. Sie soll eine recht ordentliche, eine recht fromme Person sein.

FR. SCHARMANN Es ist gut, daß Sie jemand haben.

FR. ROTHEIS Natürlich. Ein Mann ... allein.

ANNA aus der Küche kommend: Ich hab Feuer gemacht. Ich koch Ihnen gleich einen Kaffee. Die Küche ist schön sauber. Da gefällts mir gut.

GRUBER Ich bin froh, daß Sie da sind.

FR. SCHARMANN Wenn Sie was brauchen? Ich wohn grad gegenüber, am gleichen Gang.

ANNA Wenn man umsichtig einkauft, da braucht man niemand.

FR. SCHARMANN Manchmal vergißt man was. Ein paar Zwiebeln.

ANNA Wenn man aufpaßt... Ich vergesse nichts.

FR. SCHARMANN Ich helfe Ihnen immer gern aus.

ANNA Es hat jedes so viel mit dem eigenen Hauswesen zu tun.

FR. SCHARMANN Gewiß.

ANNA Es gibt viel Arbeit. Sie gibt mit dem Fuß der Schaufel einen leichten Stoß, daß sie tanzt.

FR. SCHARMANN ängstlich: Ja, ja, ja.. Grüß Gott, Herr Gruber.

GRUBER Grüß Gott, Frau Scharmann. Ich dank schön auch. Für Ihren Beistand in den letzten Tagen. Ich dank recht schön.

FR. SCHARMANN Es ist nicht der Rede wert. Ab.

FR. ROTHEIS Jetzt brauchen Sie auch den Abend nicht mehr zu fürchten. Jetzt ist noch jemand in der Wohnung. Jetzt ist sie nimmer so leer, weil auch die Frau ... Sieht Anna an.

ANNA Fräulein.

FR. ROTHEIS Weil auch das Fräulein ...

ANNA Anna.

FR. ROTHEIS Weil auch das Fräulein Anna jetzt bei Ihnen ist, abends.

GRUBER Ich bin recht froh.

FR. ROTHEIS So ein einzelner Mann ist ganz hilflos. Wie so ein Zimmer gleich ungemütlich ausschaut.

ANNA Nimmer lang. Sie rückt die Bilder auf der Kommode zurecht, staubt sie ab.

FR. ROTHEIS Sie Werdens bald wieder in Ordnung haben.

ANNA Wohnen Sie auch ... auf dem gleichen Gang?

FR. ROTHEIS Ich? Nein. Ich wohn eine Treppe tiefer. Wenn man hier auf und ab geht, hört man bei mir drunten jeden Tritt.

GRUBER Wir warn immer sehr ruhig. Wir sind nicht auf und ab gelaufen.

FR. ROTHEIS Freilich. Eine ruhige Partei. Wir sind auch immer gut ausgekommen miteinander.

ANNA Ich trag zuhaus nur Filzschuhe.

FR. ROTHEIS Es wird schon alles in Frieden bleiben.

ANNA Ich bin ordentlich und tu nichts Unrechts. Ich fürchte niemanden.

FR. ROTHEIS Na. Natürlich.

ANNA immer noch Staub wischend: Wenn jedes schön bei sich bleibt, schön in seiner Wohnung bleibt, und ordentlich ist, und sauber.

FR. ROTHEIS Wir wohnen schon fünf Jahre in dem Haus.

ANNA Ja? Erlaubens. Sie schiebt die Frau Rotheis weg, um auf der Kommode was in Ordnung zu bringen.

FR. ROTHEIS Gebens auf das Brautbild obacht, Fräulein Anna.

ANNA Ich zerbrech nichts.

FR. ROTHEIS Es wär schad. Der Herr Gruber hängt sehr an dem Bild.

ANNA So? Geht in die Küche.

FR. ROTHEIS Eine tüchtige Person. Da sind Sie gut versorgt.

GRUBER Ich bin froh.

ANNA ruft aus der Küche: Herr Gruber, ich find den Schürhaken nicht. Wollen Sie ihn mir nicht zeigen?

GRUBER Der hängt an der Anricht. Geht in die Küche. Allein steht die Frau Rotheis unentschlossen da.

ANNA kommt aus der Küche, sieht die Frau Rotheis nicht an, geht an ihr vorbei und ins rechte Zimmer. Wieder ist die Frau Rotheis allein. Dann kommt die Anna wieder.

FR. ROTHEIS betreten: Ich muß jetzt auch gehn.

ANNA beachtet sie nicht: Ja.

FR. ROTHEIS Also, Grüß Gott.

ANNA Adje.

FR. ROTHEIS geht.

GRUBER kommt aus der Küche, die Kaffeemühle in der Hand.

ANNA nimmt sie ihm ab: So. In fünf Minuten kriegen Sie einen heißen Kaffee. Mahlt.

GRUBER setzt sich ihr gegenüber: Ich hab Mittag nichts Rechtes gegessen. Jetzt hab ich fast Hunger.

ANNA Gleich gibts was. Eine kleine Pause entsteht.

GRUBER Ich mein, wir kommen schon gut aus miteinander.

ANNA mahlend: Mit Ihnen ... da komm ich schon gut aus.

GRUBER Ich bin ein einzelner Mann.

ANNA Das hat mir der Herr Pfarrer Baumbauer schon gesagt, daß keine Kinder da sind.

GRUBER Nein. Kinder sind keine da.

ANNA Ich werds schon so machen, daß sie zufrieden sind.

GRUBER Ich mach nicht viel Ansprüche. Jetzt schon gar nicht mehr, wo meine Frau ...

ANNA Ja. So was ist hart. Ihre Frau ist schnell gestorben?

GRUBER Nur drei Tage war sie krank.

ANNA Den Tod muß man immer vor Augen haben. Besonders wenn man nicht mehr jung ist. Wenn man in unser Alter kommt, da muß man den Tod immer vor Augen haben.

GRUBER Daß es so schnell gehen mußte mit meiner Frau! So schnell.

ANNA Beten muß man. Fleißig beten. Das hilft am ehesten drüber weg.

GRUBER Ja. Das muß man wohl.

ANNA Daß wir Katholischen das Gebet haben, das ist eine Gnade.

GRUBER Das ist eine Gnade.

ANNA Protestantisch, da lebt sichs leicht. Katholisch, da stirbt sichs leicht.

GRUBER Ja.

ANNA In meiner letzten Stellung, da ist der Herr auch gestorben.

GRUBER Ah.

ANNA Ja. Vor vierzehn Tagen.

GRUBER So kurz erst?

ANNA Ja. Ich war ein halbes Jahr bei ihm. Er war auch kinderlos.

GRUBER Ein Witwer auch?

ANNA Ja. Auch ein Witwer. Ich hab ihm den Haushalt geführt. Und das letzte Vierteljahr hab ich ihn gepflegt.

GRUBER Das ist eine geduldige Arbeit.

ANNA Ich habs gelernt. Er starb einen schönen Tod. Er hatte gebeichtet und kommuniziert. Er schlief ein, nachts, und wurde nicht mehr wach.

GRUBER Und jetzt. Jetzt sind Sie bei mir.

ANNA Jetzt bin ich bei Ihnen.

GRUBER Ja. Ja. Und ich bin recht froh, daß Sie da sind.

ANNA ist fertig geworden mit dem Mahlen. Sie geht in die Küche und kommt nach einer Weile wieder mit einer geblümten Tischdecke über dem Arm, mit Tassen, Löffeln in den Händen. Sie deckt den Kaffeetisch sehr nett sogar, für die kleinbürgerliche Umgebung: So. Nun werden wir gleich so weit sein.

GRUBER Ich bin froh.

ANNA Ja. Das Herumstehen am Grab, das macht Hunger.

GRUBER Ich hab einen ganz schönen Appetit.

ANNA Dem wird gleich abgeholfen werden. Sie geht wieder in die Küche, kommt mit einem Tablett, darauf die rauchende Kaffeekanne, Milch, Butterbrote. Jetzt. Schenkt ein. Jetzt.

GRUBER trinkt und kaut eifrig.

ANNA Schmeckt Ihnen der Kaffee? Mögen Sie noch Milch dazu? Gießt ihm Milch dazu.

GRUBER Gut schmeckts. Fein.

ANNA Es ist Malzkaffee dabei. Man muß sparen.

GRUBER Gut schmeckts.

ANNA Noch ein Butterbrot? Schiebt ihm eins hin.

GRUBER Dank schön.

ANNA Also, da drin schlaf ich?

GRUBER Ja. Es ist nur ein kleines Zimmer.

ANNA Das langt für mich.

GRUBER Wir haben nur die zwei Zimmer.

ANNA Zwei Leut, die brauchen nicht mehr.

GRUBER Wir haben immer Platz gehabt.

ANNA Die Küch gefällt mir gut. Das ist mir die Hauptsache.

GRUBER Sie ist erst heuer frisch gestrichen worden.

ANNA Ja. Sie ist schön sauber.

GRUBER Wir wollten auch die zwei Zimmer Herrichten lassen. Aber dann ist meine Frau krank geworden.

ANNA Oh. Das Zimmer geht noch. Das ist noch nicht schlimm.

GRUBER Wenn Sie sich erst eingewöhnt haben. Dann können wir immer noch den Maler kommen lassen.

ANNA Trinken Sie noch einen Kaffee? Gießt ihm und sich nach.

GRUBER Das Kaffee kochen, das können Sie. Das Kaffee kochen.

ANNA Nicht bloß das Kaffee kochen. Das werden Sie bald schmecken. Wenn man so lang schon Köchin ist.

GRUBER Glaubs gern.

ANNA Da lernt mans. Aber jeder hat seine Eigenheiten. Der eine ißt gern scharf Der andere furchtet den Pfeffer wie der Teufel den Weihbrunnen.

GRUBER Zu scharf ist mir nicht leicht was.

ANNA Ich kriegs schon bald raus, wie Sies am liebsten haben.

GRUBER Weil der Kaffee heut gar so gut ist... Ich hab was Feins. Geht in die Küche und kommt mit einer Flasche und zwei Schnapsgläsern wieder.

ANNA Ah.

GRUBER Was ganz Feins. Gießt vorsichtig die beiden Gläser voll, verkorkt die Flasche bedachtsam wieder. Nur ein Gläschen für jedes und nur für die hohen Feiertage. Beide trinken. Gut?

ANNA Das ist – riecht am Glas – Nußschnaps.

GRUBER Selbstangesetzter.

ANNA Das schmeckt man.

GRUBER Nur für die hohen Feiertage.

ANNA Wie der gleich warm macht.

GRUBER Ja. Das ist ein Bauchwärmer. Kleine Pause.

ANNA Wo haben Sie denn immer das Fleisch gekauft.

GRUBER Gleich im Nebenhaus ist ein Metzger.

ANNA Das ist bequem.

GRUBER Ja. Und er hat nur schönes Fleisch.

ANNA Fleischeinkaufen, das muß man können. Das ist eine Kunst. Das ist gar nicht so einfach. Das muß man verstehen. Sonst wird man betrogen.

GRUBER Nein. Nein. Das ist gar nicht so einfach.

ANNA Und hartes Fleisch ißt niemand gern.

GRUBER Niemand.

ANNA Wenn man ein falsches Stück erwischt, sind mehr Knochen dran als Fleisch.

GRUBER Glaubs schon, daß man da aufpassen muß.

ANNA Sind Sie fertig mit dem Kaffee? Soll ich den Tisch wieder abdecken?

GRUBER Lassen Sies nur stehen, so ists grad gemütlich.

ANNA Ja, gemütlich ists.

GRUBER reibt sich die Hände: Recht gemütlich.

ANNA Das wirds noch öfter sein. Wir kommen schon gut aus miteinander.

GRUBER Wir schon. Gut kommen wir miteinander aus.

ANNA weil Gruber nach der Flasche greift: Aber Schnaps, Schnaps kriegen Sie keinen mehr heut. Nur an hohen Feiertagen.

GRUBER lacht: Also. Dann keinen mehr. Steht auf. Verstecken wir die Flasche. Stellt sie hoch oben auf einen Kleiderschrank. Da können Sie nicht hinauflangen.

ANNA versucht es vergeblich: Nein. Da kann ich nicht hinauflangen.

GRUBER vergnügt: Nicht können Sies. Beide lachen sich lustig an.

ANNA Sie sind halt größer als ich.

GRUBER Um einen ganzen Kopf

ANNA Ich räum jetzt doch ab. Tuts

GRUBER setzt sich auf einen Stuhl, abseits vom Tisch. Stützt die Ellbogen auf die Knie und legt das Gesicht in die Hände.

ANNA steht mit dem Tablett voll Tassen vor ihm: Aber, Herr Gruber!

GRUBER vom Weinen geschüttelt.

ANNA Was ist denn, Herr Gruber?

GRUBER Meine Frau ist heut begraben worden. Er weint. Es fällt der

Vorhang.

ZWEITER AKT

Grubers Stube, wie in allen vier Akten. Es ist 6 Uhr Nachmittag, im Juli.

ANNA zerkleinert mit einem Beil eine Kiste. Ein Berg von Spänen ist neben der Knienden aufgeschichtet. Da klopft es. Anna, weiterarbeitend: Herein.

FR. ROTHEIS Fräulein Anna! Sie machen da Holz.

ANNA Ja.

FR. ROTHEIS Im Zimmer machen Sie Ihr Holz.

ANNA Warum nicht?

FR. ROTHEIS Jeden Schlag hört man drunten bei mir. Meinem Mann ist der Kalk von der Decke in die Suppe gefallen.

ANNA Jetzt kann er weiter essen. Ich bin schon fertig.

FR. ROTHEIS ist sprachlos über so viel Frechheit.

ANNA rafft das Holz auf den Arm, will damit in die Küche: Jetzt kann er weiter essen.

FR. ROTHEIS Mein Mann will sich beim Hausherrn beschweren. Der Kalk brökelt von der Decke.

ANNA Ich kann in meinem Zimmer machen, was ich will. Ich hätts in der Küche gemacht, das Holz. Aber die ist zu eng. Da kann ich mich nicht rühren.

FR. ROTHEIS Holz muß im Hof gemacht werden.

ANNA Das ist mir gleich, wo Sie Ihr Holz machen.

FR. ROTHEIS So eine – so eine Unverschämtheit.

ANNA läßt das Holz zu Boden prasseln: Sie ... Person. Ich laß mich nicht beleidigen. In meiner Wohnung. Wegen der paar Scheit Holz lauf ich nicht die drei Stiegen hinunter. Wegen dem kleinen Kistchen. Wer weiß, was Ihrem Mann in die Suppe gefallen ist. Vielleicht Kopfhautschuppen.

FR. ROTHEIS setzt ein paarmal zum Reden an. Stammelt dann: Ich sags meinem Mann. Stürzt ab.

ANNA sammelt die Scheite wieder auf, kehrt den Boden. Trägt Schaufel, Handbesen, Beil und Holz in die Küche. Es klopft. Einmal. Zweimal. Ins Zimmer treten die Schwestern Schmerdegen, gleich gekleidet, rötlichbrauner Rock, farblose Bluse. Alte Jungfern. Lina, die jüngere, die dümmere, ist das Echo der Schwester Luise.

LUISE Es ist niemand da.

LINA Draußen . Deutet zur Küche, aus der man Geräusch hört.

LUISE ruft: Fräulein Anna!

ANNA antwortet aus der Küche: Ja. Kommt. Sie sinds! Gleich komm ich. Setzen Sie sich ein bißchen. Geht wieder in die Küche. Die Schwestern setzen sich an den Tisch, sehn in der Stube umher und dann still vor sich hin. Bis Anna kommt, sich zu ihnen setzt. So. Jetzt bin ich fertig.

LUISE Gibt immer was zu tun in einem Haushalt.

LINA Immer.

ANNA Immer. Den halben Nachmittag war ich beim Einkaufen. Wenn der Zucker nur nicht so knapp war.

LUISE Grad der Zucker ist so schwer zu bekommen. Auch hintenherum kriegt man keinen.

ANNA Sonst bekommt man alles.

LINA Alles leichter als Zucker.

ANNA Ob wohl wieder Zeiten kommen, wie vor dem Krieg?

LUISE Glaubs nicht.

LINA melancholisch: Glaubs nicht.

ANNA Fünzig Pfennig hat eine Taube gekostet.

LUISE Ein Paar Stiefel acht Mark.

LINA melancholisch: Acht Mark ein Paar Stiefel.

ANNA Die Zeiten kommen nicht wieder.

LUISE Nie wieder.

LINA Nimmermehr wieder.

ANNA Zufrieden war man damals auch nicht.

LUISE Nein. Das war man nicht. Und man hat sich nicht getraut, Tauben zu essen. Weil sie zu teuer waren.

LINA Auf schiefen Absätzen ist man gelaufen trotz der billigen Schuh.

ANNA So dumm war man. Die Zeiten wenn wieder kämen.

LUISE Die kommen nicht wieder.

ANNA Nein, die kommen so bald nicht wieder. Pause.

LUISE Jetzt gehts halbwegs wieder. Aber eine Zeit lang, während des Kriegs, da bekam man auch um sein Geld nichts mehr.

ANNA Besser ists schon geworden.

LUISE Die Läden sind wieder voll.

LINA Viel besser. Alles was recht ist.

ANNA Es wird schon noch besser werden. Pause.

LUISE Wie gefällts Ihnen? In der neuen Stellung.

ANNA Mit Herrn Gruber kann man schon auskommen.

LUISE Das kann man wohl.

LINA Gut auskommen kann man mit ihm.

ANNA Ich hab mich immer noch gut vertragen. Mit meiner Dienstherrschaft. Immer noch gut. Bei christlichen Leuten war ich stets. Da verträgt man sich schon, mit christlichen Leuten.

LUISE Ja. Freilich.

LINA Ja. Natürlich.

ANNA Wo ich zuletzt in Stellung war, den hab ich ein Vierteljahr gepflegt.

LUISE Was hat ihm gefehlt?

ANNA Lungenkrank. Er war ganz allein. Keine Verwandten. Ich hab ihn pflegen müssen. Der Herr Pfarrer Baumbauer, der hat mich ihm empfohlen gehabt. Er mußte doch jemand haben.

LUISE Ich könnts nicht. So lang bei einem Kranken. Allein.

ANNA Man muß es doch tun. Das ist Christenpflicht. Er war ganz allein. Er mußte doch jemand haben.

LINA Haben Sie sich nicht gefürchtet?

ANNA Wovor denn? Er war ein guter Herr. Ich hab ihn bis zuletzt gepflegt. Ich hab ihm die Augen zugedrückt. Er war mir auch arg dankbar. Arg dankbar war er. Langsam: Er hat mir auch was vermacht. Im Testament...

LUISE Er hat... ein Testament gemacht?

LINA Er hat Ihnen ... was vermacht?

ANNA Nicht viel. Er hat nicht viel gehabt. Ein paar tausend Mark. Ja. Und ein paar Möbel. Ich hab ihn doch bis zuletzt gepflegt.

LUISE ganz langsam: Sie haben ihn gepflegt.

LINA ruhig: Sie habens verdient.

ANNA Ich hab schon öfter solche Stellungen gehabt. Schon öfter. Der Pfarrer Baumbauer, der bringt mich immer hin. Wenn er jemanden weiß, der nicht mehr recht frisch auf den Beinen ist, der eine Warte und Pflege braucht, dann schickt er mich hin. Ich verdiente mir Gottes Lohn damit, sagt er.

LUISE Das ist wahr.

ANNA Ich bin schon sehr erfahren in der Krankenpflege. Die vielen, die ich schon gepflegt hab.

LUISE lauernd: Da haben Sie wohl schon öfters was geerbt?

ANNA Hie und da. Nicht viel. Es war ja keiner reich. Aber hie und da, da hab ich schon ein wenig was geerbt.

LINA spitz: Da verdient man sich Gottes Lohn, mit der Krankenpflege. Gottes Lohn.

ANNA Ich hab manches geerbt. Ich bin eine gute Christin. Ich habs immer gern getan. Aber ich möcht einmal länger irgendwo unterschlupfen. Der Herr Gruber ist gesund. Gottseidank. Da besteht keine Gefahr. Der ist ganz gesund.

LUISE Da können Sie länger bleiben.

ANNA Wir kommen gut aus miteinander. Da kann ich schon länger bleiben. Ich bin arg froh. Pause.

LUISE Bei der Bolte ist amerikanisches Schweinefleisch angekommen.

ANNA Ich mags nicht. Das riecht so.

LUISE Schon. Man muß es zuerst gut wässern. Und dann räuchern lassen. Dann verlierts den Geschmack.

LINA Dann verlierts ihn.

ANNA Ganz nicht.

LUISE Fast ganz.

LINA Und es ist halt billig, das amerikanische. Die Bolte gibts sehr billig.

ANNA Ich mag bei der Bolte nichts kaufen.

LUISE Warum denn nicht? Ich kauf schon lang bei ihr ein. Ich war immer zufrieden mit ihr. Sie hat ein reelles Geschäft.

ANNA Nicht deswegen.

LUISE Und ihr Laden liegt günstig. Nur drei Häuser weiter. Die ganze Straße kauft bei ihr ein. Wo kaufen Sie denn?

ANNA In der Ludwigstraße. Bei der Süß.

LUISE Ist die billiger als die Bolte?

ANNA Auch nicht.

LUISE Warum gehen Sie dann so weit? Wegen jeder Kleinigkeit?

ANNA Ich könnte nicht verantworten, bei der Bolte zu kaufen. Sie ist protestantisch.

LUISE Sie ist ...

LINA Protestantisch?

ANNA Protestantisch. Und bei einer Protestantischen kauf ich nichts. Ich müßte zu sündigen fürchten.

LUISE Aber gehns.

ANNA Man darf kein lauer Katholik sein. Sie sollten auch nicht zu der Bolte gehn.

LUISE Aber das amerikanische Schweinefleisch?

ANNA Das kriegen Sie anderswo auch. Ich kauf nichts bei einer Protestantischen.

LUISE eingeschüchtert: Wahr ists schon. Vielleicht sollte man es nicht.

LINA Bei einer Protestantischen.

ANNA Bestimmt sollte man es nicht. Man muß für seinen Glauben einstehen.

LUISE Das muß man.

LINA Das muß man schon.

ANNA Da drüben – weist zur Tür, die auf den Flur führt – da wohnen auch solche ... Da drüben

LUISE Wer?

LINA Wer denn?

ANNA Die Scharmanns.

LUISE verständnislos: Ja. Die Scharmanns.

ANNA Das sind auch solche.

LUISE Ganz ordentliche Leut hab ich gemeint.

LINA Brave Leut.

ANNA auflachend: Ordentlich! Die, das sind auch solche.

LUISE Was ist denn damit?

LINA Was denn?

ANNA Ich werds ihr schon noch sagen, der, gründlich werd ichs ihr sagen.

LUISE Haben Sie Streit gehabt mit Ihr?

ANNA In einen Streit laß ich mich gar nicht ein, mit solchen Leuten.

LUISE Sind die so arg?

ANNA Teuflische Leut! Aber Gott wird sie schon noch strafen. Ich hab das Blatt wieder geholt. Da hab ichs. Teuflische Leut! Nimmt aus der Tischschublade eine Zeitung.

LUISE Was haben sie denn getan, die Scharmannschen?

ANNA Eine Gemeinheit. So was ist schlimmer als jede Sünde.

LUISE Ja, um aller Heiligen willen.

LINA Ich fürcht mich.

ANNA Übermorgen beginnt die heilige Mission.

LUISE Ja, der Pater Augustus soll wunderschön predigen. Wunderschön. Ich mach die Mission mit. Für Jungfrauen.

LINA Ich auch. Für Jungfrauen.

ANNA Ich auch. Natürlich. Ich freu mich schon sehr. Eine Missionswoche, die bringt einen dem Himmel näher. Und diese teuflischen Leut!

LUISE Die Scharmanns. Die sind doch auch katholisch.

LINA Sind auch katholisch.

ANNA Getauft sind sie. Aber das Missionsblatt.

LUISE Ich hab auch eine Nummer. Es stehen fromme Geschichten drin. Das Blatt ist überall verteilt worden. In der Früh lags vor unsrer Wohnungstür.

LINA Ich habs schon ganz gelesen.

ANNA Und die Scharmann? Was tut die mit dem heiligen Blatt?

LUISE Sie hats wohl nicht gelesen.

LINA Die schönen Geschichten!

ANNA Gelesen. Die wird so was lesen.

LUISE Sie wird das Blatt doch nicht ...

ANNA Was?

LUISE Weggeworfen haben?

ANNA Wenns bloß das wär. Aber diese Gemeinheit. Sie hats aufs Closett gehängt. Zu dem andern Papier. Sie wissen schon. Ich habs gefunden draußen. Unterm Closettpapier. Und habs mitgenommen. Triumphierend schwingt sie das Blatt. Sonst, die teuflische Person, die hätt sich wahrhaftig damit ...

LUISE entgeistert: Das glaub ich doch nicht.

LINA wie erstarrt bei dem fürchterlichen Gedanken: Sie hätt sich damit ... Nein, nein.

ANNA Die hätts getan. Es hing doch schon bei dem andern Papier.

LUISE Vielleicht, daß das Blatt zufällig.

ANNA Sowas hebt man doch sorgfältig auf. Das Missionsblatt. Wo haben Sie denn das Ihre?

LUISE Ich habs aufgehoben.

LINA In der Tischschublade.

ANNA Das Blatt kam nicht zufällig aufs Closett. Die wollte Gott lästern, die teuflische Person. Es klopft. Herein.

FR. SCHARMANN Grüß Gott. Alle schweigen betreten. Dann, frech.

ANNA Was wollns denn?

FR. SCHARMANN Grüß Gott, Fräulein Luise. Grüß Gott, Fräulein Lina.

LUISE Grüß Gott.

LINA Grüß Gott, Frau Scharmann.

FR. SCHARMANN Ich möcht Sie nur was fragen, Fräulein Anna.

ANNA Was denn?

FR. SCHARMANN Haben Sie den Haken, der am Flur in die Wand geschraubt war, haben Sie den Haken herausgenommen?

ANNA Den Haken? Einen Haken?

FR. SCHARMANN Ja. Den Haken, der gleich gegenüber Ihrer Tür war?

ANNA Den Haken, ja, den hab ich herausgenommen.

FR. SCHARMANN Warum denn? Der ist doch sehr praktisch. Zum Aufhängen der Kleider, die man ausklopfen will.

ANNA Aber der Haken an der Stelle, das kann ich nicht dulden.

FR. SCHARMANN Er Stört Sie doch nicht.

ANNA Doch. Der Staub beim Ausklopfen, das paßt mir nicht.

FR. SCHARMANN Wenn ich meine Kleider ausklopf, brauchen Sie doch nur die Tür schließen.

ANNA Der Staub geht überall durch. Durchs Schlüsselloch. Und die Ritzen. Überall.

FR. SCHARMANN Seit zwanzig Jahren hängt der Haken an der Stelle. Er hat noch nie jemand geniert.

ANNA Mich geniert er.

FR. SCHARMANN Aber der Haken gehört doch mir. Sie dürfen ihn doch nicht einfach herausschrauben.

ANNA Mich geniert er.

FR. SCHARMANN Sie hätten mich doch um Erlaubnis fragen müssen. Der Gang gehört doch allen Parteien.

ANNA Das ist mir gleich. Ich laß mir meine Wohnung nicht verstauben.

FR. SCHARMANN Das ist doch gar nicht Ihre Wohnung. Das ist die Wohnung vom Herrn Gruber. Sie sind nur seine Köchin. Ich werde noch mit Herrn Gruber drüber reden.

ANNA Ah, jetzt. Jetzt kommts heraus. Weil ich nur ein armer Dienstbot bin. Da darf man auf mir herumtrampeln. Da darf man mich schikanieren. Ich bin ja nur ein Dienstbot. Und da hab ich das Maul zu halten. Da hab ich nichts mitzureden. Das ist eine Gemeinheit.

FR. SCHARMANN Ich werd mit Herrn Gruber reden.

ANNA Ein Dienstbot ist kein Sklav. Bei Ihnen wär ein Dienstbot ein Sklav. Aber ich bin nicht Ihr Dienstbot. Sie haben mir gar nichts drein zu reden. Das ist eine Gemeinheit. Ich war schon bei vielen Leuten im Dienst. Aber so was hat mir noch niemand gesagt. Ein Dienstbot ist doch kein Sklav.

FR. SCHARMANN Der Haken ...

ANNA schäumend: Der Haken kommt nicht mehr hin. Ich laß mir nicht die Wohnung verstauben. Ich reiß ihn wieder raus, wenn Sie ihn wieder rein stecken. Ich laß mir die Wohnung nicht verstauben. Der Haken gehört nicht auf den Gang. Klopfen Sie Ihre dreckigen Kleider in der Wohnung aus. Das ist mir gleich. Meine Wohnung laß ich mir nicht verstauben. Meine nicht. Das laß ich mir nicht gefallen. Wenn ich auch bloß ein Dienstbot bin. Ein Dienstbot ist auch kein Sklav. Das ist eine Gemeinheit.

FR. SCHARMANN Der Haken ...

ANNA Das ist eine Gemeinheit. Sie wollen mich schikanieren. Das hab ich schon lang gemerkt. Aber ich bin nicht Ihr Dienstbot. Sie sind ... Sie sind eine teuflische Person.

FR. SCHARMANN ruhig: Warum schreien Sie denn so?

ANNA brüllend: Ich schrei, wie ich will. Ich bin nicht Ihr Dienstbot. Ich ...

GRUBER ist eingetreten. Im Arbeitsgewand. Fabrikaufseher ist er: Da gehts aber zu.

ANNA sich beherrschend, ganz ruhig: Guten Abend, Herr Gruber.

GRUBER Was ist denn? Grüß Gott, Frau Scharmann.

FR. SCHARMANN Grüß Gott, Herr Gruber. Ich wollt was mit Ihnen reden.

GRUBER Gern, Frau Scharmann. Setzen Sie sich nicht ein wenig?

FR. SCHARMANN Ich bin gleich fertig.

GRUBER Ich seh Sie gar nimmer. Früher waren Sie doch öfter bei uns.

FR. SCHARMANN Ja, früher.

GRUBER Vielleicht kommens jetzt manchmal wieder, am Abend. Die Fräulein Anna, die freut sich sicher auch.

ANNA Ich ...

FR. SCHARMANN Es ist wegen des Hakens. Herr Gruber. Der draußen am Gang steckt. Seit zwanzig Jahren draußen am Gang in der Wand steckt. Jetzt ist er weg. Die Fräulein Anna hat ihn weg.

GRUBER Den Haken?

FR. SCHARMANN Auf dem wir unsere Kleider ausklopften. Ich. Und ihre Frau. Früher.

GRUBER Und den Haken?

FR. SCHARMANN Den hat jetzt die Fräulein Anna weg.

GRUBER Sie hat ihn weg? Ja, warum denn?

ANNA Es staubt so.

GRUBER Es staubt.

ANNA Ja, der Haken war grad gegenüber unsrer Tür. Da flog so viel Staub in die Wohnung. Man konnte sich gar nicht mehr retten. Da hab ich ihn weg.

GRUBER Den Haken.

FR. SCHARMANN Der seit zwanzig Jahren niemand geniert hat. Ihre Köchin geniert er.

ANNA Jawohl. Mich geniert er. Weil die Wohnung verstaubt. Weil ich auf Sauberkeit halt. Weil ich ein reinliches Zimmer haben will.

FR. SCHARMANN Die Frau Gruber hat auch zu den reinlichen gehört. Die hat der Haken nicht geniert.

GRUBER Naja. Der Haken. Der läßt sich ja wieder hineinschrauben.

ANNA Das. Das geht nicht,

Herr Gruber. Es staubt zu viel. Daß die Frau Gruber sich das hat gefallen lassen! Die war halt zu gutmütig. Da kommt man nicht auf Der Haken ist grad gegenüber unserer Tür. Da frißt uns der Staub.

FR. SCHARMANN Deswegen kam ich; Ich wollte Sie fragen, ob die Köchin den Haken mit Ihrer Erlaubnis herausgeschraubt hat. Ich habs gleich nicht geglaubt. Sie hats auf eigene Faust getan.

ANNA Sie wirft mir vor, daß ich ein Dienstbot bin. Bei ihr war ein Dienstbot ein Sklav. Ein Dienstbot hat gar nichts zu reden. Das hat mir noch niemand gesagt. Ich bin noch überall gut behandelt worden. Und jetzt muß ich mich wie ein Sklav schikanieren lassen. Das ist eine Gemeinheit. Weil ich bloß ein Dienstbot bin. Sie fangt bitterlich zu schluchzen an.

GRUBER Regen Sie sich doch nicht auf Fräulein Anna. Es ist ja nicht so schlimm. Das ist der dumme Haken gar nicht wert. Das werden wir schon regeln. Da findet sich schon ein Weg. Das ist das schlimmste noch nicht.

ANNA weinend: Die ganze Wohnung verstaubt.

GRUBER Kann man den Haken nicht an einer anderen Stelle einschrauben. Weiter weg von der Tür. Damit wieder Frieden ist.

FR. SCHARMANN Das geht nicht,

Herr Gruber. Da ists zu dunkel. Da sieht man nichts. Der Haken steckt am besten Platz. Am einzigen Platz wo er praktisch ist. Sie wissens doch selber.

GRUBER Na ja. So Weibergeschichten. Ich will Frieden. Machts mit dem Haken was ihr wollt. Ich will Frieden.

FR. SCHARMANN Den will ich auch,

Herr Gruber. Haben Sie mich anders kennengelernt. Ich hab den Haken nicht herausgerissen. Adje. Geht.

GRUBER Dumme Sache.

ANNA Was braucht sie gleich so zu schreien! Das hätt sie ruhig auch sagen können. Dann hätt man sich schon einigen können, des Hakens wegen.

LUISE und Lina sind während des Auftritts wie neugierige Vögel im Hintergrund geblieben. Luise sagt jetzt: Es ist gar nicht wert, daß man sich streitet.

LINA Nicht wert ists.

ANNA Es ists auch nicht wert. Aber wenn die Person so rechthaberisch ist.

LUISE Wegen des dummen Hakens.

LINA Wegen so eines Hakens.

GRUBER Das werden wir schon regeln.

LUISE Lina, wir müssen gehen.

LINA Gehn müssen wir, Luise.

ANNA übermorgen holn Sie mich also ab, zur Predigt.

LUISE Freilich.

LINA Natürlich. Beide gehen ab.

ANNA Ich hab heut Würst fürs Abendessen. Einen Kartoffelsalat mach ich dazu.

GRUBER verstimmt, kurz: Ist schon recht.

ANNA Aber eine halbe Stunde dauerts noch.

GRUBER Ja.

ANNA Flaschenbier hab ich Mittag schon geholt.

GRUBER So.

ANNA Der dumme Haken. Ärgern Sie sich noch?

GRUBER Wir sind sonst immer gut ausgekommen mit der Frau Scharmann.

ANNA Die kann sich recht verstehn.

GRUBER Meine Frau ist auch immer recht gut ausgekommen mit ihr.

ANNA Die hat sich alles gefallen lassen. Die Frau Scharmann, die ist eine. Ich mags Ihnen gar nicht erzähln.

GRUBER Was mögens nicht erzählen?

ANNA Es ist zu teuflisch.

GRUBER Der Haken?

ANNA Die Frau Scharmann, sie hat das Missionsblatt, nein, ich mags gar nicht sagen.

GRUBER Was hat sie denn?

ANNA Ich habs gefunden. Auf, auf...

GRUBER Wo denn?

ANNA Auf dem Closett. Bei dem anderen Closettpapier. Das Missionsblatt

GRUBER So.

ANNA Und die Patres verteilens, damit sich die Leut auf die heilige Mission vorbereiten können. Und die, und die, und diese Person wirfts ins Closett. Das ist mehr als eine Sünde. Mehr als eine gewöhnliche Sünde.

GRUBER Richtig gehandelt ists schon nicht. Alles was wahr ist. Aufs Closett.

ANNA Teuflisch ists.

GRUBER Das hätt sie nicht tun sollen, die Frau Scharmann.

ANNA Das ist überhaupt so eine. Und mit dem Haken, da macht dies grad so. Sie klopft den ganzen Tag Kleider aus, grad mir zum Trotz. Daß mir der Staub in die Wohnung fliegt.

GRUBER Naja. Er ist ja jetzt weg, der Haken.

ANNA Und er kommt mir nicht wieder hinein. Man möcht doch eine saubere Wohnung haben.

GRUBER Mit dem Haken das ist ja jetzt in Ordnung.

ANNA Ich hab nirgends Streit gehabt, wo ich war. Und mit der Person komm ich nicht aus.

GRUBER Sie sind doch eine ruhige Person. Und legen niemand was in den Weg.

ANNA Ich komm doch mit Ihnen auch gut aus. Wir streiten doch auch nicht.

GRUBER Das ist wahr.

ANNA Ich bring Ihnen jetzt einmal das Bier. Der Salat muß noch kalt werden. Ab in die Küche. Sie kommt wieder mit einer Flasche Bier und einem Glas. Schenkt ein. Abendsonne tanzt in Streifen durch das Fenster.

GRUBER trinkend: Das tut gut. Auf den Staub in der Fabrik.

ANNA Das glaub ich.

GRUBER Schöner Abend. Feierabend ist immer schön. Aber so wie heut!

ANNA Warm ists.

GRUBER Was steht neues im »Anzeiger«?

ANNA Nichts besonderes.

GRUBER Ich hab heut einen guten Witz gehört.

ANNA Erzählens doch.

GRUBER Ich muß schaun, ob ich ihn noch zusammenbring.

ANNA Es geht schon.

GRUBER Also, was ist fiir ein Unterschied zwischen einem Kapuziner und einer Blutwurst?

ANNA Der Unterschied, der Unterschied – kichert – ... ich weiß ihn nicht.

GRUBER Das ist doch ganz einfach.

ANNA Ganz einfach? Der Kapuziner ... der Kapuziner ...

GRUBER Sie erratens nicht. Der Kapuziner ist nur in der Mitt zugebunden. Die Blutwurst oben und unten.

ANNA lacht: Sehr gut!

GRUBER lacht: Sehr gut. In der Fabrik haben sie ihn heut erzählt.

ANNA immer noch kichernd.

GRUBER trinkt: Übermorgen beginnt also die Mission.

ANNA Ja, ich mach sie mit.

GRUBER Ich mach sie auch mit. Für die Ehemänner predigt ein ganz scharfer, hab ich gehört.

ANNA So? Bei uns der Pater Felix. Bei den Jungfrauen.

GRUBER Euch sollte man auch den scharfen einmal schicken. Euch Jungfrauen. Wenn da aber nun auch eine andere hineingeht?

ANNA Eine andere?

GRUBER Ich mein, wenn da nur Jungfrauen hineindürfen, wie kennt denn das der Pater Felix, daß es nur Jungfrauen sind?

ANNA kichert: Aber, Herr Gruber! Sie sind ein Schlimmer. Nein, so was! Woran der Pfarrer Felix das kennt? Kichert verschämt.

GRUBER behaglich: Ich meinte nur.

ANNA Nein, so was, Herr Gruber.

GRUBER reiht sich die Hände: Gemütlich ists zu Haus. Gemütlich.

ANNA So dumm! Und da gibts Männer, die sich ins Wirtshaus hocken.

GRUBER Die sind dumm. Wos daheim viel schöner ist.

ANNA Im eignen Heim.

GRUBER Im eignen Heim, wos viel gemütlicher ist.

ANNA Wo man seine Ruhe hat.

GRUBER Seine königlich bayerische.

ANNA kichert über den guten Witz: Seine königlich bayerische.

GRUBER dröhnend: Seine königlich bayerische ... Beide lachen laut. Dann entsteht ein kleine Pause.

ANNA Heiraten, heiraten, das ist eine Lotterie.

GRUBER Ja.

ANNA Eine Lotterie. Man kann ... aber auch das große Los ziehen.

GRUBER Kann man. Kann man.

ANNA Wenn einer eine richtige, eine häusliche Frau erwischt.

GRUBER Ja.

ANNA wird nun deutlicher: Ich glaubs.

GRUBER Was?

ANNA Sie heiraten auch noch einmal. Ich glaubs schon.

GRUBER So, so, so.

ANNA Ich glaubs.

GRUBER Ja. Der Angriff ist abgeschlagen.

ANNA ärgerlich: Mir ists ja gleich. Ich hab nur so gemeint. Pause.

GRUBER Die Bluse hab ich noch gar nicht gesehn, die Sie heut anhaben.

ANNA Die hab ich schon lang.

GRUBER Aber gesehn hab ich sie noch nicht. Sie steht Ihnen gut.

ANNA Gehens.

GRUBER Nein. Wirklich. Jugendlich sehen Sie drin aus.

ANNA Sie haben heut einen scherzhaften Tag, Herr Gruber.

GRUBER Ja. Weil ich so guter Laune bin.

ANNA Warum denn?

GRUBER Warum? Das weiß ich nicht. Weil, weil, weils so schönes Wetter ist draußen.

ANNA Weils so schönes Wetter ist!

GRUBER Ja. Deswegen. Aber jetzt hab ich Hunger. Gibts bald was?

ANNA Gleich. In die Küche. Kommt. In fünf Minuten. Der Salat muß ganz kalt sein. Das kühlt bei der Hitze.

GRUBER Lesens mir solang den Roman vor, aus dem »Anzeiger«. Dann wirds grad Zeit.

ANNA nimmt den auf dem Tisch liegenden Anzeiger, klemmt sich einen Hornzwicker auf die Nase und beginnt mit schülerhafter Betonung zu lesen: Hildegard trat entschlossen auf den Grafen zu. Ihre Augen sprühten und ihr stolzer Mund bebte, als sie von oben herab zu ihm sagte: »Herr Graf, Sie täuschen sich, wenn ...

Während sie liest, fällt der

Vorhang.

DRITTER AKT

Novembernachmittag. Feuer im Ofen. Ein grüner Vorhang verhüllt das Bett. Die Mitteltür steht offen. Vom Flur tönt die scheltende Stimme der

ANNA Gehen Sie in den Hof hinunter. Oder aufs Dach. Oder wohin Sie wollen. Aber vor meiner Tür klopfen Sie Ihre Kleider nicht aus. Vor meiner Tür nicht. Ich laß mir nicht die Wohnung verstauben. Ich nicht. Sie tritt ins Zimmer, schließt die Tür: Bagage. Teuflische. Sie geht zum Bett. Sie schiebt den Vorhang zurück.

GRUBER liegt todkrank, matt, abgemagert in den Kissen.

ANNA Jetzt stellts einen Stuhl in den Gang. Grad vor unsre Tür. Und klopft darauf ihre Kleider aus. Grad vor unsrer Tür.

GRUBER Mein Gott, Anna, das bißchen Staub.

ANNA Die tuts nur mir zum Trotz.

GRUBER Es ist gar nicht wert, daß man sich aufregt.

ANNA Sie soll in den Hof runtergehn.

GRUBER Weiberleut.

ANNA Nehmen Sie wieder Ihre Tropfen, Herr Gruber?

GRUBER Ja.

ANNA gibt ihm einen Löffel voll Medizin.

GRUBER Es ist zu nichts nutz.

ANNA Es wird schon gut sein, wenns der Doktor verschrieben hat.

GRUBER Mir hilft kein Doktor mehr.

ANNA Aber der liebe Gott. Beten. Ich bet täglich für Sie.

GRUBER Ich hab gar keine Angst. Ich muß halt sterben.

ANNA Der Krebs, der ist schlimm.

GRUBER Da. Im Hals. Ich hätt mich ein Jahr früher operieren lassen müssen, sagt der Doktor.

ANNA Die wollen immer schneiden. Und schneiden oft das Leben ganz auseinander.

GRUBER Ich muß halt sterben. Jeder muß es einmal.

ANNA Der Doktor, es kann doch sein, er irrt sich. Vielleicht wirds wieder besser.

GRUBER Nein. Nein. Ich spürs. Ich hab gar keine Angst. Gar keine.

ANNA Vom Leben hat man auch nix.

GRUBER Ich hab ein gutes Gewissen. Ich hab immer meine Christenpflicht erfüllt. Ich kann schon sterben.

ANNA Wenn man seinen Glauben nicht hätte. Da müßts Sterben furchtbar sein.

GRUBER Es müßt arg sein.

ANNA Jetzt bin ich ein halbes Jahr bei Ihnen. Ich hätt nicht gedacht, daß Sie krank würden.

GRUBER Mir hat nie was weh getan. Und als ich zum Doktor ging, wars zu spät.

ANNA Und wir wärn so gut ausgekommen miteinander, wir zwei.

GRUBER Sehr gut wärn wir ausgekommen miteinander.

ANNA Schön wars das halbe Jahr.

GRUBER Eine schöne Zeit wars.

ANNA Ich hab einmal kein Glück.

GRUBER Sie finden schon wieder eine andere Stelle.

ANNA Eine andere Stelle, die find ich schon. Der Herr Pfarrer Baumbauer verschafft mir schon wieder eine. Aber eine so gute, wie bei Ihnen.

GRUBER Gibts noch mehr.

ANNA Nein. Eine solche nimmer. Wo ich mich so gut versteh mit dem Herrn.

GRUBER Es wird schon gehn, Anna.

ANNA Es muß, Herr Gruber.

GRUBER Lesens einem andern die Zeitung vor, Anna.

ANNA Nein.

GRUBER Es wird schon eine neue Geschicht drin stehen.

ANNA Eine so schöne nimmer. Geht weinend zum Fenster.

GRUBER Anna! Das ist doch nicht zum Weinen.

ANNA wieder ruhig: Ja. Es klopft. Das wird der Herr Pfarrer Baumbauer sein. Herein.

BAUMBAUER Gelobt sei Jesus Christus.

ANNA & GRUBER In Ewigkeit Amen.

BAUMBAUER Gruber die Hand reichend: Wie gehts, wie stehts, wie treiben wirs, Herr Gruber?

GRUBER Dank schön, Hochwürden. Bei mir gehts jetzt immer gleich. Immer gleich. Bis es mir sehr gut geht, wenn das letzte Stündlein vorbei ist.

BAUMBAUER Das letzte Stündlein hat ein letztes Minütlein. Das ist noch längst nicht da. Aufschauen zum lieben Gott und die Medizin trinken!

GRUBER Ich spürs. Hochwürden, ich machs nimmer lang. Ich furcht mich auch gar nicht.

BAUMBAUER Sie brauchen sich auch nicht zu furchten. Sie haben gebeichtet. Sie haben kommuniziert. Sie haben alles in Ordnung gebracht. Da ist das Sterben gar nicht schwer, hat der Bauer gesagt, und hat auf sein böses Weib hingeschaut.

GRUBER Gar nicht schwer. Hochwürden, gar nicht schwer.

ANNA Es ist nur gut, daß man seinen Glauben hat. Hochwürden, mit dem sichs leicht stirbt.

BAUMBAUER Ja. Das ist schon ein Segen.

ANNA Wenn da einer protestantisch wär!

BAUMBAUER Her oder hin. Hin oder her. Hat er brav gelebt, kann er auch eine glückselige Sterbestunde haben. Warum nicht?

ANNA Und doch nicht so wie ein Katholischer.

BAUMBAUER Jeder nach seiner Weis.

ANNA Nein. Nein, das glaub ich einmal nicht. Unser Herrgott wird schon die Rechtgläubigen bevorzugen. Das muß er doch. Davon bin ich fest überzeugt.

BAUMBAUER Unser katholischer Glaube ist schon eine sichere Brücke zum Jenseits.

ANNA Protestantisch ist gut leben, katholisch ist gut sterben; das hat mir meine Mutter immer gesagt.

GRUBER Jetzt komm ich halt wieder zu meiner Frau.

BAUMBAUER Das ist gewiß. Das Wiedersehn ist uns verheißen.

GRUBER Sie wird schon warten auf mich.

BAUMBAUER Die Vereinigung in Gott ist süßer als jedes Glück auf Erden.

ANNA Ja. Jetzt werden Sie Ihre Frau wieder sehen.

GRUBER Meine Frau.

ANNA Sie hat Sie nicht lange allein lassen. Nicht lang, auf der Erde.

BAUMBAUER Was heißt das?

ANNA Die Frau Gruber hat sich ihren Mann geholt.

BAUMBAUER Das sind lästerliche Reden.

ANNA Das sagt man bei uns so. Hochwürden, wenn zwei rasch hintereinander sterben.

BAUMBAUER Das ist ein unchristliches Gerede.

ANNA Das sagt man halt so bei uns.

GRUBER Meine Frau holt mich nicht. Ich geh selber gern zu ihr.

BAUMBAUER Einstweilen sinds noch da. So passierts nicht, hat der besoffne Bauer gesagt, als sie ihn in den Sarg legen wollten. Gibt ihm die Hand. Gute Besserung.

GRUBER Grüß Gott, Hochwürden.

ANNA begleitet Baumbauer bis zur Tür: Grüß Gott, Hochwürden.

BAUMBAUER ab.

ANNA Ein guter Herr, der Herr Pfarrer Baumbauer.

GRUBER Er hat meine Frau beerdigt. Jetzt kriegt er bald mit mir was zu tun.

ANNA Aber über die Protestanten hat er sonderbare Ansichten.

GRUBER Er wirds schon besser wissen. Er hat studiert.

ANNA Schon, aber trotzdem. Über die Protestantischen ...

GRUBER Er wirds schon wissen. Wieder klopft es.

ANNA Herein.

LUISE & LINA Schmerdegen trippeln herein und hintereinander zu Gruber. Sie haben immer etwas von Automaten.

LUISE Grüß Gott, Herr Gruber.

LINA Grüß Gott, Herr Gruber.

LUISE Grüß Gott, Fräulein Anna.

LINA Grüß Gott, Fräulein Anna.

LUISE Wir wollen nachschaun, wies dem Herrn Gruber geht.

LINA Nachschaun, wies geht. Nicht ein wenig besser?

GRUBER Bei mir ändert sich nichts mehr. Aber mir gehts ganz gut. Ich bin ganz zufrieden. Bloß recht müd immer.

LUISE Ja. Ja.

LINA Ja. Ja.

GRUBER Die Anna meint, meine Frau holt mich. Aber das ist nicht wahr. Ich geh zu ihr. Ich folg ihr nach.

ANNA Das ist so eine Redensart, Herr Gruber. Das sagt man so.

GRUBER Ich weiß schon, Anna. – Ich freu mich auf meine Frau.

ANNA Ja. Jawohl. Ich hab gemeint, Sie wärn ganz zufrieden gewesen mit mir.

GRUBER Schön wars das halbe Jahr. Aber nun freu ich mich auf meine Frau. Verstehen Sie das nicht?

ANNA Ich verstehs schon.

LUISE Der Herr Pfarrer Baumbauer ist uns vor der Haustüre begegnet.

ANNA Ja. Er war da.

LUISE Ein guter Herr.

ANNA Ja, ein alter Bekannter vom Herrn Gruber und von mir.

LUISE Ich beicht bei ihm.

LINA Mein Beichtvater ist er auch.

LUISE Er ist so gut in der Beicht. Und gibt eine leichte Buße auf.

LINA Fünf Vaterunser, die hat er mir aufgegeben, das letztemal.

GRUBER Das ist nicht viel, fünf Vaterunser.

LUISE Ich hab früher einmal einen Beichtvater gehabt, der war sehr streng. Ich hab mich gefürchtet vor jeder Beicht. Und so laut hat er geschrien im Beichtstuhl, daß alles geschaut hat, was nach mir gekommen ist. Daß ich mich immer geniert hab. Aber der Herr Pfarrer Baumbauer, das ist ein milder.

LINA Das ist ein guter Beichtvater.

GRUBER Ja. Ja. Da gibts verschiedene. Ich hab auch einmal so einen scharfen gehabt. Einen ganz jungen.

ANNA Die Jungen sind die strengsten.

LUISE Morgen schaun wir wieder nach.

LINA Morgen.

LUISE gibt Gruber die Hand: Grüß Gott, Herr Gruber, und gute Besserung.

LUISE Grüß Gott, Fräulein Anna.

LINA Grüß Gott, Fräulein Anna. Beide ab, von Anna zur Tür begleitet.

ANNA nach einer kleinen Pause: Das meiste haben Sie jetzt in Ordnung gebracht, Herr Gruber.

GRUBER Ich kann ruhig sterben.

ANNA Mit Ihrer Seele ist alles in Ordnung.

GRUBER So weits ein Mensch in Ordnung bringen kann: ja.

ANNA Da war also nichts mehr zu tun.

GRUBER Ich wüßte nichts mehr.

ANNA Man muß auch über das Grab hinaus denken. Wenn einer tot ist, dem haben machmal schon Seelenmessen geholfen. Manchem haben sie vielleicht schon geholfen.

GRUBER Das ist wahr. Die wird meine Schwester lesen lassen. Seelenmessen.

ANNA Das glaub ich auch. Aber vielleicht wärs gut, wenn man das vorher schon regelte.

GRUBER Vielleicht wär das gut.

ANNA Und auch so wär manches zu ordnen.

GRUBER nach einer Pause: Viel hab ich ja nicht.

ANNA Aber Ordnung wär doch gut.

GRUBER War gut.

ANNA Eine Erleichterung, zum Beispiel.

GRUBER Die Einrichtung, die bekommt meine Schwester. Andre Verwandte hab ich nicht.

ANNA Bekommt Ihre Schwester. Die wird manches doppelt haben. Sie ist ja schon ganz schön eingerichtet.

GRUBER Wird manches doppelt haben. Sie kann ja verkaufen, was sie zweimal hat.

ANNA Eigentlich ists aber schad, daß da was verkauft werden soll. Von den Sachen, die so lang bei Ihnen waren. Eigentlich ists schad.

GRUBER Ja, das schon. Eigentlich.

ANNA Zum Beispiel: das viele Geschirr. Das hat Ihre Schwester alles schon. Und wenn mans verkauft, bekommt man gar nicht einmal viel dafür. Für gebrauchte Sachen wollen die Leut nicht viel hergeben. Und wenn mans versteigert, kommt auch wenig raus. Eigentlich müßt mans verschenken.

GRUBER Ja. Irgendeinem armen Leut.

ANNA Ja. Irgendeinem armen Leut.

GRUBER Wär manche alleinstehende Person froh drum.

ANNA Arg froh wär manche.

GRUBER Ja, können Sies denn nicht brauchen, Anna?

ANNA Oh, ich könnts schon brauchen. Aber so wars doch nicht gemeint, Herr Gruber.

GRUBER Dann kriegen Sies, Anna. Natürlich kriegen Sies. Daß ich nicht gleich drauf gekommen bin. Sie kriegens.

ANNA Dann dank ich schön, Herr Gruber. Das ganze Geschirr also?

GRUBER Das ganze Geschirr.

ANNA Dank schön.

GRUBER Da ist nichts zu danken. Sie haben mehr um mich verdient.

ANNA Es wär doch gut, wenn Sie das alles schriftlich machten.

GRUBER Schriftlich?

ANNA Ein – Testament!

GRUBER Ein Testament?

ANNA Es wär doch gut, wenn das alles notariell beglaubigt wär. Die Einrichtung, und das – lauernd – Bargeld.

GRUBER Ja, das wär vielleicht gut.

ANNA Auch wegen der Beerdigung. Und der Seelenmessen. Das könnte alles ins Testament hinein. Auch wegen des Bargelds. Das könnte alles hinein.

GRUBER Das ist schon wahr.

ANNA So was soll man nicht hinausschieben. Je eher, desto besser.

GRUBER Wahr ists.

ANNA Das geht schnell. Man braucht bloß nach dem Notar telephonieren. Der kommt sofort. Wann sichs um ein Testament handelt. Da kommt er sofort. Es dämmert langsam.

GRUBER Ja. Telephonierens ihm halt.

ANNA Ich bin gleich wieder da. Geht. Die Dämmerung wird tiefer, Gruber ist eine Weile allein. Dann kommt Anna wieder.

GRUBER Sie haben lang gebraucht, Anna.

ANNA Ich war beim Metzger. Er schickt morgen Kalbfleisch. Ganz junges. Das wird Ihnen gut tun.

GRUBER Ja. Und der Notar?

ANNA Er war selbst am Telephon. Er wird gleich kommen, läßt er sagen. Er muß gleich da sein.

GRUBER Das ist gut.

ANNA überlegen Sie sich gut, was Sie ihm alles sagen wollen. Daß Sie nichts vergessen. Das ist eine weltliche Beicht.

GRUBER Ja. Ich werd schon nichts vergessen.

ANNA Daß Sie gar nichts vergessen.

GRUBER Gar nichts.

ANNA Und das Geschirr, das Geschirr bekomm ich.

GRUBER Bekommen Sie.

ANNA Und das Bargeld müssen Sie auch verteilen.

GRUBER Muß ich auch verteilen.

ANNA Damit hernach alles in Ordnung ist.

GRUBER Alles in Ordnung. Pause. Spukhaft, dröhnend klopft es.

ANNA Das wird er sein. Herein.

NOTAR tritt wie ein Schatten in die Dämmerung herein: Guten Abend.

ANNA Guten Abend.

NOTAR Man sieht nichts.

ANNA Gleich. Sie dreht am Schalter. Das elektrische Licht flammt auf.

NOTAR tritt zum Bett: Das ist der Herr Gruber?

ANNA Jawohl.

NOTAR Der sein Testament machen will.

ANNA Jawohl.

GRUBBR Ich möcht gern Ordnung haben. Herr Notar.

NOTAR Gut. Dazu bin ich da. Selbstverständlich.

ANNA Bargeld ist auch da, Herr Notar.

NOTAR Gut. Nimmt am Tisch Platz, macht sich Notizen. Was haben Sie? Wie solls verteilt werden? Zählen Sie alles auf. Vergessen Sie nichts. Ich mach einen vorläufigen Entwurf. Morgen, vor Zeugen, werden die Unterschriften vollzogen.

GRUBER Jawohl. Die Einrichtung vermach ich meiner Schwester.

NOTAR Der Schwester. Heißt?

GRUBER Katharina Schmelzler in Neumarkt.

NOTAR Neumarkt.

GRUBER Dann Bargeld. Viel ist nicht da. Etwas. Auf der Sparkasse.

NOTAR Wieviel?

GRUBER leise: 1300 Mark.

ANNA die lauernd in der Nähe der beiden sich zu schaffen macht und die Zahl nicht gehört hat: Wieviel?

NOTAR Das ist Herrn Grubers Sache. Das müssen Sie nicht wissen.

ANNA Natürlich, mich geht das nichts an. Ich darf zwar aushalten bei dem Herrn Gruber. Und die Arbeit darf ich tun. Und die Augen darf ich ihm zudrücken, wenn er tot sein wird. Pflegen und warten darf ich ihn. Aber wenn so was zu verhandeln ist, das geht mich nichts an. Da bin ich der Garniemand.

GRUBER Aber, Anna! Sie dürfens schon wissen. 1300 Mark hab ich auf der Sparkasse.

ANNA 1300 Mark.

GRUBER Davon erhält meine Schwester 1000 Mark.

GRUBER Und die andern 300 Mark ...

ANNA Wer kriegt die?

GRUBER Die andern 300 Mark vermach ich der Anna.

NOTAR Dem Fräulein Anna. Das sind Sie?

ANNA Ja.

NOTAR Wie heißen Sie?

ANNA Anna Wollnreuther.

NOTAR 300 Mark dem Fräulein Anna Wollnreuther in Regensburg.

ANNA Aber, Herr Gruber, das hätts nicht gebraucht.

GRUBER Sie haben es sich verdient, Anna.

ANNA gibt ihm die Hand: Vergelts Gott, Herr Gruber.

NOTAR Noch etwas sonst?

GRUBER Nein sonst weiß ich nichts mehr.

ANNA Das Geschirr, Herr Gruber.

GRUBER Ja, das Geschirr. Das bekommt das Fräulein Anna.

NOTAR Das Küchengeschirr die Anna Wollnreuther.

GRUBER Ich bin im Sankt-Josefs-Verein. Da zahlt der Verein die Kosten der Beerdigung. Meine Schwester soll mir ein paar heilige Messen lesen lassen.

NOTAR Heilige Messen.

GRUBER Dann hätten wirs, Herr Notar

NOTAR Morgen früh dann die Unterschriften. Leute aus dem Haus, als Zeugen, werden sich finden.

GRUBER Jawohl.

NOTAR nickt grüßend: Bis morgen. Ab.

ANNA So. Das war nun auch geschehn. Nun ist alles in Ordnung.

GRUBER Ja. Gott sei Dank. Nun kann ich ruhig sterben.

ANNA Das können Sie.

GRUBER Grabstein braucht man keinen zu kaufen. Es steht ja der Familiengrabstein draußen.

ANNA Ja.

GRUBER Meine Frau liegt draußen. Meine Tochter neben ihr. Ich werd auch noch Platz haben unter dem Stein.

ANNA Freilich

GRUBER Meiner Schwester muß ich noch sagen, daß sie meine Photographie in den Stein einmeißeln läßt. In die Mitte. Zwischen die Photographien meiner Frau und meiner Tochter. Das kleine Marerl. Zehn Jahre wars alt, als es starb. Jetzt kommen wir wieder zusammen.

ANNA Es war ein guter Gedanke, daß Sie nach dem Tod Ihrer Frau das Kind haben umbetten lassen. Zur Mutter hinein.

GRUBER Es war ein guter Gedanke. Jetzt kommen wir wieder alle zusammen. Es hat was Tröstliches.

ANNA Es hat was Tröstliches.

GRUBER Jetzt kann ich sterben. Heut, morgen, oder in fünf Tagen. Es ist alles bereit. Alles aufs beste geordnet. Jetzt kann ich sterben.

ANNA Alles aufs beste bereit.

GRUBER Meine Tropfen, Anna.

ANNA gibt sie ihm: Vorsichtig. So.

GRUBER Für den Schlaf sind sie gut.

ANNA ja, das sind sie. Schweigen. Gruber schläft ein. Behutsam zieht Anna den Vorhang vor den Schlafenden. Am Tisch steht eine Kanne. Kritisch betrachtet Anna sie, beklopft den Boden. Da fällt der

Vorhang.

VIERTER AKT

Das Zimmer ist schon halb ausgeräumt. Möbelstücke stehen umher. Herr und Frau Schmelzler sind eben dran, einen großen Kleiderschrank weg zu schleppen. Anna sieht zu.

HERR SCHMELZLER Das wird das schwerste Stück sein.

FR. SCHMELZLER Man muß ihn umlegen.

HERR SCHMELZLER Die Tür ist recht eng.

FR. SCHMELZLER Es muß gehn.

HERR SCHMELZLER Gehn muß es.

FR. SCHMELZLER Heb einmal dort an.

HERR SCHMELZLER Halt. Nicht so hoch.

FR. SCHMELZLER Fräulein Anna, sinds so gut, rückens unten den Fuß ein wenig nach rechts.

ANNA So? Tuts.

HERR SCHMELZLER Nicht so viel.

FR. SCHMELZLER Obacht.

ANNA Jetzt. So gehts. Sie drehen den Schrank auf einem Fuß zur Tür.

HERR SCHMELZLER Hopp.

FR. SCHMELZLER Eine schwere Erbschaft.

ANNA Zu schwer? Sie brauchens ja nicht ... annehmen.

HERR SCHMELZLER Noch einen Ruck.

ANNA Wenns Ihnen zu schwer ist. Spaßhaft sagt sie das.

FR. SCHMELZLER Da meinen die Leut, das ist so einfach, eine Erbschaft. So einfach ist das nicht.

HERR SCHMELZLER Jetzt. Holla. Sie wälzen den Schrank durch die Tür.

ANNA allein. Sie hat in einem großen Waschkorb Geschirr gesammelt. Holt aus der Küche noch das eine oder andere Stück und legts in den Korb.

LUISE Schmerdegen und ihre Schwester Lina kommen. Anna bricht bei ihrem Anblick in wildes Schluchzen aus. Luise sagt: Aber, Fräulein Anna

LINA Fräulein Anna, gehns.

ANNA Da tragen sie jetzt alles weg. Alles weg. Alles ist aus.

LUISE Es ist schon traurig.

ANNA Der Herr Gruber ist gut dran. Er ist tot. Ich lebe noch.

LINA Der Herr Gruber.

ANNA Eingeschlafen und nicht mehr wach geworden. Ich hab ihm die Augen zugedrückt.

LUISE Seit drei Tagen am Friedhof. Der Herr geb ihm die ewige Ruhe.

LINA Und das ewige Licht leuchte ihm.

ANNA In Ewigkeit, Amen.

LINA Und Sie haben ihm die Augen zudrücken müssen?

ANNA Wer hätts denn sonst tun sollen? Ich bin ihm doch nah genug gestanden, dem Herrn Gruber. Daß ichs tun durfte. Wer hätts denn tun sollen? Ich hab ihn doch auch gepflegt, bis zum Ende.

LUISE Sie haben sich Gottes Lohn verdient.

ANNA Nun steh ich wieder ganz allein da. Ich hab nirgends eine Heimat.

LINA Das ist schon zu traurig, wenn – lauernd – wenn der Bräutigam stirbt.

ANNA Was redens denn? Bräutigam. Da komm ich noch ins Gered. Uns kann niemand was nachsagen. Wir haben ehrbar nebeneinander hergelebt. Ehrbar. Zwei alte Leut.

LINA Das weiß jedes. Ich mein nur, wenn er nicht gestorben wär, der Herr Gruber, der hätt nochmal geheiratet, mein ich. Ich weiß schon, wen er geheiratet hätt, der Herr Gruber.

ANNA Davon ist gar keine Red. Davon haben wir nie ein Wörtlein miteinander geredet. Nie.

LINA Schon. Aber ich mein, wenn er nicht gestorben wär.

ANNA Er hat mich gut leiden mögen. Das ist wahr. Alles was wahr ist. Aber verloben. Wir alten Leut. Daß ich nicht lach.

LUISE Warum hätt er Sie nicht heiraten sollen? Ich glaub schon auch, daß ers getan hätt. Ich glaubs schon auch.

ANNA Aber jetzt ist er tot.

LUISE Er hätt sie heiraten wolln, daran ist gar kein Zweifel.

ANNA Er hat wohl manchmal so herumgeredet.

LUISE Herumgeredet?

ANNA Auf den Busch geklopft.

LUISE Ah.

ANNA Ich bin ihm aber nicht entgegengekommen. Ich hab getan, als merkte ich nichts. Ich hab mich taub gestellt. Und blind.

LINA Was?

ANNA Er hatte auch seine Fehler, der Herr Gruber.

LUISE Er war ein braver Mann.

ANNA Ja. Das war er. Aber seine Fehler hatte er auch. Gar manchen Fehler hatte er. Ich hätt ihn nicht genommen.

LUISE Sie hätten ihn ...

ANNA Nicht genommen!

LUISE Aber er? Er?

ANNA Er hätt schon gewollt. Er hätt mich schon zur Frau gewollt. Aber mir ist der ledige Stand lieber.

LUISE Ist Ihnen lieber? Ist Ihnen lieber? Sagt das zweifelnd.

ANNA Viel lieber. Ja. Ist mir viel lieber.

LUISE So – so?

LINA Das – das ist ...

ANNA Ich hätt schon Frau Gruber sein können, wenn ich gewollt hätt. Frau Gruber könnt ich heut sein.

LUISE Er hat gewollt. Aber Sie nicht.

ANNA Er hatte seine Fehler. Er war auch gar nicht schön.

LINA Nicht schön?

ANNA Und seine Stellung. Aufseher in einer Fabrik. Gar nichts Sicheres. Keine Pension. Mein letzter Herr war Postsekretär. Ich hätt ihn nicht genommen, den Herrn Gruber. Er war auch zu alt für mich.

LUISE Für Sie?

ANNA Zu alt. Und nicht hübsch genug.

LUISE zweifelnd: Nicht hübsch genug? Für Sie?

ANNA kampfbereit: Nicht jung genug. Nicht hübsch genug.

LUISE sich duckend: Ja. Schon wahr. Pause.

LINA Wir gehn wieder Luise.

LUISE Ja. Lina, wir müssen gehn.

LINA Grüß Gott, Fräulein Anna.

LUISE Grüß Gott, Fräulein Anna.

ANNA nickt nur. Die beiden Schmerdegen gehen verschüchtert ab. Anna schneidet ihnen eine Grimasse nach. Wieder kommen die beiden Schmelzler.

HERR SCHMELZLER Die drei Treppen.

FR. SCHMELZLER Wer wird denn auch drei Treppen hoch wohnen!

HERR SCHMELZLER Das meiste haben wir schon jetzt.

FR. SCHMELZLER Ja. Das meiste.

HERR SCHMELZLER Die Bilder. Steigt auf einen Stuhl und beginnt, die Bilder abzunehmen.

FR. SCHMELZLER Die Mutter Gottes.

HERR SCHMELZLER Der heilige Florian.

FR. SCHMELZLER Der ist noch von unserer Mutter. Den kenn ich schon als Kind.

HERR SCHMELZLER Heiliger Florian, verschon unser Haus, zünds andre an.

FR. SCHMELZLER lehnt die Bilder gegen die Wand. Nimmt aus Annas Waschkorb eine Blumenvase: Wie kommt denn die da rein?

ANNA Wie wirds in den Korb hineinkommen? Hineinglegt hab ich sie.

FR. SCHMELZLER So?

ANNA Ja.

FR. SCHMELZLER Die gehört aber doch uns.

ANNA Alles Geschirr gehört mir.

FR. SCHMELZLER Das gehört doch nicht zum Geschirr.

HERR SCHMELZLER Nur das Küchengeschirr.

FR. SCHMELZLER Das ist doch eine Vase.

HERR SCHMELZLER Die gehört uns

ANNA Mir gehört sie. Alles Geschirr.

HERR SCHMELZLER Dann nehmen Sie doch auch den Nachttopf. Dann gehört Ihnen auch das Nachtgeschirr.

ANNA Redens nicht so gemein. Das können Sie, einer hilflosen Person gegenüber, das können Sie.

FR. SCHMELZLER Die Vase gehört uns.

ANNA Das ist ein Geschirr. Die gehört mir. Sie haben doch genug. Haben Sie nicht genug? Wollen Sie meine Sachen auch noch? Wenn das der Herr Gruber sehen müßte. Drei Tag liegt er im Grab. Und jetzt nützt man meine Hilflosigkeit aus. Man nimmt mir mein Recht. Weint.

HERR SCHMELZLER Na, weinens nicht.

ANNA Der Herr Gruber ...

FR. SCHMELZLER Heulens doch nicht. Sie sind doch gar nicht mit ihm verwandt.

ANNA aufheulend: Verwandt! Aber die Augen hab ich ihm zugedrückt! Ich hab ihm die Augen zugedrückt. Ich hab ihm die Augen zugedrückt.

FR. SCHMELZLER Sinds nur wieder ruhig.

ANNA Weil ich nicht verwandt bin mit ihm, da soll ich wohl auch nicht weinen dürfen? Nicht weinen soll ich dürfen. Aber gepflegt und gewartet hab ich ihn bis zuletzt. Bis zuletzt hab ich ausgehalten bei ihm. Und jetzt wirft man mir vor, daß ich nicht verwandt bin mit ihm. Jetzt will man mir das Weinen verbieten.

FR. SCHMELZLER Niemand verbietet Ihnen was. Sinds nur wieder ruhig.

ANNA Das Weinen will man mir verbieten und mir mein Recht nehmen.

FR. SCHMELZLER Behaltens nur die Vase.

HERR SCHMELZLER Nehmens Sies.

FR. SCHMELZLER Es ist uns ja gleich.

HERR SCHMELZLER Es kommt uns nicht drauf an.

ANNA wieder ganz ruhig. Legt die Vase wieder in den Korb: Für mich ist sie

HERR SCHMELZLER Jetzt den Tisch dort.

FR. SCHMELZLER Der ist nicht so schwer. Sie fassen an.

FR. KRESS die Hausbesitzerin, kommt: Grüß Gott.

HERR SCHMELZLER Grüß Gott, Frau Kreß.

FR. KRESS Beim Ausräumen?

FR. SCHMELZLER Ja. Das meiste haben wir schon.

FR. KRESS Wie lang werdens denn noch brauchen, bis die Wohnung leer ist?

HERR SCHMELZLER Wir werden heut noch fertig.

FR. SCHMELZLER Bis abends sind wir fertig.

FR. KRESS Mit der Wohnungsnot. Die Leut laufen mir das Haus ein.

HERR SCHMELZLER Wer will denn rein?

FR. KRESS Ein junges Ehepaar. Möglichst bald wollen sie einziehen.

HERR SCHMELZLER Die könnens nimmer erwarten?

FR. SCHMELZLER Die werden froh sein.

HERR SCHMELZLER Der eine geht, zwei andre kommen.

FR. KRESS übermorgen wollen die schon rein.

HERR SCHMELZLER Von uns aus schon.

FR. KRESS Schlafen Sie heut Nacht noch da, Fräulein Anna?

ANNA Nein. Ich schlaf im Hospiz, ab heut.

FR. KRESS Dann könnens ja übermorgen schon rein, die jungen Leut.

ANNA Aber ich hab noch Sachen da von mir.

FR. KRESS Die kann man ja zusammenstellen. Und wenn Sie heut schon nicht mehr da schlafen, dann geben Sie mir doch die Wohnungsschlüssel.

ANNA Nein.

FR. KRESS Ja, warum nicht?

HERR SCHMELZLER Gebens ihn halt her, den Schlüssel. Trägt mit seiner Frau den Tisch fort.

FR. KRESS Ja, warum denn nicht?

ANNA Das geht nicht.

FR. KRESS Warum nicht?

ANNA Ich hab meine Sachen noch da. Ich geh den Schlüssel nicht her.

FR. KRESS Ihre Sachen kann man ja irgendwo anders hinstellen.

ANNA Nein. Ich mag nicht.

FR. KRESS Jetzt. So was.

ANNA Die Wohnung ist noch gemietet. Und vom Herrn Gruber noch bezahlt. Die Miete läuft erst in vierzehn Tagen ab. Und eher geb ich auch den Schlüssel nicht her. Nicht vor vierzehn Tagen.

FR. KRESS Aber ... die jungen Leut?

ANNA Vierzehn Tag haltens schon noch aus.

FR. KRESS Das ist ...

ANNA Was?

FR. KRESS Das ist – das ist – wie kann man nur so ungefällig sein?

ANNA Zu mir ist auch niemand gut. Sogar das wenige will man mir nehmen, das ich geerbt hab. Sogar das wenige noch.

HERR SCHMELZLER und seine Frau kommen: Wie machen Sies denn jetzt, wegen des Schlüssels?

FR. KRESS Sie gibt ihn nicht her.

ANNA Nein.

HERR SCHMELZLER Sie gibt ihn nicht her?

ANNA Nein.

HERR SCHMELZLER Naja.

ANNA Was na ja?

HERR SCHMELZLER Nichts.

FR. KRESS Müssen halt die jungen Leut noch warten. Die Miete gilt noch für vierzehn Tage. Da kann man nichts machen. Gar nichts kann man da machen. Geht.

FR. SCHMELZLER zu Anna Sie sind ...

ANNA Was?

FR. SCHMELZLER Sie sind ... Sie sind, im Recht sind Sie. Die Miete läuft noch vierzehn Tag.

HERR SCHMELZLER Jetzt die Stühle.

FR. SCHMELZLER Ja. Sie gehen mit den Stühlen ab. Das Zimmer ist jetzt fast völlig leer. Die Tür steht offen.

ANNA schleicht schnüffelnd allein im kahlen Raum umher. Betrachtet ihr Geschirr im Korb. Die solln warten. Wegen der vierzehn Tag. Die vierzehn Tag bringen sie auch nicht um. Solln froh sein, daß sie überhaupt heiraten können. Solln froh sein. Nimmt die Vase in die Hand. Die gehört auch zum Geschirr. Wohin denn sonst? Natürlich gehört die zum Geschirr. Zum Lachen.

FR. SCHARMANN erscheint unter der offenen Tür.

ANNA sieht ihr hochmütig erstaunt entgegen.

FR. SCHARMANN Ich wollt den Herrn Schmelzler.

ANNA schweigt.

FR. SCHARMANN Zum Herrn Schmelzler wollt ich.

ANNA schweigt.

FR. SCHARMANN Ich komm später nochmal.

ANNA Was wollns denn von ihm? Vielleicht wollns Ihre Kleider jetzt gleich da im Zimmer herin ausklopfen. Der Herr Gruber ist ja jetzt tot. Da können Sie jetzt tun, was Sie wollen. Deutet auf die leere Wand. Da könnens jetzt den Haken einschlagen. Oder in der Küche. Ich bin ja jetzt allein. Daß mir der Staub ins Essen fällt.

FR. SCHARMANN Ich will nicht streiten mit Ihnen.

ANNA Gehen Sie hinaus. Machens, daß Sie hinauskommen. Bleibens in Ihrer Wohnung. Sie haben da nichts zu suchen.

FR. SCHARMANN ist lautlos wieder gegangen, so daß Anna die letzten Sätze ins Leere geredet hat.

ANNA Teuflisch. Die teuflische Person. Die unchristliche. Sie ist wieder eine Weile allein. Dann erscheint unter der Tür Schlittmeier.

SCHLITTMEIER sechzig Jahre alt, trägt einen dunklen Mantel. Kränkliches Aussehen: Guten Tag .

ANNA nicht sehr freundlich, brummt nur etwas.

SCHLITTMEIER sieht sich um: Ich weiß nicht, bin ich da recht?

ANNA Das kommt drauf an, wo Sie hin wolln.

SCHLITTMEIER Zu einem, zu einem – knöpft umständlich seinen Mantel auf, zieht einen Zettel aus der Tasche – Fräulein Anna Wollnreuther.

ANNA sehr freundlich auf einmal: Da sind Sie recht. Das bin ich.

SCHUTTMEIER Ah. Sieht sie lang an.

ANNA Ich bin die Anna Wollnreuther.

SCHLITTMEIER mit einem Versuch, sich zu verbeugen: Das freut ich.

ANNA Mich auch.

SCHLITTMEIER Ich heiße Schlittmeier. Zugführer a.D. Schlittmeier.

ANNA Sehr erfreut.

SCHLITTMEIER macht wieder einen Kratzfuß.

ANNA Und zu mir wolln Sie?

SCHLITTMEIER Ja. Zu Ihnen.

ANNA Was steht zu Diensten?

SCHLITTMEIER Der Herr Pfarrer Baumbauer, er schickt mich.

ANNA Ah.

SCHLITTMEIER Er hat mir gesagt, Sie – Meine Frau ist vor einem Vierteljahr gestorben.

ANNA Das ist traurig. Mein Beileid.

SCHLITTMEIER Ja. Wenn man so alt und sich aneinander gewöhnt hat.

ANNA Das glaub ich.

SCHLITTMEIER Meine Frau ist also vor einem Vierteljahr gestorben. Und bis jetzt, da hab ich allein gelebt, in meiner alten Wohnung. Aber jetzt brauch ich jemand, eine weibliche Person.

ANNA Eine Köchin. Eine Haushälterin.

SCHLITTMEIER Ja. Jemand der mir kocht, und auch so.

ANNA Freilich.

SCHLITTMEIER Ich hab bis jetzt im Gasthaus gegessen. Aber das ist so ungemütlich. Und auch so teuer.

ANNA Im Wirtshaus fliegts Geld naus.

SCHLITTMEIER Fliegts naus. Ja. Er hüstelt.

ANNA Da ists kühl. In der ausgeräumten Wohnung. Schließt die Tür. Knöpfens Ihren Mantel zu. Sie erkälten sich sonst. Da muß man ängstlich sein. Sie knöpft ihm selber, besorgt, den Mantel zu.

SCHLITTMEIER Ja. Ich verkält mich leicht. Ich bin überhaupt nicht mehr der Festeste. Früher, ja! Aber jetzt bin ich nicht mehr der Festeste.

ANNA Schonen muß man sich.

SCHLITTMEIER Das, das ist auch der Grund, warum ich mir eine weibliche Person ins Haus nehmen will. Ich brauch Wart und Pfleg. Die Brust. Und der Herr Pfarrer Baumbauer sagte mir, Sie könnten auch mit Kranken umgehen.

ANNA Das werden wir schon machen. Sie werden wieder gesund. Passen Sie auf.

SCHLITTMEIER Und wann, wann könnten Sie eintreten bei mir?

ANNA Immer. Zu jeder Zeit. Wann Sie wolln. Morgen.

SCHLITTMEIER Sagen wir, übermorgen. Ich muß doch auch Ihre Stube herrichten lassen. Eine kleine Kammer ists bloß.

ANNA Das langt für mich. War noch schöner. Übermorgen komm ich also.

SCHLITTMEIER Ja. Weißgerbergraben 3, dritten Stock.

ANNA Weißgerbergraben 3.

SCHLITTMEIER Dritten Stock.

ANNA Wir werden schon gut auskommen miteinander. Mit Gottes Hilfe.

SCHLITTMEIER Das mein ich auch.

ANNA Und wenn Sie Ihre Wart und Pflege haben, wirds auch wieder besser mit Ihrer Brust.

SCHLITTMEIER Mit Gottes Hilfe.

ANNA Fleißig beten ist die beste Medizin. Und gute Pflege.

SCHLITTMEIER Ja, ja.

ANNA Übermorgen früh, also.

SCHLITTMEIER Ja. Gibt ihr die Hand. Grüß Gott, Fräulein Wollnreuther.

ANNA Fräulein Anna. Sagens doch zu mir: Fräulein Anna. Sie werden doch nicht zu mir Fräulein Wollnreuther sagen.

SCHLITTMEIER Grüß Gott, Fräulein Anna.

ANNA Grüß Gott, Herr Schlittmeier. Sie bringt ihn zur Tür, er geht. Ruft ihm nach: Obacht! Gleich rechts ist eine Stufe! Schließt die Tür, geht einmal durchs Zimmer. Da hört man Hammerschläge von draußen. Anna bleibt vorgebeugt und wie erstarrt stehen. Die Schläge setzen aus. Teuflische Leut! Die schlagen jetzt den Haken ein! Die schlagen jetzt den Haken ein! Noch ein paar Schläge und dann ist Ruhe. Sie setzt sich auf den letzten Stuhl, vor sich den Korb voll Geschirr, auf den sie besitzergreifend die Füße aufstellt. Sie legt die Hände ineinander, auf den Schoß. Teuflische, arg teuflische Leut!

Es fällt der

Vorhang.

Der Provinzler

Erster Akt einer Komödie
[1927]

Personen

MARTELL • MARTHA • KITTLER

Zimmer, mit einer großen Glastüre in den Garten.

MARTELL sieht in das Regennasse hinaus: Das ist ein Entenwetter. Das ist ein Wetter für Enten, aber nicht für Menschen. Das ist ein Wetter für Geschöpfe, die Schwimmhäute zwischen den Zehen haben und einen geölten Körper. Fischen vielleicht behagt dieses Wetter und auch Frösche und Kröten werden nicht unzufrieden sein. Er dreht sich um. Aber ich gehöre nicht zu den Geschuppten, und eine Wasserschlange bin ich auch nicht. Ein Hecht zwar im Karpfenteich möcht ich sein. Da schwimmen die dicken Karpfen mit den dicken Augen in den dicken Köpfen, und da ist ein Wasserstrauch, so eine Weide vielleicht, oder Schilf, was im Wind Bewegliches, und darunter schießt man wie ein Unterseeboot hervor und beißt, was breitflossig watschelt. Er setzt sich rittlings auf einen Stuhl. Durch die große Glastüre sieht man den Regen unablässig rinnen, hört ihn unablässig tropfen. Ich bin der Sonntagnachmittagshecht. Der Sonntagsreiter unter den Raubfischen. Niemand in meine Nähe, ich verschlinge ihn! Warum kreischt das Luder? Wieder sieht er durch die Tür. Fest! Drauf, mit dem gelben Schnabel in die weißen Federn! Die Entenschlacht! Die Federn fliegen! Der Ziegenbock schreit Mäh! Hurrah, das Leben regt sich unterm Regen! Jetzt kriechen die Schnecken unter den Hecken hervor. Ja, wenn ich Schwimmhäute hätte! Er geht ins Zimmer zurück. Regen, Regen! Das trommelt! Trommtrommtromm, trommtrommtromm, das hört nimmer auf!

KITTLER sein Schwiegervater, tritt ein.

MARTELL Trommtrommtromm, trommtrommtromm, ich glaube, es regnet.

KITTLER Weißt du, der braune Enterich, der große, der mit der krummen Schwanzfeder, du weißt doch, der braune, du weißt doch ...

MARTELL Der Fürst, der Sultan, der Pascha, ja.

KITTLER Der ist vorhin entlang der Gartenhecke marschiert, wie ein General, Schritt vor Schritt, daß das Regenwasser spritzte, geradeaus, ohne zu wanken, den Kopf hoch. Die andern haben ihm zugesehen und haben Respekt vor ihm gekriegt. Ich habe auch Respekt vor ihm gekriegt. Wie ein General, geradeaus! Nur die Schwanzfeder war krumm.

MARTELL Und das will was heißen, bei diesem Wetter, daß die Schwanzfeder krumm bleibt, nicht nachschleift wie ein nasser Katzenschweif

KITTLER Das ist ein Kerl, dieser Enterich, Donnerwetter!

MARTELL Die Häuser alle, in der Stadt, stehen noch?

KITTLER Alle. War ein Erdbeben? Ein Wirbelsturm? Alle Häuser unter allen Dächern stehen.

MARTELL Und glaubst du, beim Dom, das kleine Haus, das winzige, das Schneckenhäuslein, glaubst du nicht, daß es jetzt gerade über den Platz kriecht, quer über den Domplatz, der Schneck, und eine graue Schleimspur hinterher?

KITTLER Nein, nein, da draußen steht der Dom und alle Häuser stehen und auch das kleine.

MARTELL Der Regen hat nichts fortgeschwemmt, denkst du? Vielleicht hat er die Remigiuskapelle unterwaschen, ein großes Lehmloch gegraben, und das Gotteshäuschen ist hinein- und hinuntergerutscht! Glaubst du, daß der Regen gar nichts verändert hat draußen?

KITTLER Die Donau steigt, aber die Steinerne Brücke nimmt sie nicht mit. Die steht seit achthundert Jahren, und Heinrich der Löwe hat sie in einem trockenen Sommer gebaut.

MARTELL Geh! In einem trockenen Sommer.

KITTLER Die Donau hatte damals so wenig Nasses, daß man durchwaten konnte. Und das Wasser stieg einem nicht höher als bis an die Knie, nur bis an die Knie.

MARTELL Geh! Nur bis an die Knie.

KITTLER Heinrich der Löwe hat die Brücke gebaut, und sie wurde wie ein Weltwunder angestaunt.

MARTELL Ja, die Brücke, die ist schon tüchtig, die hält. Aber schau dir den Regen an, horch, diese Trommelei, du mußt mir zugeben, daß dieser Regen irgendwas in der Stadt verändern muß.

KITTLER Nein, nein.

MARTELL So schaut die Stadt also jetzt aus: Viele Dächer und von allen Dächern tropft der Regen. Viele Fenster und durch alle Fenster schauen die Menschen in den Regen. Viele Straßen und in allen Straßen schäumt der Regen gelb an den Randsteinen entlang. Und aus allen Fenstern schauen Männer, Frauen und Jungfrauen zu, wie der Regen gelb an den Randsteinen entlang schäumt. Und vor der Stadt sind die Wiesen und durch die Wiesen schwimmt die Donau und über die Donau setzt eine Fähre, und der Fährmann hat eine Kapuze über den Kopf gezogen. Stimmts?

KITTLER Genau.

MARTELL Was machen die Enten?

KITTLER an der Glastüre: Die sind vergnügt. Schau, wie vergnügt die sind!

MARTELL Und die Ziegen?

KITTLER Die ärgern sich im Stall.

MARTELL Wie lang wollt ihr die Milchziegen noch behalten? Du kriegst das weiße Zeug in jedem Laden zu kaufen. Selber melken, das lohnt sich doch jetzt gar nicht mehr.

KITTLER Aber die Ziegen, die haben wir nun einmal. Wohin damit? Weißt du, wohin damit?

MARTELL Da gibt es doch Möglichkeiten.

KITTLER Ich kann die drei Tiere doch nicht auf die Straße jagen. Sie würden verhungern. Zwar, am Marienplatz wächst ein wenig Gras, aber zu wenig.

MARTELL Kopf ab!

KITTLER Du meinst doch nicht? Nein, das kannst du mir doch nicht raten! Die weiße hat die schönsten blauen Augen. Wie ein blonder Jud.

MARTELL Ja, und die schwarze hat ein Euter ...

KITTLER Wie ein Globus. Vielleicht sterben sie. Es gibt so Ziegenkrankheiten. Magengeschwür zum Beispiel.

MARTELL Wenn sie Greisinnen sein werden, die drei, dann ...

KITTLER Was ist da viel herumzureden? Geh in den Stall hinaus und schau den Tieren ins Auge! Ich kann doch nicht, wie Napoleon über Deutschland oder Dschingis-Khan über Persien, über den warmen Stall herfallen, die Türen aufbrechen und das Mördermesser schwingen. Was mutest du mir zu? Aber du tust ja auch nur so. Du könntest es ja auch nicht. Oh, wie es im Stall riecht! Eine Wiese im Hochsommer, besonders eine Wiese am Waldrand im Hochsommer riecht auch gut. Aber nichts gegen den warmen Geruch im Stall. Nichts dagegen!

MARTELL Verflucht noch einmal! Im Winter ists kalt und du ziehst auch gerne Handschuhe an. Sechs Paar Handschuhe kannst du dir machen lassen aus den drei Ziegenhäuten. Und Handschuhknöpfe aus den Knochen. Aber so seid ihr. Wenns nach dir ginge, würden die Ziegen noch an den Stallwänden knabbern, wenn so viele Jahre um sein werden, als um sind, seit Heinrich der Löwe die Steinerne Brücke gebaut hat.

KITTLER Ach, du Mörder!

MARTELL Laß einen Metzger kommen, du Dschingis-Khan.

KITTLER Ich schreibe Erzählungen für Kinderzeitschriften. Im »Raffael« veröffentlichte ich vorige Woche ein Ziegenmärchen. Das ist so: Der Ziegenkönig, ein uralter, eisgrauer Bock mit großen, krummen Hörnern ...

MARTELL Verfluchte Stadt, o verfluchte tote Stadt! Über die Steinerne Brücke reitet Heinrich der Löwe auf einem Schimmel, der Stockflecken hat. Und auf der Spitze seines Szepters sitzt die Urgroßmutterspinne. In den Friedhöfen liegen mehr Menschen als auf den Straßen herumlaufen, und die auf den Straßen herumlaufen, haben die Verbindung mit denen unter der Erde noch nicht aufgegeben. Man sollte der Stadtverwaltung vorschlagen, Heinrich den Löwen zum Bürgermeister zu wählen.

KlTTLER Mit deinen dummen Witzen.

MARTELL Der nimmt seine Urgroßmutterspinne und läßt sie über einen weißen Bogen Papier laufen. Die Beine der alten Spinne hat man vorher mit Tinte beschmiert. Und was die Spinne auf dem weißen Papier schreibt, das soll man ausführen. So regiert der Oberbürgermeister Heinrich der Löwe.

KlTTLER Was hast du nur gegen Heinrich den Löwen? Der hat in einem trockenen Sommer, klug wie er war, die Steinerne Brücke gebaut.

MARTELL Ja, leider. Hätt ers nicht getan, wären die Menschen gezwungen, über die Donau zu fliegen, und der Dom sähe noch anderes in der Luft sich bewegen als Dohlen und Spatzen.

KlTTLER Heinrich der Löwe ...

MARTELL Ach, Löwen und Tiger! Reden wir von Ziegen, von drei Ziegen und einem Ziegenstall.

KlTTLER Damals, vor drei Jahren, da warst du froh um die Ziegenmilch. Und jetzt hast du einen unnatürlichen Haß gegen die unschuldigen Tiere.

MARTELL Damals, vor drei Jahren, hatte ich auch eine graue Hose mit so grünlichen Streifen. Erinnerst du dich dran? Sie war nicht besonders glänzend geschnitten, die Hose, und an den Knien hatte sie Beutel wie die Ziegeneuter draußen im Stall. Damals war ich froh um die Hose. Aber wie herrlich war es, als ich sie wegschmiß!

KlTTLER Du bist so radikal.

MARTELL Mit dem Papiermesser könnte ich deinen Ziegen an den Hals gehen! Ein Blutbad möcht ich unter ihnen anrichten, wie vor Verdun oder an der Somme. Ich kann das Krähen dieser Bestien nicht mehr anhören.

KITTLER Sie krähen nicht, sie meckern.

MARTELL Ich kann das Meckern nicht mehr hören. Und ich kanns nicht mehr sehen, wenn sie so blöd im Hof herumstolpern, als hätten sie fünf Beine. Jag sie hinaus über die Steinerne Brücke, da fängt sie irgendein Flaschensammler und brät sich einen Osterbraten.

KITTLER Schrecklich!

MARTELL Laß mich hinaus zu ihnen! Wie hat es Simson gemacht? Oder wars Herkules? Ich will Ihnen mit der Hand ins Maul fahren und ihnen die Kinnbacken zerbrechen.

KITTLER Um Gotteswillen! Weicht zur Tür zurück. Bleib im Zimmer! Ich würde sie bis aufs äußerste verteidigen.

MARTELL Das wär ein Vergnügen, sie von der Domspitze aus aufs Pflaster zu werfen.

KITTLER Rühr sie nicht an, ich bitte dich!

MARTELL Mit dem Pfeil, dem Bogen, auf zur Ziegenjagd!

KITTLER Hände hoch: Nein.

MARTHA Martells Frau, tritt ein: Das Jagdlied erschallt. Wer jagt?

KITTLER Wer sonst, als dein Mann. Aber er ist hier nicht im Schützengraben, wo die Kugeln knallen. Ich schaue jetzt nach den Ziegen. Du darfst sie mir nie mehr futtern. Du würdest ihnen Stecknadeln und Schuhnägel in die Speise mischen. Ab.

MARTHA Wolltest du Vaters Ziegen wehe tun?

MARTELL Wenn sie grad hier schön in einer Reihe auf dem Tisch stünden, aus Porzellan oder aus Ton oder aus Steingut, würde ich sie gern mit einem Wischer auf den Boden befördern, daß sie wunderschön zerscherben würden, wie der Teller hier. Wirft den Teller zu Boden.

MARTHA Was haben dir die Ziegen getan?

MARTELL Nichts. Aber Heinrich der Löwe ist schon siebenhundert Jahre tot. Den kann ich nicht mit Handgranaten bewerfen. Aber die Ziegen würden einem guten Messerstich nicht widerstehen.

MARTHA Du hast eine friedliche Sonntagsnachmittagsstimmung.

MARTELL Es ist auch meine Montag-, Dienstag- und Mittwochstimmung.

MARTHA Greulicher Mensch..!

MARTELL Ich wünschte, daß ein Hochwasser die Brücke Heinrichs des Löwen wegschwemmte. Dann müßten sie eine neue bauen.

MARTHA Ob die schöner sein würde?

MARTELL Schöner oder nicht, jedenfalls anders.

MARTHA setzt sich. Pause. Dann schlägt sie, aufrecht sitzenbleibend, die Hände vors Gesicht.

Editionsnotiz

für die Prosabände 7 bis 16.

Als Druckvorlage diente diesen Bänden die Ausgabe »Georg Britting - Gesamtausgabe in Einzelbänden« der Nymphenburger Verlagshandlung, München.

Zu den Bänden 13, 14 und 16:

Diese Bände enthalten die Beiträge des Bandes „Anfang und Ende“ der zuvor genannten Ausgabe, der nach dem Tod von Britting im Jahr 1964 erschien und folgende Nachbemerkung enthält: Mit diesem Band ist die Gesamtausgabe der Werke Brittings abgeschlossen.

Sechs Bände sind vom Dichter in den Jahren 1957 bis 1961 noch selbst redigiert worden, sozusagen als Ausgabe letzter Hand. 1965 erschienen und dem Titel »Der unverstörte Kalender« [Band 6 unserer Ausgabe] zunächst die Gedichte aus dem Nachlaß. Nunmehr wird der erzählerische und dramatische Nachlaß Brittings in Buchform zusammengefaßt. Wie schon der letzte Gedichtband, enthält er Werke aus allen Schaffensperioden: zunächst Erzählungen, sodann Bilder, Skizzen und Feuilletons, [unser Band 13], die Britting bisher in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hatte, das Fragment eines größeren erzählerischen Werkes aus der Spätzeit, »Eglseder« [unser Band 16] und schließlich fünf dramatische Arbeiten aus den zwanziger Jahren [unser Band14]. Das dichterische Werk Georg Brittings liegt damit, abgesehen von einigen wenigen peripheren Arbeiten, in acht Bänden vollständig vor.

Ausführlichere Informationen unter: www.britting.de

Impressum

Band 14
Hrsg. von Ingeborg Schuldt-Britting

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Informationen über den Dichter und sein Werk in www.britting.de.

Alle Rechte vorbehalten
© 2012 Georg-Britting-Stiftung
83101 Höhenmoos
Wendelsteinstraße 3
Satz u. Layout: Hans-Joachim Schuldt
Made in Germany
Gedruckte Taschenbuchausgabe:
ISBN 978-3-9812360-0-2 (Sämtliche Werke - Prosa)
ISBN 978-3-9812254-8-8 (Dramen)

Georg Britting
Sämtliche Werke in 23 Bänden

 1 Der irdische Tag

 2 Rabe, Roß und Hahn

 3 Die Begegnung

 4 Lob des Weines

 5 Unter hohen Bäumen

 6 Der unverstörte Kalender

 7 Die Windhunde

 8 Das treue Eheweib

 9 Das gerettete Bild

10 Das Liebespaar und die Greisin

11 Der Schneckenweg

12 Die bestohlenen Äbte

13 Anfang und Ende

14 Dramatisches

15 Der Hamlet Roman

16 Eglseder - Ein Fragment

17 Regensburger Bilderbögen

18 Italienische Impressionen

19 Theaterkritiken

20 Briefe an Georg Jung

21 Briefe an Alex Wetzlar

22 Nachlese Gedichte

23 Nachlese Prosa

Kommentare und Anmerkungen zu den einzelnen Bänden und zu Werkgeschichte und Biographien, sowie ca. 800 Buchseiten »Rezensionen, Interpretationen und Sekundärliteratur«, erhalten Sie online unter www.britting.de.