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Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Band 3-2  Seite 86
Kommentar Seite 467

Aus: »Das treue Eheweib«



 
Das Waldhorn
 


1

Der Abstieg durch das Kar war sehr mühevoll, besonders wenn man was zu tragen hatte, und die beiden Männer hatten was zu tragen, und so hatten sie nicht Zeit und Lust, viel um sich zu schauen. Sie sahen zu Boden, auf den steinigen Pfad, daß sie die Schritte recht setzten, nur der Mann, der hinter ihnen ging und nichts zu tragen hatte, der sah manchmal hinüber zu dem grauen Dunst über dem fernen Wald. Das Kar lag weiß und heiß in der Nachmittagssonne, die Luft zitterte von der Glut, und die Träger setzten ihre Last von Zeit zu Zeit ab, um sich den Schweiß von den braunen Stirnen zu wischen. Dann blieb auch der Mann hinter den Trägern stehen, ging sogar, wenn er sah, daß jene Miene machten, die Last niederzustellen, ein paar Schritte zurück, um ihr nicht so nahe zu sein.
 Weiter ging es talwärts, einzelne Legföhren streiften schon die Beine der Träger, schlugen mutwillig nach ihnen, schlugen nach der Last, und auf dem grünen Plan, den sie nun schon erreicht hatten, stand ein Rudel kleiner Tannen um einen mächtigen schirmenden Baum. Hier, bei den Tannen, blieb Anton, der Mann hinter den Trägern, stehen und sagte den Leuten, daß es nun ja nicht mehr weit sei zur Drexelalm, wo das Maultierfuhrwerk warte: Er aber, Anton, wolle von hier aus den Weg über die Loserer Hänge nehmen, wie ihm das sein Dienstweg vorschreibe. Die Männer nickten nur, brummten einen Gruß, trugen ihre Last, gingen ihren Weg und waren bald hinter, einem grünen Buckel verschwunden.
 Anton setzte sich zu Füßen der mächtigen Schirmtanne. Dort vor ihm war der Rieglekopf, aus dem wie aus einer blutenden Wunde, die nimmer heilt, Geröll niederfloß, und dort, östlich davon, war das Stück begrasten Bodens an der Bschöllwand, wo vor zwei Stunden noch der tote Mann gelegen hatte, den jetzt das Maultier zu Tal zog. Dort hatte der Mann gelegen, aber er hatte sich nicht freiwillig hingelegt, mit dem Rücken im Gras, um in den Himmel zu schauen, wie das müde Bergsteiger tun. Als ihn die vielen Männer umstanden, hatte er auf dem Bauch gelegen, das Gesicht ins kurze Gras gedrückt, als behorche er die Erde, und ob ihm die wohl Antwort gab, das wußte niemand. Der Arzt hatte ihn umgedreht, auf den Rücken gedreht, da hatte der tote Mann mit weitaufgerissenen Augen in die Sonne geblickt, wie das nur Tote können. Es war, als hätte der Tote eine große Neugier gehabt, zuerst die Erde zu behorchen und dann dem großen Licht einmal mitten ins Geheimnis zu schauen. Den Halsschuß festzustellen, war dem Arzt leicht gefallen, einen tadellosen, sauberen Halsschuß, ein tüchtiger Schütze, der ihm den beigebracht hatte.
 Anton, der Mann unter dem Baum, stand auf und machte sich auf den Weg zum Abstieg über die Loserer Hänge. Bald nahm ihn der dunkle Wald auf, der ihn kühl umhauchte, großfächeriges Farnkraut breitete geheimnisvoll und feierlich sich. Eine Strecke lang sickerte mitten im steinigen Weg ein dünnes Rinnsal, breitete sich zwischen den bemoosten Steinen zu kleinen, schwarzen Tümpeln, der Weg wurde so feucht und schlammig, daß Anton ihn verließ, pfadlos neben dem Weg durch den Wald ging.
 Der Weg trat aus dem Wald in das Tal hinaus, er wurde breit und ordentlich, wie sich das gehört für einen Talweg, lief weiß und staubig zwischen Wiesen dahin. Auch die kleinen Wasserläufe der Loserer Hänge hatten sich zu einem Bach zusammengetan, der in einem viel zu breiten Bett floß, jetzt, im Sommer, viel zu breit, im Herbst und Frühling wollte ihm das Bett wohl manchmal zu schmal sein, und beide, Bach und Weg, liefen zu dem Dorf, zu dem auch Anton ging. Bach und Weg liefen weiter, durch das Dorf hindurch, liefen zu anderen Dörfern, liefen weit, vereinigten sich mit anderen Wegen und Wassern, liefen immerzu. Anton blieb.
 Das Forsthaus, nicht allzu groß, in das Anton eintrat, lag neben Pfarrhaus und Kirche, und wenn er aus seiner Stube im ersten Stock durchs Fenster auf den Friedhof sah, schien ihm angesichts der vielen Grabsteine und Holzkreuze, es müsse wohl mehr tote Rossöder geben als lebendige.
 Als Anton sich wieder erhob am Morgen nach diesem Tag, gut ausgeruht und mit frischem Kopf, und schon Sonne war in seinem Zimmer, wusch er sich lange und sorgfältig. Es klopfte, es kam die Magd mit dem Morgenkaffee, und Anton, nun schon fertig angezogen, setzte sich zum Frühstück, den Rücken gegen das Fenster, das noch von der Nacht her offenstand. Er aß sein Morgenmahl, aß und trank langsam und bedächtig, aber einmal, und wenn die Pausen noch so lang sind zwischen den Bissen, geht jedes Mahl zu Ende. Auch nach beendetem Mahl noch blieb Anton sitzen. Es wär wohl jetzt an der Zeit gewesen, seinem Dienst nachzugehen, aber er ging nicht, Anton, der Mann, tat nun Magddienst, schüttelte sein Bett auf, strich das Leinen glatt, legte die Polster zurecht, machte sich an seinem Schrank zu schaffen, zog Schubladen auf und zu, aber er ging nicht, er blieb im Zimmer, und es war doch Wochentag und nicht Sonntag, und durch das offene Fenster hinaus warf er keinen Blick.
 So sah er nicht, was draußen war, Himmel und Wald und Feld, und den Friedhof von einer niederen Steinmauer umgeben, und sah nicht, wie sich vorm Friedhof viele Menschen sammelten, Männer und Weiber, die Männer in den schwarzen Anzügen, die sie tragen bei besonderen Anlässen, bei freudigen und bei traurigen, immer ist das Kleid schwarz der schwerfälligen Männer. Er sah nicht, daß Fahnen wehten, umflort, daß die gelben Helme blitzten der Feuerwehrleute, und Federn schwankten auf den grünen Hüten der Schützen. Und daß sich ein Zug bildete, sah er nicht, aber jetzt hörte er, Anton in der Stube, den Klang der Kirchenglocke. Die gleiche Glocke auch läutet bei freudigen Anlässen wie bei traurigen, wie die Männer den schwarzen Anzug tragen in Freude und Trauer, aber wie die Glocke jetzt anschlug, das war Trauer, in kurzen, klagenden Tönen, und beim ersten Schlag war Anton in seiner Stube in die Ecke beim Kleiderschrank zurückgewichen, aber jeder Glockenton drang auch dorthin. Das Läuten hörte auf, es war seltsam still nun, und durch die Stille kamen andere Töne, langgezogen und einförmig, eine tiefe Stimme sang und helle Knabenstimmen antworteten, und die Stimmen lockten Anton zum Fenster. Er stellte sich so, daß er von unten nicht gesehen werden konnte, er hatte wohl Grund zur Annahme, daß manche von unten jetzt hierher zu dem Fenster sehen würden, statt zum Sarg hin, der vorm offenen Grab stand, weihrauchumwölkt. Anton erblickte den Sarg, den Priester im weißen Gewand, die Meßknaben, sah die Weinenden um den Sarg, und so viele Menschen um das Grab, daß der kleine Friedhof sie kaum faßte. Und als jetzt der Sarg in die dunkle Tiefe sank, hörte er das Schluchzen der Trauernden, deren Schmerz aufwallte beim ewigen Abschied. Nun traten Männer vor das Grab, die Kränze hielten und in das Grab hineinredeten, und was sie sagten, konnte Anton nicht verstehen. Ein Mann im gelben Helm sprach, und einer in der Schützentracht, und dann sank alles in die Knie und antwortete dumpfbrausend im Chor den Gebeten des Priesters. Dann warf ein Mann drei Schaufeln Erde in das offene Grab und eine Frau dann, und andere folgten, Männer und Frauen, und auch Kinder waren dabei, und taten ebenso, denen die Mütter die kleine Hand lenkten. Die da schaufelten, nahmen kein Ende, so schien es Anton, und obwohl einzelne schon wieder dem Friedhofstor zugingen, war der trauernde Haufe nicht kleiner geworden, es waren ja nicht nur die Rossöder gekommen zur Beerdigung, aus den Dörfern und Weilern der Umgebung waren sie gekommen, viele und viele.
Immer sind die Berge da, und der unendliche Himmel darüber und der Wald auf den Bergen und das Gras in den Tälern und die Dörfer an den Hängen, nur die Jahreszeiten kommen und gehen, und der Frühling ist die kürzeste in den Bergen und geht rasch in den Sommer über, in den kurzen, wildaufflammenden Bergsommer, und dann ist bald der klare Herbst da, und am längsten währt der Winter. Auch Menschen sind immer da in den Tälern und auf den Bergen, aber man kann sie vermeiden, man kann ihnen aus dem Wege gehen, die Menschen braucht man nicht. Der Jäger Anton lief auf alle Berge, tagaus und tagein, strich über alle Hänge hin, kroch in Höhlen und ging die Sturzbäche entlang abwärts, stieg über manches joch und rastete in vielen Kars, bei Tag und bei Nacht, im Abendschatten und in der Morgenröte. Menschen traf er selten auf seinen Gängen, und es ist wahr, manche rückten freundlich den Hut, wenn sie ihn sahen, Holzfäller im grünen Wald und Almer auf den Bergwiesen, und er dankte ihnen freundlich und sprach ein kurzes Wort mit ihnen und lachte auch, aber wohler war ihm, wenn er allein durchs Geröll aufstieg und die Murmeltiere warnend pfiffen vor ihm. Auch im Dorf, das ist wahr, waren Menschen, Männer und Frauen, die ihn unbefangen ansahen und eine Rede mit ihm tauschten. Aber da waren auch andere, die sahen weg, wenn er daher kam, und machten sich mit irgend etwas zu schaffen, oder sahen angestrengt zum Himmel auf, wenn er an ihnen vorbeiging. Anfangs hatte er dann auch zum Himmel geschaut, ob da ein Raubvogel kreise vielleicht, aber da war nichts zu sehen, wußte er bald.
 Ja, Xaver war ein munterer Sänger gewesen, jetzt sang er nicht mehr, war ein guter Tänzer gewesen, jetzt tanzte er nicht mehr. Die Mädchen hatten freundlich nach ihm geschaut, und die Frauen auch, und die Männer sogar auch, und war keiner gewesen, der ihn nicht gern gemocht hätte, Anton nicht ausgenommen. Aber konnte einer singen mit einer Kugel im Hals? Anton hatte ihm die Kugel auch nicht in den Hals geschickt, um ihn am Singen zu hindern. Der Sänger, als er ihn traf, neben der Steinwand, hatte er nicht gesungen. Er war erschrocken, der Jäger Anton, und den er gern sah in der Wirtsstube, hier sah er ihn nicht gern, der einen Stutzen trug - wozu? Der seinen Stutzen hob, der Sänger, gegen den anderen Mann, warum? Der den schwarzen Lauf richtete gegen den Ankömmling, unvermutet aus der Waldschlucht. Anton hatte nicht gewartet, bis der Sänger schoß, hatte zuerst geschossen, war schneller gewesen als der Sänger und hatte in den Singehals geschossen den Sänger, und der war tot umgefallen, ehe er losdrücken konnte.
 Nun, er hatte ein männliches Herz, der Jäger Anton, und es ließ sich wohl auch ertragen, daß es Leute gab, die in den Himmel sahen, um ihm nicht ins wohlgebildete Gesicht sehen zu müssen, es war wohl zu dulden, daß im Wirtshaus, wenn er es betrat, manche Gäste eben mit ihrem Bier fertig geworden waren und gingen. Er hatte sich auch daran gewöhnt, daß er, aus seinem Fenster auf den Friedhof blickend, das schöne und große Grabmal vor Augen hatte, das dem toten Sänger gesetzt worden war. Es war ein großmächtiges Steinkreuz und ein eisernes, schön gearbeitetes Gitter war um das Kreuz, und im Sommer blühten rote und gelbe Blumen dort. Es war vielleicht keine böse Absicht gewesen, Xavers Grabkreuz gerade gegenüber dem Fenster Antons aufzurichten, er übersah ja sowieso von seinem Fenster aus den ganzen Friedhof, aber es wäre immerhin möglich gewesen, eine Grabstelle zu finden, daß er, wenn er aus dem Fenster sah, den Kopf hätte drehen müssen, nach links oder rechts, um sie zu erblicken, jetzt mußte er nach links oder rechts den Kopf drehen, um sie nicht zu sehen. Der Förster, sein Vorgesetzter, hatte ihm einmal vorsichtig angedeutet, daß er auch ein anderes Zimmer haben könne, ein Zimmer nach vornheraus, auf die Straße heraus. Aber Anton hatte abgelehnt, und der wohlmeinende Mann war nicht mehr auf seinen Vorschlag zurückgekommen.
 Er hatte ein männliches Herz, Anton, der Jäger, und warum sollte er nicht das Grab vor Augen haben, in dem der von ihm Erschossene lag? Er hatte nichts Unrechtes getan, er hatte Schweres getan, aber es ist ja nur rühmlich, Schweres zu tun, und dazu zu stehen. Und er hatte einen Brief vom hohen Amt, in dem ihm ausdrücklich die Anerkennung für sein pflichtgetreues Verhalten ausgesprochen worden war.
 Er hatte ein männliches Herz, Anton, der Jäger, das machte sich nichts daraus, daß Leute, die ihm begegneten, den hohen, blauen Himmel anschauten, oder wenn es sich was daraus machte, so trug es die Mißachtung mit Würde und Stolz und Trotz, und den Kopf hob Anton dann nur immer höher. Einmal aber senkte er bei einer Begegnung den Kopf tief, und sein männliches Herz schlug hart und laut und fast anklägerisch, und das war an einem schönen Maimorgen.
 An einem schönen Maimorgen kam er von einem Dienstgang den Lufflattlweg herabgestiegen. Er war schon seit der ersten Frühe auf den Beinen gewesen, er hatte sich des schönen Wegs gefreut, der Wald war jung, ja, der alte, urgraue, bärtige Wald, der düstere, er war wieder jung geworden, wie das die Menschen nicht können, die einmal alt sind, der Wald konnte das, er war wieder jung und roch freudig und frech, schwenkte die jungen Triebe, das Gesträuch zu Füßen der Stämme war gelbgrün und zart und lusterregt, blau blitzte der Himmel zwischen den Wipfeln. Nun mündete der Lufflattlweg in ein Wiesental, die Hänge zu beiden Seiten waren von lichtem Jungwald bestanden, auf einem abgeholzten Platz wucherten Brombeersträucher, gelber Löwenzahn war schon aufgeblüht, und die Luft war grünkühl. Er kam bis zum Martinskreuz, da stieg aus einem Stück Buchenwald zur linken Hand ein Weg herab, von Frommsreuth herab, und den Weg daher kam eine Frau, eine noch junge Frau in bäuerlicher Tracht, und die Frau erkannte ihn sofort, und blieben beide stehen.
 Man hatte früher in Rossöd gemunkelt, daß der Jäger Anton der Maria schöne Augen gemacht hatte, aber wenn das wahr war, dabei war es auch geblieben, zu mehr war es nicht gekommen, und dann war es ja auch ganz und gar unmöglich geworden, daß je mehr daraus werden sollte, und Maria hatte einen Dienst in Frommsreuth angetreten. Anton hatte sie seit drei Vierteljahren nicht mehr gesehen, und daß sie heut im Sonntagsstaat an einem Werktag des Wegs kam, war nicht so verwunderlich, vielleicht ging sie zu einer Hochzeit oder einer Taufe oder einem Begräbnis.
 Sie blieben beide stehen, er spürte eine Kälte im Gesicht, er war bleich geworden. Fürchtete er, daß sie zum blauen Himmel aufsehen würde, um einen unsichtbaren Raubvogel zu betrachten? Sie blickte nicht zum blauen Himmel auf, sie sah ihm voll ins Gesicht. Wie sah sie dem Xaver ähnlich, ihrem Bruder!
 Sie sah ihm voll ins Gesicht, Maria, Xavers Schwester, seit der einzige Bruder tot war, ganz allein auf der Welt, Dienstmagd in Frommsreuth. Nun stand sie vor dem Mann, der ihr den Bruder hatte nehmen müssen, der ihr früher einmal schöne Augen gemacht hatte, niemand wußte, wie ihr das getan hatte, auch er nicht, Anton, der Jäger. Wenn ihr es gefallen hatte, sein Blickegirren, und wenn sie Hoffnungen darauf gesetzt und geglaubt hatte, daß es bei den schönen Augen nicht bleiben würde, der Schuß an der Bschöllwand hatte dem allen ein Ende gemacht.
 Man spricht oft von großer Liebe, die alles überwindet, aber so groß war ihrer beider Liebe wohl nicht. Es soll Zeiten gegeben haben und Länder und soll sie noch geben, wo der Mann, der den Bruder niederschießt, die Schwester heiraten muß, um wieder gutzumachen. Aber ein solches Land war hier nicht, und Anton, der Jäger, hatte ja auch nichts gutzumachen, kurz, derartiges kam ihnen gar nicht in den Sinn, und es war schon sehr viel, daß sie nicht zum blauen Himmel aufschaute nach einem Bussard oder einem Falken oder auch nur nach der Krähe auf der Tanne dort, daß sie ihm voll ins Gesicht sah und dann den Mund auftat nicht zu einem unguten Wort, daß sie » Grüß Gott, Anton«, sagte und nicht erstaunt war, daß er den Gruß nicht erwiderte, und dann weiterging. Er sah sich nicht um, als sie ging, sah ihr nicht nach, blieb stehen beim Martinskreuz, lange.
 Blieb stehen beim Martinskreuz, lange, sah dem steinernen Mann am Kreuz ins Gesicht, wandte sich dann um, sie war entschwunden, ein leiser Wind war im hellgrünen Buchenwald, er lauschte nicht dem Wind, lauschte noch den drei Worten, die die Magd gesprochen hatte, und ging seinen Weg weiter.
 Anton lebte sein Leben gehend, gehend in Hitze und Kälte, in Frühlingsstürmen und in herbstlichen Regengüssen, er ging nicht, um ein Ziel zu erreichen, er ging seinen Weg, das war sein vorgeschriebener Dienstweg zwar, aber er ging ihn gerne, er lebte nur, wenn er ging. In der Stube schlief er und aß er und rastete er, aber es hielt ihn nichts in der Stube. Es gab keine Frau, die gewartet hätte in der Stube, bis er herabgestiegen kam von den Bergen, und so machte er oft noch einen Umweg, ehe er nach Rossöd einbog, er verharrte auf einer Waldblöße, er stand vor einem Ameisenhaufen, sah die schwarzen Tiere wimmeln, hielt sein Gesicht über den Bau, roch die Ameisensäure, betäubend.
 Der Förster, der ihm schon einmal eine andere Stube anbot im Haus, hatte ihm auch von einer Versetzung gesprochen, aber Anton hatte abgelehnt, gebeten sogar, ihm seine Stelle hier zu lassen. Der Förster hatte das begriffen. Anton, der Jäger, wollte nicht weichen von den Bergen-und Tälern hier, es hätte wie Flucht ausgesehen, hätte wohl gar als schlechtes Gewissen gedeutet werden können, und er hatte ein gutes Gewissen.
 An der Bschöllwand kam er manchmal vorbei, wo eine Tafel an den toten Sänger Xaver erinnerte, oft mit Blumen geschmückt. Es kam wohl niemand so häufig an die Bschöllwand und die kleine Tafel wie Anton, und wie der streifende Jäger aus freien Stücken, über seine Dienstpflicht hinaus, den Wegwart macht und den Pfleger seines Bezirks, eine neue Holzrinne an einer Quelle anbringt, eine Wegtafel, wacklig geworden, festnagelt, einen Stamm, den der Wind über den Weg geworfen hat, forträumt, so kam es auch vor, daß Anton von der Erinnerungstafel an den erschossenen Sänger Xaver einen trocken gewordenen Blumenstrauß nahm und einen frischen Fichtenzweig dafür schmückend anbrachte.
 Anton, der Jäger, stammte nicht von Rossöd, er war in einem anderen Teil des Gebirges aufgewachsen, hatte auch schon anderswo Dienst getan, und als er damals, vor vier Jahren, nach Rossöd versetzt worden war, war es ihm nicht in den Sinn gekommen, daß er nun für immer in Rossöd sollte bleiben. Erst seit dem Zweikampf an der Bschöllwand war es gekommen; daß ihm schien, nun sei hier seine Heimat, die er nie mehr wolle verlassen. Er würde es schon fertig bringen, daß man ihn nicht versetzte, er wollte hier bleiben, selbst wenn anderswo eine besser bezahlte Stellung für ihn frei würde, und wenn er Beförderungshungrigen freiwillig den Vorrang ließ, was sollte dagegen sprechen, ihn für immer hier zu belassen?
Als Anton heut am späten Nachmittag aus dem Wald herabgestiegen kam und Rossöd vor sich liegen sah, hemmte er den Schritt, als erschrecke ihn der wohlvertraute Anblick. Aber dann ging er mit verdoppelter Eile weiter, und erst als er die ersten Häuser des Orts erreicht hatte, ging er langsam, langsamer als sonst, sah nach links und sah nach rechts, bereit, feindseligen Blicken seine gleichmütigen entgegenzusetzen, aber das war nicht notwendig, denn der einzige Mensch, dem er begegnete, ein alter Bauer, grüßte freundlich und in Harmlosigkeit. Und daß ein paar Burschen, die auf der Bank vor dem Wirtshaus saßen, sich durch die Tür ins Haus schoben, als er herankam, konnte auch Zufall sein, und vielleicht hatten sie ihn gar nicht gesehen, und so war ihm fast, als habe das Dorf den Tag vergessen. Aber als er, in seinem Zimmer angekommen, eilig zum Fenster trat, wußte er gleich, daß dem nicht so war. Die Kreuze blitzten drunten, der Friedhof blühte und wucherte wie ein Garten, schwoll heftig und bunt von Blumen, strotzend waren die Pflanzen, die aus der Erde der Toten wuchsen. Und zu Füßen des steinernen Grabkreuzes des Sängers lagen Kränze, die gestern nicht dort gelegen waren: ein großer Kranz aus Fichtenzweigen, weiße und rote Papierrosen waren hineingeflochten, kleine Kränze aus Alpenblumen und ein schillernder Kranz aus gläsernen Perlen.
 Man hatte also wohl daran gedacht, daß auf den Tag genau heut vor einem Jahr der Schuß an der Bschöllwand gefallen war. Anton trat vom Fenster zurück, ging an ein kleines Wandschränkchen, holte sich Pfeife und Tabak heraus und stopfte die Pfeife und setzte sie vorsichtig in Brand und blies die ersten Rauchwolken ruhig von sich.
 Die Abendsonne schien voll in das Zimmer, daß die weißen, blanken Bodenbretter glänzten und unsäglich sauber aussahen. Anton freute sich über diese Sauberkeit, freute sich über die Ordnung, die er im Zimmer hielt, wo alles und jedes stets an dem Platz sich befand, an den es gehörte. Da hing sein Hut und sein Rucksack, da schimmerten die Gewehre, da war der hölzerne Hirschkopf mit dem braunen Geweih und den schwarzlackierten fröhlichen Augen, da war sein Waschtisch, die weiße Schüssel glänzte und der weiße Krug. Die Stube war getäfelt, mit hellem, ungestrichenem Holz, auch die Stubendecke war aus Holz, es war schön hier, spürte Anton, schön für die paar ruhigen Stunden, da er nicht ging und stieg und kletterte durch Fels und Geröll und Wald.
 Schön war der Friede hier, spürte er, und trat wieder zum Fenster. Dem großen Grabstein des fröhlichen toten Sängers hatten sich nicht nur die Kränze der Erinnerung gesellt, die Anton schon vorher bemerkt hatte. Das Grab hatte jetzt auch Besuch erhalten von einem Trupp von Burschen, von Freunden wohl des Sängers, die den ganzen Tag gearbeitet hatten, so daß sie unter Tags das Grab nicht hatten besuchen können und es nun des freien Abends nachholten, das galt dem Toten wohl ebensoviel wie ein Tagbesuch. Die Burschen waren nicht im Innern des Friedhofs, sie standen jenseits der niedrigen Mauer, von dort aus konnten sie das Grab gut genug sehen. Es war ein gutes Dutzend von Burschen, und einer von ihnen sprang jetzt auf die Mauer und sah zum Fenster hinauf, an dem Anton stand, und hielt die Hand vor die Augen, spähend, und beugte sich spähend weit vor, er tat das in einer übertriebenen Weise, er wollte den Burschen, die unter ihm standen, klarmachen, daß er nach jemand ausluge, und auch der Mann am Fenster sollte nicht daran zweifeln, daß nach ihm ausgespäht wurde.
 Der Mann am Fenster zweifelte nicht daran, sein Herz schlug einmal stark und mächtig an seine Brust, dann pochte es im gewöhnlichen Gang weiter. Der Mann auf der Mauer streckte den Arm aus zur Gruppe seiner Begleiter, mit einer weitausholenden Bewegung, übertrieben weit ausholend, er tat wie einer, der auf der Bühne steht und alles recht unterstreicht, daß nur kein Zweifel aufkommen kann, was seine Bewegungen zu bedeuten hätten. Einer aus der Gruppe reichte ihm einen in ein schwarzes Tuch gehüllten Gegenstand, und der Mann auf der Mauer öffnete langsam den schwarzen Sack, und nun blitzte es gelb in der Hand des Mannes, er hielt ein Waldhorn mit einer wilden Bewegung
hoch, und die Abendsonne spiegelte sich darin.
 Dann setzte er das blitzende Horn an den Mund und fing zu blasen an und blies ein wunderlich getragenes Lied. Anton wußte wohl, daß es des Toten Lieblingslied gewesen war, was jener blies, und der, der blies, der tat, als blies ers nicht dem Toten, als blies ers dem lebenden Anton. Er hielt die Augen während des Blasens unverwandt auf Anton gerichtet, als bringe er ihm ein Ständchen, und die Töne drangen über das geschmückte Grab hin und drangen herauf zu Anton, und was der Tote nicht mehr hörte, das hörte der Lebendige.
 Da blies er, der Freund, der Rächer, jetzt scholl es klar und rein her zu Anton, da blies er, die Augen zum offenen Fenster im Forsthaus gerichtet, und die Burschen sahen zu dem offenen Fenster, und an den Toten unten dachte jetzt keiner, alle dachten nur an den lebendigen Mann in der Stube.
 Da blies er, der Freund, der Rächer, das Waldhorn blinkte, die Töne kamen süß und schön, er blies gut, des toten Sängers Freund, und Anton dachte: er bläst wie die Posaunen des Gerichts! Das fiel ihm ein, Posaunen des Gerichts, wie er in der Schule vom Pfarrer gehört und es sich gemerkt hatte.
 Posaunen des Gerichts, dachte er, und ich bin doch unschuldig! Posaunen des gerechten Gerichts, dachte er, nur Engel dürfen diese Posaunen blasen, dachte er, Engel, im Auftrag eines, der sich nicht irrt, und woher hatte dieser den Auftrag? Und der Engel mit dem Flammenschwert fiel ihm ein, er brachte die Engel durcheinander, der Engel mit dem Flammenschwert, der Adam aus der Heimat gewiesen hatte. So blies ihn jetzt der aus dem Rossöder Tal hinaus und aus dem Frieden seiner Stube, der Mann mit dem flammenden Waldhorn, der böse Engel mit den schmetternden Tönen, der die Toten nicht wecken konnte aus dem Schlaf, aber den Rossödern die Erinnerung weckte. Und wie er jetzt blies, so würde er noch oft blasen, würde noch oft da unten auf der Mauer stehen, von Burschen umringt. Und die Rossöder würden es hören, und die Berge und Wälder würden es hören, und immer würden die Rossöder zum Himmel aufsehen nach einem Raubvogel oder einer Wolke, wenn sie Anton begegneten, und es würde kein Friede werden zwischen Anton, dem Jäger im Rossöder Tal und den Menschen im Rossöder Tal.
 Anton, der Jäger, war ruhig, er war ganz ruhig, ruhig nahm er ein Gewehr von der Wand. Er hatte auf die Tiere des Waldes angelegt, oft, auf das Reh und den Hasen und den Fuchs, und nie hatte sein Arm gebebt, und er hatte auch schon mit festem Blick auf Menschen gezielt, er hatte es bewiesen, im Frieden und im Krieg. Nun kam sein Meisterstück, und seine Hand durfte nicht zittern, da es einen Schuß galt auf den bösen Engel der Rache und des Hasses und der Ungerechtigkeit. Er hob das Gewehr, in der Stubenmitte stehend, daß ihn die Burschen unten nicht sahen, das flammende Horn blinkte gelb und teuflisch, es sang süß und falsch und ungerecht, er legte an und schoß, schoß nicht daneben und traf, was er hatte treffen wollen, dank seiner ruhigen Hand.

4

Die Burschen unten an der Friedhofsmauer waren alle etwas kleiner geworden, das kam, sie waren etwas in die Kniekehle gesunken alle, aber sie richteten sich wieder auf dann und sprangen einen Schritt zurück dann, wie einem Befehl gehorchend, den sie alle hörten, und während sie sanken und dann sprangen, sahen sie, wie das blitzende Waldhorn im Bogen in die Luft fuhr, und sahen, wie der Bläser die Arme hoch warf und taumelte und sahen beide dann, den Bläser und das Horn, neben der Mauer ins Gras fallen. Und sie hatten ja den Schuß vernommen, und wußten, warum Horn und Bläser fielen, und wußten, woher der Schuß gekommen war.
 Es war auf einmal sehr still geworden, nur das Lied schien noch in der Luft zu hängen, es hatte ein paar Augenblicke niemand gesprochen, aber nun schrien ein paar, nun fluchten andere, schrien durcheinander, schrien zum offenen Fenster hinauf, fuchtelten zum offenen Fenster hinauf, verzerrten Gesichtes. Er hat an einem noch nicht genug! schrien sie, er will uns alle noch erschießen, schrien sie, schlagt ihn tot! schrien sie, und werft seine Leiche in den Bach! schrien sie.
 Dann setzte sich der Haufen in Bewegung zum Forsthaus, nicht um die Friedhofsmauer herum, der Umweg war zu groß, sie schwangen sich auf die Mauer, sprangen in den Friedhof hinab, rannten brüllend quer durch den Friedhof. Wenn die Burschen hintereinander gelaufen wären, hätten sie auf den schmalen Steigen zwischen den Gräbern gehen können, aber sie blieben zusammen, sprangen über die Gräber, zertraten Blumen, zerstampften mit den schweren Nagelschuhen die Grabsteinfassungen, einer stolperte im Efeu, riß sich los, die grünen Schlingen ums Knie, aber sie hielten ihn nicht. Sie erreichten gleichzeitig wieder die Mauer, stürmten die Mauer, es war wie im Krieg, wenn ein Erdwerk genommen wird, sprangen drüben auf den Weg und waren mit ein paar Sprüngen an der Rückseite des Forsthauses, drängten zur Tür, und weil die Tür schmal war, konnten sie nicht zusammen und gleichzeitig hindurch, es mußte einer nach dem andern hindurch, nur manche, die sich ganz dünn machten, indem sie, die Rücken gegen die Türpfosten, Gesicht gegen Gesicht, sich durchzwängten, konnten gleichzeitig ins Haus. Die ersten polterten schon oben im hölzernen Gang, als die letzten noch am Fuß der Treppe waren.
 Aber dann waren sie alle in dem Zimmer, aus dem der Schuß abgefeuert worden war, soviel Leute auf einmal waren noch nie in der Stube gewesen, sie schoben sich und stießen sich und schrien und rissen die Schränke auf und warfen die Kleider auf den Boden und traten darauf herum und holten die sauberen Hemden aus den Schubladen und verstreuten sie und fluchten und schrien.
 Dann wurden sie ruhiger und sahen sich in die erhitzten Gesichter, und als einer sagte, daß man ihm nachlaufen müsse, dem Geflohenen, sagten die anderen, daß es doch auch noch eine Polizei gäbe im Lande, und daß es genüge, den Schuß zu melden, und sie sahen auf ihre Füße hinab, die auf der sauberen Wäsche standen, und fingen an, mit den Füßen die Wäschestücke gegeneinanderzuschieben, und so ein wenig Ordnung zu machen, und die Wäsche in eine Ecke zu bringen, auf einen ordentlichen Haufen zu bringen, aber ohne sich zu bücken, nur mit den Füßen.
 Dann gingen die ersten, einige standen noch unschlüssig herum eine Zeitlang, und der letzte, als er schon unter der Stubentür stand, trat noch einmal in die Stube, bückte sich, nahm mit beiden Armen das Wäschebündel hoch, das in der Ecke lag, setzte es auf das Bett und ging auch.
 Dieser letzte verließ das Forsthaus wieder durch die hintere Tür, schwang sich über die Mauer und sah, wie von des Sängers Grab her eine wüste, breite Spur lief durch den menschenleeren Friedhof, quer durch die Gräberreihen, grabschänderisch und abscheulich, und auf seinem Weg zum hohen Grab Xavers richtete er da einen Strauch wieder hoch, schob ein Gitter ein wenig zurecht, ebnete eine tiefe Fußspur, die sich in einen Grabhügel geprägt hatte, und bei Xavers Grab setzte er wieder über die Mauer und sah auch das blinkende Waldhorn liegen, wie er es sich gedacht hatte.
 Und er hob es auf und betrachtete es und sah den Einschuß, der glatt und rund und klein, und den Ausschuß, der zackig und groß war. Da hatte er nun sein Eigentum wieder, das ihm vor einer Viertelstunde aus der Hand geschossen worden war, und er legte den Finger an die Wunde, die das Metall trug und aus der kein Blut floß, das geflossen wäre, wenn die Kugel seine Brust getroffen hätte. Er setzte das Horn an den Mund und blies, es kam kein Ton, nur ein leises Fauchen tönte, aber er blies das Lied zu Ende, von der Stelle an, wo ihn die Kugel unterbrochen hatte, er wußte sie noch genau. Und er war kein böser, flammender Engel, Schlangenhaare um das Haupt und goldgepanzert, er war ein Bauernbursch aus Rossödund aus der Hosentasche holte er den schwarzen Sack, steckte das Horn in den schwarzen Sack und machte sich auf den Weg ins Wirtshaus zu den andern.

Die Stube im ersten Stock des Forsthauses war längst wieder in Ordnung. Die Gewehre hingen an ihrem Platze, die Wäsche lag sauber im Schrank, die Uhr tickte, der Ofen wärmte im Winter, und jetzt, da wieder Sommer war, stand das Fenster offen und der Bewohner der Stube, der hemdärmelige Jäger, sah pfeiferauchend aus dem Fenster, auf den Friedhof, auf die Gräberreihen und auf das prunkende, großmächtige Grab des Sängers Xaver.
 Die Jägerstelle war rasch wieder besetzt worden, und Anton war nicht wieder zurückgekehrt, um dem neuen Mann den Platz streitig zu machen. Er hätte seine Stelle vielleicht doch behalten dürfen, Anton, der Jäger, oder er wäre an einen anderen Ort versetzt worden, trotz des Schusses. Man hätte sich vielleicht damit begnügt, ihm einen Verweis zu erteilen, in Rücksicht auf die große und begreifliche Erregung, in der er gehandelt hatte, immer in der Voraussetzung, daß er nicht die Absicht gehabt hatte, den Waldhornbläser zu erschießen, und das schien sehr wahrscheinlich, denn ein so guter Schütze, wie es Anton war, hätte auf eine so kurze Entfernung die Bläserbrust nicht gefehlt, wenn er auf sie angelegt gehabt hätte. Er hatte nur das tönende, ungerechte Horn zum Verstummen bringen wollen, nahm man an, und das war ihm gelungen.
 Aber er war nicht mehr zurückgekehrt seit jenem Abend, hatte Kleider und Wäsche und all sein weniges Zeug zurückgelassen, hatte sich auch nicht mehr brieflich oder mündlich bei seiner Behörde gemeldet. Strafverfolgung gegen ihn war nicht eingeleitet worden, nur im Verordnungsblatt war ein halbes Jahr später zu lesen gewesen, daß er ohne Ruhegehaltsansprüche aus dem Amt entlassen worden sei.
 Einige erzählten, sie hätten am Tage nach dem Schuß auf das Waldhorn einen Mann, in dem sie Anton zu erkennen glaubten, durch ein Geröllfeld absteigen sehen, besser, abfahren sehen, denn das lockere Geröll habe bei jedem Schritt nachgegeben und den Mann immer ein paar Meter abwärtsgetragen. Warum er nicht den Fußweg benutzte, der neben dem Geröll gemächlich hinabführte, konnten sie sich auch nicht erklären.
 Andere erzählten, sie hatten es nicht selber gesehen, hatten es erzählt bekommen, man habe Anton, den Jäger absteigen sehen durch einen Latschenwald, das Gesicht gepeitscht von den grünen, harten Nadelbüschen, ausgleitend auf den schlangenarmigen Wurzeln, stürzend, sich fangend an den schwingenden Ästen, hängend an den krummen Stämmen, untertauchend in den schlagenden Wipfeln, sich wieder hocharbeitend mühsam, einen Latschenwald abwärts, und daneben sei ein bequemer Weg gewesen, und den habe er nicht benutzt.
 Andere wieder sagten, man habe einen nackten Mann gesehen, bis an die Brust im kalten Wasser des Bergbaches sitzend, die Brust der Strömung entgegen, den Rücken an einen großen Felsblock und mit den Händen das Wasser platschend, einen fröhlichen Badenden, und das sei Anton, der Jäger, gewesen, am Tage nach dem Schuß.
Später, nach Jahren, erzählte man sich, man habe den
Jäger Anton gesehen in einer großen Stadt, im Flachland,
weit weg am Meer, aber es wußte niemand Genaueres, es
konnte auch geflunkert sein.
 Wie es wahrscheinlich auch geflunkert war, daß er übers große Wasser nach den Vereinigten Staaten gegangen sei. Viele begriffen überhaupt seine Tat nicht und erklärten, sie, an seiner Stelle, hätten nach dem Schuß an der Bschöllwand sich einfach versetzen lassen, das Gebirge sei groß, Rossöd sei nicht die Welt, anderswo lasse sich auch leben, und eine feste Stelle mit Ruhegehaltsansprüchen hätten sie nie und nimmer fahren lassen.
 Und, schlimmstenfalls, sagten diese, sie, an Antons Stelle, wären auch in Rossöd geblieben. Das Waldhornlied, einmal im Jahr, das hätten sie schon ertragen, und einmal hätte der Waldhornbläser wohl auch aufgehört zu blasen, Anton hätte nur warten sollen, und wenn man es recht bedenke, er habe im Dienst gehandelt, und heute hätten es ihm alle schon vergessen und verziehen, und nannten ihn voreilig und heftig.
 So ging die Rede um Anton, den Jäger, in Rossöd und in den Tälern um Rossöd, und ein Senn auf der Kümmerlesalp dichtete ein Lied über Xaver, den Sänger, und Anton, den Jäger, und das sangen die Burschen oft abends, im Wirtshaus, auch auf den Bänken vor den Häusern, wenn sie zusammensaßen, drei oder vier.
 Sie sangen, und die Wälder rauschten, der Himmel war blau und zitternd heiß im Sommer, ein Wind kam von den Bergen, große, weiße Wolken trieben am Himmel hin, die Bäche stürzten zu Tal, die Holzfäller schlugen schallend zu, und manches Reh fiel im Feuer zusammen, im brechenden Blick den wehenden grünen Strauch und im Ohr den wilden Donner des Schusses.
 


Drucknachweise und Anmerkungen:

S.86 Das Waldhorn
Zuerst erschienen, mit einigen Abweichungen, in: die neue linie, 3, 1932, H.12, S.10ff. u. S.40f. [August]. [E] - Auch in: Die Einkehr (Unterhaltungsbeilage der Münchner Neuesten Nachrichten), Nr.16, 23.4.1933.
B. beteiligte sich Ende 1931 mit seiner Novelle am jährlichen Novellenpreisausschreiben der 1929 begründeten, von Bruno E. Werner redigierten Zeitschrift die neue linie. Er erhielt zwar nicht den ersten Preis, aber eine zusätzliche Auszeichnung mit einem entsprechend hohen Druckhonorar. B.s Novelle entsprach jener Programmatik, welche die neue linie im Septemberheft 1931 vorgegeben hatte; mit ihr hatte man eindeutig - trotz der gegenteiligen Erwartungen an eine Berliner Zeitschrift - konservativ in dem Kampf der ›Provinzliteratur‹ gegen die ›Asphaltliteratur‹ Stellung genommen (vgl. Komm. in Bd.l). Die Novelle, so wurde gefordert, verlange »ein lebendiges Verhältnis zur Gegenwart«, müsse frei von Weltanschauung sein und »müde Resignation« bekämpfen; weder dürfe sie einer ›billigen Flucht aus der Zeit‹ folgen noch sich ›quälender Zerfaserung‹ schuldig machen; und schließlich sollten preiswürdige Arbeiten »lesbar« sein »für die Frau, die Trägerin der Rasse und des Blutes«; ein wesentlicher Maßstab sei die »Intensität, mit der Wirklichkeit und Vorstellungskraft ineinander verschmolzen werden« (die neue linie, 3, 1931, H.1, S.6f.
S.86, Z.8-14: Das Kar [...] zu sein. Fehlt in E.
S.86, Z.15: talwärts, einzelne E: talwärts, bald begann das grüne, kurze, harte Gras der Bergwiesen, in die das Kar nur zu bösen Stunden Felsblöcke warf. Einzelne
S.87, Z.16: hatte. E: hatte, oder vielleicht ein schlechter Schütze, der auf den Arm gezielt hatte, oder auf die Schulter.
S.87, Z.21-25: Eine Strecke [...] ging. Fehlt in E. S.88, Z.14-17: Er aß [...] zu Ende. Fehlt in E.
S.90, Z.10: nicht. Der E: nicht. Aber die Berge und die Wälder braucht man, wenn man sein ganzes Leben mit ihnen zugebracht hat, man geht seinem Tagewerk nach zwischen ihnen, und der
S.91, Z.24-27: Es war [...] dort. Fehlt in E.
S.91, Z.35 - S.92, Z.4: Der Förster [...] zurückgekommen. Fehlt in E. S.92, Z.14-22: Der Absatz fehlt in E.
S.92, Z.33-S.93, Z.5: Nun mündete [...] kam eine Frau E: Anton war am Martinskreuz, da kam den Weg daher eine Frau
S.93, Z.13-22: Anton hatte [...] ihrem Bruder! Fehlt in E.'
S.94, Z.6-10: nicht zum blauen Himmel [...] daß sie Fehlt in E. S.94, Z.23-25: er ging nicht [...] wenn er ging. Fehlt in E.
S.94, Z.3o - S.95, Z.6: er verharrte [...] Gewissen. Fehlt in E. S.96, Z.22-25: weiße [...] Perlen. Fehlt in E. S.97, Z.4-12: Da hing [.:.] Wald. Fehlt in E.
S.99, Z.2f: Engel, im Auftrag? [...] den Auftrag? E: Engel, die sich nicht irren.
S.99, Z.2o-27: Wand. Er hatte [...] Er hob das Gewehr E: Wand, er zitterte nicht, er war es gewohnt, ein Gewehr in der Hand zu haben, er hatte ja auch schon auf Menschen angelegt, er hatte es gezeigt, er hatte auch schon auf Menschen den Hahn abgezogen, er hatte bewiesen, im Krieg und im Frieden, was sollte da seine Hand zittern? [/] Er legte an
S.1oo, Z.25: Friedhof. Wenn E: Friedhof. Der Haufe hielt zusammen, wie ein Knäuel, wenn
S. 102, Z.18-2o: Und er [...] und Fehlt in E.