...
zurück zum Inhaltsverzeichnnis
© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Band 3-2  Seite 137
Kommentar Seite 474

Aus: »Das treue Eheweib«



 

Der Major

Es war eine hügelige Landschaft, im späten Frühling, Ende Mai. In jeder Wiesenmulde lag ein Dorf, jedes Dorf hatte eine Kirche, jede Kirche einen hohen, spitzen, weißen Turm, und ging man die auf und ab steigenden Wege, immer sah man gleichzeitig vier, fünf der weißen Glockenträger. Es waren fette, grüne Wiesen, und leuchtend gelber Löwenzahn wuchs reichlich. Auch Saatfelder waren da, einen Viertelmeter hoch, einen halben Meter hoch waren die grünen Halme, und das Grün war ein anderes als das der Wiesen. Wälder waren da, Tannen-, Fichten-, auch Föhrenwälder, oft schwankten am Waldrand Birken, und das Weiß ihrer schmalen Stämme stand lieblich und zart gegen das dunkle, harte, fast schwarze Grün der Nadelhölzer. Die Wege waren sandig, weißgelb, mehlig, mit tiefen Radfurchen. Darüber war ein blauer Himmel, wolkenlos, eine gelbe, heiße Sonne, aber es ging ein kalter Wind in diesen Tagen, so daß die Sonne zwar die Haut bräunte, aber man fror gleichzeitig. Nur im Schutz eines Hügels, am Waldrand, wo noch kahle Brombeersträucher standen, war es sommerlich heiß. Auf Wiesenwegen sah man Bauernmädchen schnell dahingleiten. Sie saßen auf Fahrrädern, aber die langen Röcke verbargen die Beine bis zu den Knöcheln, man sah die Frauen nicht treten, lautlos sah man sie dahinschweben, geheimnisvoll, denn auch die Wiesenpfade, auf denen sie fuhren, sah man nicht, fast wie große Insekten waren diese Radlerinnen.
 Obstbaumblüte war, die schwarzen, krummen Äste waren dick und knollig besetzt mit weißen Blüten, mit Rosablüten, die kleinen Häuser bargen sich unter der Pracht, groß stand nur die Kirche.
 Eine große, gelbe Sandgrube tat sich auf. Ein alter Mann saß auf einer verfallenen Bank, und in der Grube sonnten sich Schweine. Es waren mächtige Tiere, fett, einige hatten sich Löcher gewühlt, drin lagen sie, dicht nebeneinander, übereinander, mit riesigen Schenkeln. Andere rannten einen kurzen Galopp, schnell, wie auf der Flucht, hielten plötzlich, drehten den Kopf mit dem kurzen Rüssel, schauten aus kleinen Augen scharf und rätselhaft her, und setzten sich plötzlich und starrten zu Boden, verzaubert. Es war eine Welt für sich, die gelbe Sandgrube, der blaue Himmel darüber, die Säue, und der alte Mann am Eingang der Grube, der sie bewachte. Und die Schweine waren lebendiges, atmendes Fleisch, es war unheimlich, es waren keine Einzeltiere, Fleisch, fettes Fleisch rannte hier herum, lag hier herum, erschreckend war es, das in der tiefen Stille allein lebendige Rosafleisch.
 Der alte Mann, der Wächter, der Schweinehirt mit seinem Stoppelbart erzählte und schüttelte sich vor Lachen, heut früh sei ein Hase, ein nicht mehr junger Hase, ein ganz tüchtiger, großer Hase, die Dorfstraße dahergekommen, frech mitten auf der Dorfstraße, und sei auf einen Trupp Hühner gestoßen, mit einem Hahn an der Spitze des Trupps, und der Hase habe ein Männchen gemacht und sich das Federvieh betrachtet, lange. Bis der Hahn krähte, mutig, und auf den Hasen losging. Der habe gewendet und sei sausend davon, vor dem Gockel, dem Schwanzfederkrummen, dem stolzen, dem Sporenträger, dem Ritter und Krähmaul. Das erzählte der Schweinehirt und kratzte seinen Stoppelbart, daß es hart klang, und schüttelte sich vor Lachen, und ein großer, tüchtiger Hase sei es gewesen, aber der Gockel ihm über.
 So war es hier in dieser Landschaft, das waren die Abenteuer dieser Gegend, das waren die Freuden dieses Hirten in der gelben Sandgrube, bei den fettwackelnden Säuen, unter dem blauen Himmel.
 Der Weg ging weiter hinan, an der Grube vorbei, wieder ein weißer Kirchturm stieg auf, der Weg schlängelte sich noch höher, da lag ein großes Dorf, ein Marktflecken, fast ein Städtchen, neben der Kirche stand ein altes Kloster, ein großer Platz breitete sich, von fünf Wirtshäusern umstanden. Und zu einem, und es war das kleinste der fünf, führten ausgetretene Steinstufen, ein kühler Flur dämmerte, und durch eine niedre Tür gings in die Wirtsstube.
 Wie sah die schönste Wirtsstube aus, in der je ein Glas roten Weines getrunken wurde? Der erste Eindruck war: weiß und leer. In Weiß war alles gehalten. Der Fußboden war aus weißen Brettern, die Tische und die Bänke waren weiß, hellgelblichweiß, von dem Farbton, der nur entsteht, wenn Holz seit Jahren mit Sand gescheuert wird. Es gab keine Stühle in der Stube, nur Bänke: Bänke, die in der Wand fest eingelassen waren, an der Wand entlang liefen, und auch bewegliche Bänke an der Tischseite, die sich zur Stubenmitte kehrte. Das ist selten geworden, und davon rührte es wohl auch her, daß die Stube gleich beim ersten Anblick sich von andern unterschied. Die Stube war niedrig, die Decke weiß gekalkt. Bis zur halben Höhe waren die Wände holzgetäfelt, die Täfelung war wieder weiß gestrichen, weiß gestrichen wie die Türrahmen, wie die Fensterrahmen. Die Farbe saß dick auf dem Holz, es war gewiß schon dutzende Male nachgestrichen worden, er sah so vertrauenerweckend sicher und haltbar aus, der Anstrich, man mußte nicht fürchten, daß, wenn die Farbe abblätterte, darunter das Holz grämlich hervorsähe. Denn wenn sie sich geschuppt hätte, die Farbe, drunter käme fröhlich glänzend eine andre, frühere weiße Schicht zum Vorschein. Es stand ein weißer Kachelofen in der Stube, und dann waren der Tische und Bänke nicht gar so arg viele, Tische standen nur längs der Wände, so daß in der Stubenmitte viel freier Platz war. Das unterschied die Stube wieder sehr von sonstigen Wirtsstuben, in denen gewinnsüchtig jeder freie Fleck zum Aufstellen von Tischen benützt ist.
 An den Wänden hingen alte Stiche. Einer stellte den großen Kaiser Napoleon dar, mit vorgewölbtem Bauch in der weißen Weste, einer den General Kleber. Der Wirtin Urgroßvater war Soldat in napoleonischen Diensten gewesen, von ihm stammten diese Bilder. Das Haus hatte früher zum Kloster gegenüber gehört, von dem es der alte Soldat erworben hatte. Die Familiengeschichte der Wirtin war auch sonst merkwürdig genug. Es war französisches Blut in der Familie, in die ein Bretone, ein Kriegskamerad des Ahnen, eingeheiratet hatte. Und zum Beispiel hing da ein Stich von Meran an der Wand, aus der Zeit um 185o, da hatte eine Tochter oder Enkelin des Soldaten einen Südtiroler, einen halben Italiener geheiratet. Und die Wirtin selbst, jetzt eine Frau von fünfundvierzig Jahren ungefähr, vielleicht auch etwas älter, mit rötlichen Haaren über einem verrunzelten Gesicht, hatte einen früheren österreichischen Major aus der Gegend von Trient zum Mann.
 Man saß so behaglich in der Stube. Man bekam sofort Lust sich zu setzen und sitzen zu bleiben. Die Fenster steckten tief in den dicken Mauern, so daß die Fensterbretter einen halben Meter breit waren; da können die Katzen gut drauf schlafen. Neben einem Fenster hing ein halbes Dutzend Hinterglasbilder, starkfarbig, bauernfarbig, viel Rot, viel Blut, Marias Herz, von Schwertern durchbohrt, der heilige Florian, der heilige Sebastian.
 Der hellrote Tiroler Wein war dünn, aber rein, der österreichische Major und Wirt wußte wohl noch gute Lieferer aus seiner früheren Zeit.
 Was machte die Wirtin für einen verrunzelten Eindruck! Der Mund war klein und eingeschrumpft, die Augen fast ohne Wimpern, was dem Blick etwas Unruhiges gab. Sie hielt sich schief in der Hüfte, die Wirtin, vielleicht von einem Unfall her, vielleicht wars ein Fehler schon von Geburt an.
 Ein großer, hagerer Mann kam zur Tür herein. Er war sorgfältig gekleidet, halb städtisch, halb bäurisch, trug lange, schwarze, sauber gebürstete Hosen, unten, um die Knöchel herum, nach Bauernart geschweift und breit, eine kurze, graugrüne Jägerjoppe über einem blütenweißen Hemd. Er war vornehm gewachsen, der Mann, die kurze Joppe ließ die Beine sehr lang erscheinen, noch länger, als sie waren, und den kurzen Oberkörper noch kürzer. Sehr klein war der Kopf. In dem kleinen Gesicht saß eine mächtige, krumme Nase; die Augen, grau und wässerig, waren ein wenig vorquellend, unter der Nase war ein großer, wehender, graublonder Schnurrbart, den der Mann mit dem Handrücken - das war eine stets wiederkehrende Bewegung - strich und glättete. Dann sah man einen kleinen, blutroten Mund, so rot, daß man dachte, gleich müsse ein Blutstropfen durch die allzudünne Haut dringen. Der hagere Mann ging auf den Ecktisch zu, setzte sich. Es war der Major, der Wirt.
 Er fing ein Gespräch an, mit Leuten, die am Nebentisch saßen, Städtern. Wenn er sprach, sah man, daß er nur noch wenige Zähne hatte. Im untern Kiefer staken nur noch zwei schiefstehende, gelbe, oben aber deren drei. Diesen Mangel zu verdecken, trug er vielleicht den Bart. Aber er mußte ihn wohl immer getragen haben, er gehörte zu ihm, es war nicht zu denken, daß er je ein bartloser Knabe mit glatten Wangen gewesen sei. Es war etwas Fahriges in seinem Wesen, er hatte merkwürdig schnelle und schroffe Armbewegungen.
Die Gäste drüben sagten: »Eine schöne Stube!« !
Der Major grinste: »Für Bauern ganz nett.«
Die Gäste sagten: »Die Kirche soll schon tausend Jahre stehen. «
 Der Major strich seinen Schnurrbart. »Kann sein. Ich kümmere mich nicht darum. Ich bin nicht aus dieser Gegend. Ich kümmere mich hier um niemand.« Er warf seine aufgeregten Augen hin und her. Es war klar, er wollte den Städtern zeigen, daß er kein gewöhnlicher Bauernwirt sei. Er war ja Major, österreichischer Major, Standschützenmajor. Standschützen, das war eine Tiroler Truppe, die sich aus Gebirglern zusammensetzte, die ihre Offiziere selber wählen durfte, so daß mancher Bauer, mancher Wirt und Handwerker und kleiner Beamter Leutnant und Hauptmann und auch wohl gar Major werden konnte.
 Im Gespräch ließ der Wirt einfließen, daß er die Realschule besucht habe, und als ein Bauer durch die Stube ging, »Herr Major« zu ihm sagte, die Gäste so von seinem Rang erfuhren, nun wohl auch einen gemesseneren, höflicheren Ton ihm gegenüber anschlugen, da benahm sich der Wirt vollends wie ein Offizier und Edelmann. Er ließ das Gespräch nicht mehr ausgehen, und als die Gäste aufbrachen, begleitete er sie zur Türe, verneigte sich knapp in den Hüften, sagte »gnädige Frau«, strich seinen Bart und ging wiegend auf seinen Platz zurück.
 Er saß allein in der Stube. Sein kleiner Vogelkopf stand traurig, schräg. Er war ein Verbannter. Er war ein Herr, ein Ritter, und war als Wirt hier unter Bauern zu sitzen verdammt.
 Die Wirtin kam und sah ängstlich zu ihm auf. Sie bewunderte ihn, das sah man aus jedem ihrer Blicke. Mit seinem soldatischen Rang, seinen herrischen Umgangsformen, mit dem Glanz seines Wesens hatte er sie erobert.
 Er war faul, er tat nichts. Er kümmerte sich nicht um das Geschäft. Er sah verächtlich auf alles in seiner Umgebung herab. Er war zu gut für die Frau, für das Dorf, für das Leben, das er hier führte.
 Es war Mittag. Die Hausmagd kam, deckte einen Tisch mit einem farbigen Tischtuch. Es kam das Gesinde zum Essen. Zuerst ein rothaariger Knecht, mit zu hohen Schultern, gebräunt, bärenstark sah er aus. Dann kam die Stallmagd, mit bloßen, braunen Füßen, in einem enganliegenden, schwarzen Leibchen, nicht mehr jung, zehn Jahre älter als der Knecht, mit einem harten, männlichen Gesicht, schwarzen Haaren, die sie dicht an den Kopf gebürstet
hatte. Mit ihr kam ein etwa sechsjähriges Mädchen, ihre Tochter wohl, die sah dem Knecht ähnlich, hatte sein rötliches Haar, der Knecht war der Vater augenscheinlich. Die Hausmagd brachte eine blecherne Suppenschüssel, setzte sich auch an den Tisch, und die vier begannen nun schweigend zu essen. Nach der Suppe gab es fettes Schweinefleisch und grünen Salat. Es fiel kein unnützes Wort während der Mahlzeit.
 Der Wirt saß in seiner Ecke und sah verächtlich auf die Essenden hin. Als erster war der Knecht fertig, wischte den Löffel am Tischtuch ab, und Gabel und Messer, und legte sie in die Tischschublade dann und ging hinaus mit langsamem, schwerem Schritt seiner kotigen Schaftstiefel. Er trug eine blaue Schürze. Die beiden Mägde machten es wie er mit dem Eßgerät. Das Mädchen leckte den Teller leer, dann gingen die drei auch. Gebetet hatten sie nicht, nicht vor und nicht nach dem Essen, wie es sonst wohl üblich ist. Vielleicht hatten sie es im stillen getan.
 Nun kam die Wirtin, legte vor dem Major eine weiße Decke auf, brachte das Essen, das vorhin das Gesinde gehabt hatte. Das Ehepaar aß und sprach nicht. Der Major aß wie ein feiner Mann, mit zierlichen Bewegungen, gemessen, und voll von Stolz und Demut folgte die Wirtin dem Weg seines Löffels vom Teller zum Mund.

Es war heiß im Hof hinterm Haus, der zur Hälfte gepflastert war. Die Stalltüre stand offen. Der Major kam gelangweilt aus dem Haus. Er mußte seine überlange Gestalt beugen, als er in den Stall trat. Der Stall war leer, in dem für gewöhnlich Kuh und Pferd nebeneinander standen. Der Major setzte sich auf die große Futterkiste, ließ die Beine baumeln, griff einen langen Strohhalm, nahm ihn in den Mund, ließ die beiden Hälften links und rechts herunter hängen wie einen zweiten gelben Schnurrbart, nur länger, nur dünner. Er roch den Stallgeruch, und das war kein edler Geruch, der Geruch eben, wie er ist, wenn Kuh und Pferd im selben Raum gehalten werden. Bauernwirtschaft! knurrte der Edelmann.
 Die Langeweile war schwer zu bekämpfen. Das Mittagessen lag drei Stunden zurück, bis zum Abendessen mußten noch drei Stunden vergehen. Der Major gähnte, daß man seine gelben Zähne sah, seine schiefstehenden. Er träumte, der Major, mit wachen Augen. Es war dunkel im Stall, das Licht fiel durch eine kleine, schmutzige Scheibe über der Tür, der Boden war mit roten Ziegeln gepflastert, es war nicht reinlich im Stall. Der Major war zu vornehm, sich viel um den Stall zu kümmern, er war zu müd, er war zu gleichgültig, er war todmüde, ohne Grund, aber immer todmüde, es war schrecklich langweilig.
 Ein Schatten fiel durch die Tür, dann wurde die Tür aufgestoßen, es kam die Magd, mit bloßen Füßen, das schwarze Leibchen eng um den Oberkörper, der wie der Oberkörper eines Mannes war, mit einer ganz flachen Brust. Sie begann mit der Stallarbeit. Wenn sie sich arbeitend nach vorn beugte, glitten ihre Röcke hinten hoch bis über die Kniekehlen. Sie hatte braune sehnige Beine, sie kümmerte sich nicht um den Major, tat ihre Pflicht. Der Major blieb auf der Kiste sitzen. Es war warm im Stall, drückend heiß, schwül, der Mistgeruch war so stark, daß es sich schwer atmete.
 Die Magd bat den Major, sie aus der Kiste etwas nehmen zu lassen. Der Major, immer noch den Strohhalm zwischen den Lippen, lächelte auf einmal, aber er stand nicht auf. Die Magd blieb, nun auch lächelnd, vor ihm stehen. Er sah nah vor sich ihr lederiges Gesicht mit den schwarzen, funkelnden Augen und den Tränensäcken unter den Augen. Ihr Mund war dünnlippig, wenn sie lächelte, wie jetzt, sah man, daß sie, im Gegensatz zum Major, noch alle ihre Zähne besaß. Sie war wohl schon über vierzig Jahre alt, die Magd, ihr Körper hatte schon etwas von dem einer alten Frau, nur die funkelnden, beweglichen schwarzen Augen waren jung. Sie blieb lächelnd vor dem Major stehen, unbeteiligt, wie unbeteiligt auch an dem, was nun kam, nur ihre schnellen Augen waren beteiligt.
 Der Major also stand nicht auf von der Kiste, sagte: »Ich mag nicht«, und legte seinen Arm um die Hüften der Magd. Sie streifte seinen Arm nicht weg und sagte: »Ich brauch was aus der Kiste.« Der Major schob sein rechtes Knie vor, drückte es gegen ihren Oberschenkel und sagte: »Wart noch ein wenig.« Die Magd wartete.
 Jetzt stieg der Major von der Kiste herab, er zog die Magd an sich heran, drängte die wenig Widerstrebende in die Ecke des Stalls, wo Heu gelagert war, ließ sich ins Heu fallen, die Magd ließ sich willig mitfallen.
 In der Wirtsstube dann die Wirtin wiederholte unaufhörlich die Frage, die sie mit schiefem Mund und nach oben gerichtetem Kopf sang: »Warum mußte ich das sehen?« Ihr kleines, verrunzeltes Gesicht hatte noch mehr Falten und Fältchen als sonst. Sie ging in der Stube auf und ab, mit gekrümmtem Körper und sang mit leise zitterndem Mund: »Warum mußte ich das sehen?« Der Wirt und Major stand am Fenster, sah zum Fenster hinaus, und bei jeder Frage der Wirtin zuckte sein lächerlich kurzer Oberkörper ruckartig. Er hatte die Hände in den Hosentaschen, und als jetzt auf der Straße jemand vorbeiging, ihn grüßte, nahm er sie aus den Taschen, machte seine tiefe, schwungvolle, in den Hüften schaukelnde Offiziersverbeugung, wischte sich den Schnurrbart, daß sein hellblutroter Mund einen Augenblick sichtbar wurde. Seine dicken Augen hatten etwas Erschrockenes. Aber dann nahm er wieder Haltung an und wagte es sogar, sich umzudrehen, wenn er es auch nicht wagte, seiner Frau in die Augen zu sehen, er ihr nur auf die Füße sah, an denen sie Lackschuhe, ein wenig abgetretene Lackschuhe, trug.
 Die verwelkte Wirtin wiederholte ihre Frage noch ein paarmal, dann sah man, sie hatte einen Entschluß gefaßt, was ihrem Gesicht Festigkeit gab, ihr schlaffer Mund zitterte nicht mehr, die wimperlosen Augen verloren ihre Unruhe, sie setzte sich auf eine Bank und sagte zum Wirt: »Ich lasse mich scheiden.«
 Der Major riß wütend an seinem Schnurrbart, er machte eine zappelnde Bewegung mit seinen langen Beinen, als marschiere er auf der Stelle, aber dann blieb er stehen, als die Wirtin zum zweiten Male mit noch festerem Erz in der Stimme und ganz ruhig sagte: »Scheiden laß ich mich natürlich! «
 Die Magd trat in diesem Augenblick in die Stube, gesenkten Blickes. Sie hatte einen schweren Gang vor sich, sie mußte zum Knecht, dem die Wirtin Bericht gegeben hatte. Das stand ihr bevor, und nun mußte sie zuerst noch zwischen diesen beiden hindurchgehen. Der Major machte es ihr leicht und machte es sich leicht und sah nicht hin auf sie. Er schloß die Augen und horchte. Er horchte immer noch auf das Wort seiner Frau, das »Scheidung« gelautet hatte, und über dieses Wort dachte er nach.
 Die Magd war stehengeblieben in der Stube, und die Wirtin knurrte. Sie zog etwas die Oberlippe hoch und knurrte. Die Magd sah ihr offen ins Gesicht, sah ihr frech ins Gesicht. Da standen sie, die beiden ältlichen Frauen, verbraucht, nicht hübsch, wohl nie hübsch gewesen, und zwischen ihnen der Mann geschlossenen Auges. Sein Schnurrbart hing herab, der Strohhalm hängt nicht mehr herab, dachte die Magd. Und schön ist er nicht, dachte die Magd, und es fiel ihr ein, daß sie jetzt zu dem Knecht gehen müsse, und da zitterte sie. Ihre schwarzen, funkelnden Augen sahen zur Tür. »Kannst mich nicht anschaun?« knurrte die Wirtin. »Schämst dich? Geh jetzt zum Hans!« frohlockte sie, »geh nur zum Hans jetzt!« Sie schüttelte den Kopf, daß ihr verwaschenes, rotes Haar in die niedre Stirn fiel. Sie hatte ein gerötetes Gesicht jetzt, ihr Gesicht war jetzt wie ein geröteter, verschrumpfelter Apfel. Die Magd machte einen Schritt zur Tür. Die Wirtin zischte: »Geh!« und die Magd ging.
 Sie ging durch die Tür auf den Flur. Der war mit großen gelblichen Steinplatten belegt. In der Ecke hing von der Decke eine alte, eiserne Waage, und sie dachte an die Waage der Gerechtigkeit, von der der Pfarrer oft Sonntags gepredigt hatte. Sie warf einen Blick durch eine gegenüber offenstehende Tür, in einen Kramladen, der auch von der Wirtin geführt wurde, wo Stricke von der Decke hingen und landwirtschaftliches Gerät und Strümpfe und Hosen, wo Gefäße standen voll Zucker und Schnaps in großen, gewölbten Flaschen und Pantoffel und Schuhe und blaue Arbeitsschürzen.
 Sie ging über die Treppe und den Gang entlang, und da hüpfte ihr die sechsjährige Tochter entgegen, mit dem roten Haar des Knechts, barfuß, gekleidet wie eine Erwachsene, mit langem Rock und dem engen Mieder, wie eben Bauernkinder aussehen, kleine und ernsthafte Ebenbilder der Großen. Sie wollte auf die Tür zum Knechtzimmer zugehen, da faßte das Kind sie am Rock. »Geh, geh!« sagte die Magd.
 Aber das Kind ging nicht, es sah sie von unten herauf an. Der Scheitel im roten Haar des Mädchens war nicht gerade gezogen, das war ihre Schuld, der Magd Schuld. »Geh spieln in den Hof!« befahl sie dem Kind. Das lief jetzt weg.
Das Haar war hinten zu einem kleinen Zöpfchen geflochten, stand ab vom mageren Kinderhals.
 Und die Magd ging in die Stube des Knechts. Der Hans lag auf einer alten Bank, die mit schwarzem Leder überzogen war. Als sie eintrat, sah er sie mit einem schnellen Blick an, sah dann wieder weg. Er hatte die Stiefel ausgezogen, an den Füßen trug er rote, wollene, dicke Socken, die Fersen waren bis zur Hälfte der Fußsohle verrutscht. Er lag und sah sie nicht an und atmete ruhig und gelassen. Plötzlich sagte er: »Die Alte hat euch erwischt?« Die Magd nickte.
 Es war gegen sieben Uhr des Abends. Draußen war ein hellblauer Himmel, der mit einem großen Stück in das Zimmer hereinsah. Auf dem Tisch lag ein Stück Brot, auf einem blauen Teller ein Stück Geräuchertes, ziemlich fett, das gelbe Fett mit hellrosa Streifen mageren Fleisches durchzogen. An einem Krug lehnte ein Spiegel, ein Stück Spiegelglases, schlecht geschliffen, ohne Rahmen, und in dem Spiegel war Fleisch und Brot noch einmal zu sehen, und die Magd sah nur die Spiegelung an. »Heiraten«, sagte plötzlich der Knecht, »heiraten tu ich dich jetzt nicht mehr.« Er sah sie neugierig an.
 Da hinaus also will er, sagte sich die Magd. Wütend schrie sie: »Das sieht dir gleich!«
 Der Knecht richtete sich halb auf, griff nach dem Spiegel, sah hinein, strich sich das Haar zurecht, sah sich lange und sorgfältig an, schnitt Fratzen, besah Stirne und Mund und Augen und sagte: »Seh ich denn so dumm aus, daß ich dich jetzt noch heiraten würde?« Schallend lachend ließ er sich auf die Bank zurückfallen und behielt den Spiegel in der Hand und sah immer noch hinein:
 »Das sieht dir gleich!« sagte die Magd zitternd und stampfte mit dem Fuß auf. Das Zimmer des Knechts lag gerade über der Wirtsstube, wo unten der Wirt und die Wirtin waren. Die Wirtin hörte den Knall des aufstampfenden Fußes und sagte: »Jetzt redet der Hans mit dem Weibsbild.« Der Major streichelte seinen Schnurrbart und sah nach oben zur Decke. »Also Scheidung«, sagte die Wirtin, und: »Du kannst heut noch gehen, kannst ja gleich gehn, kannst leicht gehn, hast ja nicht viel mitzunehmen. Alles gehört ja mir.« Sie ging in der Stube auf und ab und blieb wieder stehn und horchte beseligt nach oben, wo es wieder wild pochte.
 Die Magd hatte gesagt: »Das paßt dir jetzt, dich darauf auszureden«. »Und dir täten zwei Liebhaber passen«, lachte der Knecht. Er lachte über das ganze sommersprossige Gesicht, und seine roten Haare glänzten lustig.
 Die Magd setzte sich, schnitt sich ein Stück Brot ab, schnitt sich ein Stück Fleisch ab und begann zu essen. Mit funkelnden Augen sah sie den Knecht an und sagte: »Das wird dir nicht hinausgehen. Da wird dir nichts draus.«
 Das Gesicht des Knechts lief mit einemmal blutrot an.
Luder«, schrie er. Das laute Wort hörte man drunten in der Wirtsstube. Man verstand es zwar nicht, aber man hörte es, man hörte, daß es ein böses und grobes Wort war. Der Major wiegte sich in den Hüften. »Horch!« sagte er zu seiner Frau.
 Die hielt sich die Ohren zu, steckte die Finger in die Ohren und stand so, daß es aussah, als wären ihr am Kopf hinter den Ohren zwei Eulenflügel gewachsen und sagte nur immer: »Scheidung! geh! Scheidung! geh! geh nur! geh gleich! «
 Der Major raffte sich zusammen, riß sich zusammen, richtete sich auf, seine Augen traten noch stärker aus dem Gesicht heraus, die Brust wölbte er vor, gockelig, sein Körper sagte: Ich nehme die Herausforderung an. Seine blutroten Lippen zog er hin und her, schob die Unterlippe vor, biß sich auf die Lippen, spielte mit den Lippen und dann antwortete er: »Gut, ich kann auch gehn! Gut! Lassen wir uns scheiden! Sehr gut!«
 Er betrachtete seine Frau lauernd. Jetzt mußte sie erschrecken. Jetzt, da sie sah, es wurde ernst, sie würde ihn verlieren, ihn, den Major! Wie hatte sie ihn geliebt, wie hatte sie ihn angebetet, er riß an seinem Schnurrbart, sah sie herausfordernd an, ging vor ihr durch die Stube, sich wiegend in den Hüften, vornehm, auf seinen zu langen Storchbeinen, auf und ab, stolz wie vor seinem Bataillon, aller Augen auf  ihn, ein Herr, ein Offizier.
 Aber die Wirtin war in die Küche gegangen. Das merkte er, als er wieder umdrehte am anderen Stubenende, er hörte Teller klappern von nebenan in der Küche und von oben drang Geräusch, drang Stampfen von Stiefeln, dumpfer Schall, hohler Lärm, Geraufe, Prügel oder sonst was. Es kümmerte ihn nicht.
 Entschlossenheit! Gehen! Scheidung! sagte sich der Major. Dieses Bauernnest! Er war zu gut dafür! Endlich es verlassen, Grund haben, es zu verlassen, fröhlich drüber sein! Heiter, lustig!
 Er packte in einen kleinen Handkoffer das Notwendigste, einen größeren mit dem Rest seiner Wäsche, seiner Kleidung, seiner alten Uniform, konnte er sich nachschikken lassen. Sonst gehörte ihm nichts, kein Möbelstück, alles gehörte der Wirtin. Er nahm den Koffer, und mit einem schnellen Entschluß nahm er seinen Offizierssäbel, der in einem Leinenüberzug steckte, auch mit, so ging er.

Er ging auf der Straße, drüben stand die alte Kirche. »Bauernkirche«, brummte er. Er nahm die Richtung zum Bahnhof, das waren zwei Stunden Wegs. In der Rocktasche trug er achtzig Mark, mehr besaß er nicht, damit konnte er vorläufig leben. Er schlenkerte das kleine Lederköfferchen in der Hand, in der andern trug er den Säbel, benutzte ihn als Spazierstock, stützte sich nicht darauf, aber trug ihn wie einen Stab, berührte sanft den Boden mit der Spitze im Takt seines Ganges.
 Vor den Türen standen Leute. »Bauernkerle«, brummte der Major. Er hatte unrecht, es war fast ein Städtchen, es waren fast Bürger, Städter, halbe Bauern nur. Sie grüßten ihn. Der Herr Major fährt heut noch fort, sagten sie sich. Nun taten sich die vielen Hügel auf, einer hinter dem andern. Wälder glänzten, der Himmel war abendblau, abendgrün fast, ein kleiner zierlicher Mond stand drüben über einem Kirchturm, Kirchtürme überall. Der Major schritt fest aus. Er ging so eine Stunde, die Straße war staubig, seine Stiefel waren schon grau, auch die Hose war unten grau. Hier bog die Straße nach rechts ab. Hier ging es zum Bahnhof, hier stand eine Bank, hier setzte sich der Major.
 Den Kampf mit dem Leben aufnehmen, diesen Satz wiederholte er sich kampfesmutig immer wieder, dieser Satz gefiel ihm, er flößte ihm Mut und Zuversicht ein. Es wurde dämmerig. Er nahm seinen Säbel aus der Leinwandhülle, zog die Klinge aus der Scheide: den Kampf mit dem Leben aufnehmen! Er machte ein paar Fechtergebärden, nahm Ausfallstellung an, stach, hieb auf einen unsichtbaren Gegner. Mut! sagte er sich.
 »Was fällt dieser Frau ein?« brüllte er, »mich so laufen zu lassen, mich?« Er blähte sich, stülpte seine blutroten Lippen vor, die paar gelben schiefen Zähne bleckte er bösartig. »Sie wirds bereuen! Was ist sie ohne mich?«
 »Ja, liebt sie mich denn nicht mehr?« fragte er sich. »Unmöglich!« antwortete er sich laut. »Ganz unmöglich!« schrie er. Er steckte den Säbel neben der Bank in den Boden. »Diese Frau liebt mich!«
 Er dachte nach. »Sie bereut es wohl jetzt schon. Ist wohl jetzt schon unglücklich.« Er freute sich darüber: »Recht geschieht ihr! «
 »Ich aber«, sagte er, »ich nehme jetzt den Kampf mit dem Leben auf.« Das Leben nahm die Form eines großen, sagenhaften Untiers an, elefantenmäßig, ungeheuerlich, mit grinsenden Augen, schleimig triefend das schlappende Maul. Er aber nahm den Kampf mit dem Tier auf, besiegte es.
 Was konnte er leisten? Was hatte er gelernt? Wo wollte er unterkommen? Ach, was! Kämpfen und siegen! Er triumphierte.
 Aber die weinende Frau zu Hause? Denn natürlich, jetzt hockte sie zu Hause und weinte unaufhörlich, sehnte ihn zurück, konnte ohne ihn nicht sein, fand nicht mehr Gefallen am Leben ohne ihn.
 »Zurück!« sagte er. »Nicht zurück!« sagte sein Stolz.
 Es war jetzt fast dunkel geworden, die Wälder lagen schwarz um ihn, aber der halbe Mond war klar geschnitten am Himmel.
 Und von der Wiese dort erhob sich das geifermäuliges Untier, das Leben, mit dem er kämpfen mußte, das er besiegen mußte, richtete sich auf den krummen Beinen mächtig auf, wandte ihm den Kopf zu, grinste und wartete auf den Angriff des Majors. Er griff nach dem Griff des Säbels, ließ die Waffe aber im Boden stecken.
 Unten in einer Wiesenmulde lag ein kleiner Weiher, der schwarz herschimmerte, es war ein Froschteich, und jetzt begannen die Frösche mit ihrem klagenden, unablässig auf und abwimmernden Getön. Das setzte, nachdem es jäh begonnen hatte, nun keinen Augenblick mehr aus. Der Major sah hin und sah natürlich nichts und sah doch, wie unter der Oberfläche hundert der grünen, geblähten Tiere saßen, das Maul am Wasserrand, und bliesen. Er nahm seinen Säbel und ging zum Weiher hinunter. Schwarzgrün war die Wasserfläche, und der Gesang der Frösche schwoll jetzt in der Nähe ungeheuer an. Der Major schlug wütend mit dem Säbel in den Weiher, daß ihm kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, der Lärm der Frösche verstummte kurz, aber brüllend, doppelt laut, setzte er gleich wieder ein.
 Der Major wußte, wenn er den Abendzug in die Stadt erreichen wollte, durfte er nicht mehr länger zögern. Es war kühl hier am Weiher, der Mond war schon höher gestiegen, sein Ebenbild schwamm im Wasser, und sein Glanz machte die Frösche wohl noch toller, denn sie steigerten, soweit das möglich war, noch ihre dumpfen Rufe.
 Der Major zog die Uhr, rechnete, nein, es ging nicht mehr, für den Abendzug wars zu spät geworden, aber es mußte ja doch der Abendzug nicht sein, er hatte ja Zeit, und morgen früh ging ja auch ein Zug ab, in der ersten Frühe, wußte er, da nahm er eben den und blieb vorläufig noch ein wenig hier, in der Gesellschaft der Frösche. Blieb die Nacht über hier, beschloß er, und eine Nacht im Freien, im Mai, er dachte an den Krieg, die war leicht auszuhalten, hier, wo nicht geschossen wurde. Aber klang das gleichmäßige Tönen der Frösche nicht wie das Rumpeln eines fernen Trommelfeuers? Der Major schlüpfte in den Mantel. Am Weiher stand eine Weide, zu deren Füßen setzte er sich ins Gras, legte den blanken Säbel quer über die Knie und saß so wie Wache haltend.
 Der Mond spiegelte sich in der Klinge, und wenn er sie drehte, spritzte es wie Lichterfunken von ihr. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm der Weide, und ein leichter Wind bewegte die Blätter, daß es geheimnisvoll raschelte. Er spähte um sich, Dunst stieg in der Mulde und schleierte sanft. Die Frösche quakten und dröhnten ohne Unterlaß, plapperten in ihrem nassen Gefängnis, und er saß hier als Wächter und Gebieter. Als einer besonders laut schrie, verwies er es ihm, ahmte ihn höhnisch nach, und wie Rede und Antwort ging es hin und her zwischen dem Mann unter der Weide und den unsichtbaren Tieren.
 Ich will schlafen hier, dachte der Major, im Sitzen schlafen, das kann man, und er schloß die Augen, aber mit dem Augenschließen war es noch nicht getan, der Schlaf kam nicht. Er rückte unruhig am Boden, spürte unterm Knie die harte Weidenwurzel, die ihn drückte, und auch der Weidenstamm als Kopfstütze war nicht lind. Kühle hob sich vom Gras auf, Feuchtigkeit hauchte her vom Weiherspiegel, er fröstelte, es schüttelte ihn. Er sah wieder auf die Uhr, im Mondlicht war die Zeit abzulesen, eine halbe Stunde erst saß er und bewachte die Frösche.
 Wars nicht klüger, fragte er sich, zum Dorf zurückzugehen, eine Stunde Weg wars ja nur, und eine Nacht noch, eine letzte Nacht noch, in seinem alten Bett zu schlafen, und morgen, beim Tagesgrauen, aufzustehen, zum Morgenzug?
 Die Klinge war feucht geworden, er wischte sie am Ärmel ab, steckte sie in die Scheide, schrie die Frösche an mit » Ruhig! « und »Wollt ihr wohl!« und drehte seine Adlernase witternd in die Richtung zum Dorf zurück, höb den Koffer auf und ging auch schon zurück.
 Auf der weißen Landstraße ging mit ihm sein langer schwarzer Schatten. Das Geschrei der Frösche war nun schon nicht mehr zu hören, aber der Mond war noch am Himmel, der blau und klar war, mit vielen Sternen besetzt.

Im Schlafzimmer saß die Wirtin, und war unlustig sich zu entkleiden, nur die Schuhe hatte sie abgestreift, saß in Strümpfen am Bettrand, wie ein kleines Schulmädchen saß sie, die unjunge Frau, mit weinerlichem Gesicht, und der Mond sah zu ihr durchs Fenster. Das gelbe Himmelslicht, das den jetzt wandernden Major beschien, beschien auch sie, und es war, als horchte sie auf seine Schritte, die sie doch nicht hören konnte, und dachte an ihn, nur an ihn.
 Nun war er also gegangen. Sie hatte ihn fortgeschickt, und ein Mann wie er hatte sich das nicht zweimal sagen lassen und war gegangen, und niemals kam er wieder.
 Mit ihren fast wimperlosen Augen blickte die Wirtin auf die Dächer nieder, die vor ihr im Mond lagen, überwölbt von Baumkronen.
 Sie hatte dem Major nur gesagt »Geh!«, weil sie es gekitzelt hatte zu erproben, ob er wohl ginge. Er lebte von ihr, und sie hatte fürchten müssen, er habe sie nur geheiratet, weil sie ihm einen Unterschlupf gab, einen seiner nicht würdigen Unterschlupf zwar, aber doch eine Höhle, ein Nest, in dem sich sein ließ.
 Aber nun war er stolz aus dem Nest aufgeflogen, mit mächtigen Adlerschwingen, tief unter sich die kleine Welt, zu unbekanntem Ziel. Wo strich er hin, der Unbekümmerte?
 Sie weinte. Sie stützte die mageren Ellenbogen auf die Fensterbrüstung und seufzte.
 Was hatte sie sich da groß getan mit dem schlechten Dach, das sie ihm bot? So etwas fand er wohl überall wieder, man riß sic wohl um ihn. Undeutlich sah sie Frauenarme sich nach dem Major strecken.
 Wenn er also bisher bei ihr geblieben war, dann nicht des bißchen Essens wegen. Sie atmete tief. Ihretwegen war er so lang geblieben: weil er sie liebte!
 Sie weinte stoßhaft auf.
 In seiner Kammer der Knecht lag und schlief tief. Die Decke hatte er zurückgeschlagen in der warmen Nacht. Sein rotes Gesicht unterm roten Haar hatte einen zufriedenen Ausdruck, und jetzt träumte er, und lächelte, und sagte etwas im Traum, und das Fenster antwortete klimpernd, von einem Lufthauch bewegt. Dann war wieder Stille, und das Atmen des Knechts nur, und der Ton der bewegten Blätter der Bäume.
 Und die Magd lag in ihrem Bett und schlief nicht. In einem andern Bett in der Ecke lag das Mädchen, nicht zu sehen, tief in die Polster vergraben. Mit dunklen, funkelnden Augen sah die Magd zur Decke auf. Das mit dem Major, bereute sie es? Das wohl nicht, aber es war dumm gewesen, es zu tun, vor allem, daß die Wirtin dazugekommen war, und nun der Knecht davon wußte. Die Magd setzte sich im Bett auf. Der Mond beschien sie. Was würde nun werden? Die Nacht gab keine Antwort. Sie legte sich nieder, schob das Gesicht höher auf das Kissen, auf einen Platz, der kühl war. »Kommt Zeit, kommt Rat«, sprach sie sich Trost zu. Und vielleicht konnte sie nun auch einschlafen.
 Die Wirtin dachte: nun ist er wohl schon an der Bahn, nun steigt er wohl schon in den Zug, nun pfeift der Zug, nun fährt der Zug ab, mein Mann, mein Mann, mein Mann fährt mit und kommt nicht wieder!
 Jetzt spürte sie die ganze Größe ihres Verlustes. Allein nun in Zukunft, ihr ganzes Leben allein! Das durfte nicht sein, das war unmöglich, ihm nach!
 Sie ging die Treppe hinab, eine Katze drückte sich an der Wand entlang, buckelte verlegen, sprang mit einem lautlosen Satz auf ein Flurfenster. Sie ging über den Flur, an der alten eisernen Waage vorbei. Ihm nach! dachte sie.
 Sie dachte es und stieß die Tür auf, und groß vor dem blauschimmernden Hintergrund des Himmels stand der Major und sagte: »Nur noch einmal für diese Nacht.«
 Die Wirtin sagte nichts, ging ihm voraus ins gemeinsame Schlafzimmer. Sie entkleideten sich, sahen sich nicht an, redeten kein Wort zueinander und legten sich schlafen.
 Als der Major am andern Morgen erwachte, war das Bett neben ihm schon leer. Er blieb lange auf der Bettkante sitzen, zog sich dann an, ging in die Wirtsstube hinunter, wo ihm die Hausmagd den Kaffee brachte wie sonst und immer. Er trank ihn, spreizte vornehm den kleinen Finger ab vom Tassenhenkel.
 Nach dem Frühstück, dachte er, mit dem Mittagszug!
 Aber er fuhr auch mit dem Mittagszug nicht, blieb, blieb bis zum Abend, und noch eine Nacht, blieb für immer.
 Äußerlich war nun alles wieder, wie es immer gewesen war. Die Magd wollte die Wirtin entlassen, zuerst, und den Knecht, sie wollte sie nicht mehr vor Augen haben, aber dann besann sie sich, und sie behielt die beiden im Dienst.
 Die Wirtin saß in der Stubenecke, fahlrötlich glänzte ihr Haar, und ihre Augen, die damals zum erstenmal geblitzt hatten, als sie zum Major das Wort »Scheidung« gesprochen hatte, ein stilles Funkeln behielten sie nun ständig. Wie eine Spinne saß sie in der Tiefe des Netzes und beobachtete die drei Fliegen, die rötlich pralle, das war der Knecht, und die schwarzschillernde, das war die Magd, und die sumpfgrün prahlende, das war der Major.
 Der Knecht und die Magd heirateten nicht, sie lebten zusammen wie bisher. Und der rothaarige Knecht, der doch auch im Netz saß, spielte mit der Magd sein besonderes Spiel, sein boshaftes Spiel, und die Magd war hilflos, und die Wirtin weidete sich an ihrer Qual, denn die war die wohlverdiente Strafe.
 Auf den Major warf der Knecht scheue Blicke, wütende, eifersüchtige manchmal, dann wieder dankbare, daß er es
ihm erspart hatte, sich an die Magd fest binden zu müssen.
 Die Magd nun und der Major, die drehten sich verlegen umeinander und schämten sich, und die Magd war zornig auf den Major, und oft, wenn er ihr einen Auftrag gab, sah sie ihn stechend an und gehorchte nicht, und wenn der Major aufbegehren wollte und dann grad der Knecht ins Zimmer trat, dann waren sie alle drei stumm und stumm gingen sie in drei Richtungen auseinander, und in der Ecke saß die Wirtin und freute sich.
 Saß die kleine Wirtin mit blitzendem Blick und war nun auf einmal die Königin im Haus und herrschte über alle. Anfangs zwar, hie und da, hatte der Major noch den Versuch gemacht, den Stolzen zu spielen, den vornehmen, überlegenen Mann ihr zu zeigen, aber mitten in der schönsten Verbeugung, die er seinen Gästen machte, erschrak er, wurde klein, ging unsicher ab.
 Und die Wirtin sah ihm nach. Er ist wiedergekommen! jubelte sie. Draußen im Flur stand der Major gesenkten Blicks: Ich bin wiedergekommen! klagte er.
 Sein Schnurrbart hing tief herab. Der Stolze durfte sich nicht mehr zu gut fühlen für seine Umgebung, er durfte sich nicht mehr erheben über sie alle, die um ihn waren, nicht mehr prahlerisch auf sie herabsehen, denn alle wußten nun, und er wußte es nun, daß es nur ein Spiel war, was er gespielt hatte die ganze Zeit, und es spielt sich nicht mehr gut unter solchen Umständen.
 Da begann sein Verfall. Er saß stundenlang allein in einer dunklen Ecke und dämmerte vor sich hin. Er hatte früher großen Wert gelegt auf saubere und schöne Kleidung, jetzt fing er an sich zu vernachlässigen. Sein Hemd war blütenweiß gewesen sonst immer, es zeigte braune Flecken jetzt vom Kaffee und rote vom Wein, so unachtsam war er geworden. Täglich hatte er sich früher rasiert, nun standen ihm die Stoppeln struppig am Kinn, tagelang, und es war zu sehen, daß weiße darunter waren. Er trank viel, mehr als je,
am frühen Nachmittag schon hatte er den Wein vor sich auf dem Tisch.
 Die Wirtin konnte sich ihres wiedergewonnenen Mannes nicht freuen. Er vermied sie, schlich aus der Stube, wenn sie kam, trieb sich viel im Stall herum, saß auf der Futterkiste mit baumelnden Beinen und rief hie und da der Kuh ein Wort zu, die den Kopf nicht zu ihm wendete.
 Sein Gesicht wurde gelb, als sei er krank, und er war auch krank, und die Krankheit saß tief, tief innen, spürte er. Wie ein schönes Spielzeug war er, an dessen Feder etwas in Unordnung geraten ist, eine beschädigte Tanzpuppe, die ein paar Bewegungen noch macht, aber dann plötzlich mitten im schönsten Schwung knackend und wie gelähmt stillhält.
 Das Haar wucherte ihm wirr und ungeordnet auf dem Schädel, hing in Strähnen ihm in die Stirn.
 Wie ein Adler war er der bewundernden Frau einmal vorgekommen, nun waren ihm die Flügel gestutzt und er hüpfte lahm und ungelenk und kläglich herum.
 Es war trübes Wetter in diesen Wochen. Ein gleichmäßig grauer Himmel spannte sich über das Land und Regen, Regen fiel ohne Unterlaß. Es plätscherte und tropfte von allen Dächern, trommelte gegen die Scheiben, es regnete des Abends, man ging zu Bett beim Geräusch des rinnenden Wassers und hörte es noch in Schlaf und Traum und beim Erwachen dröhnte die Regenorgel schallend noch. Der Regen fiel oft lange Stunden dünn und gleichmütig und verstärkte sich plötzlich dann, rauschend brauste es herab, wolkenbruchartig, Wasserfluten stürzten, aber dann ließ seine Gewalt wieder nach, dünner floß er, als sei er ermattet, und manchmal schiens, als versiege er ganz. Aber eben dann begann er mit neuer Kraft zu strömen. Die Kastanie im Hof stand mit schlappen Blättern, aber ihr Grün war leuchtend und üppig geworden, ihre Rinde glänzte feucht, und ihr bekam der lange Regen.
 Der Major lehnte unter der Tür zum Hof und sah in den Regen hinaus, und um seine Beine schmeichelte buckelnd die Katze. Er hob das Tier auf, das seinen dicken Katzenkopf zärtlich an seinen Hals drückte, streichelte es, wohlig beganns zu schnurren. Er hielt es fest im Arm, tat ein paar Schritte in den Hof hinaus und stand im Regen. Die Kastanie rauschte wie in langem Selbstgespräch, aber der Major verstand nichts und hörte kopfschüttelnd zu. Er hob das Gesicht zum Baum empor, und der Regen rann ihm übers Gesicht und in den Hals. Die Katze suchte Schutz vor der Nässe, wühlte sich mit dem Kopf unter seine Schulter, preßte sich fest an ihn, sie liebte das Feuchte nicht, wie alle ihresgleichen. Aber das half ihr wenig, der Regen traf sie, sie miaute leise, wurde ungeduldig dann, zappelte und buckelte, schlug zornig mit dem Schwanz und drängte zur Türe. Der Regen wusch ihr das Fell, und der Kopf des Tieres war viel kleiner geworden, weil ihm die nassen Haare so eng anlagen. Es versuchte sich loszureißen, warf sich hin und her, gebrauchte die Krallen, fauchte bös und biß den Major wütend in die Hand. Er sah das Blut, mit Regen vermischtes helles Blut, und das Blut hatte sich auch auf den Katzenkopf hingeschmiert. Da gab er das Tier frei, mit einem Satz war es am Boden stand mit gekrümmtem Rücken einen Augenblick und schoß dann durch die offene Tür ins trockne Haus.
 Der Major blieb stehen im Regen, der sich wieder verstärkt hatte. Er fühlte, wie die Nässe ihm durch den Anzug drang, wie ein eiliger, dünner, kalter Wasserfaden den Weg zwischen seine Schulterblätter genommen hatte, ihm über den Rücken lief, als rühre ihn eine eisige Hand an. Das trockene Haus lockte auch ihn, wie es die Katze gelockt hatte. Er tat einen Schritt auf die Tür zu, aber schüttelte verzweifelt den Kopf und blieb. Er war bald gänzlich durchnäßt dann, kein trockener Faden war mehr an ihm, er fror, und einmal durchzuckte ihn wie ein Feuerstoß plötzliche Hitze. Wenn er den Arm schlenkerte, fuhrs tropfensprühend von ihm, wenn er von einem Fuß auf den anderen trat, rührte sich das Wasser in den Stiefeln, aber es mußte ihm hier unter den Güssen des Regens doch wohler sein als im trockenen Haus, denn er verharrte, obwohl ihn der Frost schüttelte, und horchte auf das Plätschern und Wispern der Kastanie.

Drei Tage später und drei Wochen nach dem Tag, an dem er bei dem Froschteich umgekehrt war, ging der Major mit dem Fronleichnamszug, den er sich die Jahre vorher nur vom Fenster seiner Stube aus angesehen hatte. Er ging in Uniform hinter dem Traghimmel, die Offiziersmütze in der Hand, auf der Brust die Orden, den Säbel an der Seite, in der rechten Hand eine brennende Kerze. Die Glocken läuteten, alles sank in die Knie, bekreuzigte sich. Der Wirt, der Major tats auch, er kniete in edler Haltung, wie bei einer Feldmesse, er war das Glanzstück der Prozession. Der Himmel war blau, der Schnurrbart des Soldaten wehte, der Major war häßlich, aber vornehm.
 Die Magd sah ihn an und fand das, und die Wirtin sah ihn an und fand das, und der Knecht sah ihn an und fand das, die ganze Gemeinde fand das.
 Das Dorf war festlich geschmückt. An allen Haustüren standen junge Birken, schwarzweißgefleckt die Rinde, die grünen Blätter sausten im leichten Wind. Auf den Straßen war Gras gestreut, von den Fenstern hingen rote Tücher, goldgestickt. Aus allen Wirtshäusern roch es nach Bratwürsten.
 Der Major ging heim nach Schluß des Umgangs. Der Säbel schaukelte an seiner Seite, die Orden auf seiner Brust schaukelten, die halbniedergebrannte Kerze trug er gesenkt, mit dem schwarzverkohlten Docht nach unten. So ging er ins Haus, durch den Hausgang auf den heißen Hof und über den Hof in den leeren Stall. Er setzte sich auf die Futterkiste, befahl »Stillgesessen!«, nahm die Absätze fest zusammen, sah gerade aus, rührte sich nicht, wie er es sich befohlen hatte.
 Er rührte sich nicht, bis eine schwarze Fliege surrend gegen ihn geflogen kam und sich auf der Kiste niederließ, dicht neben ihm. Er bog die Hand, das schwarze Tier zu fangen, aber das summte ein Stück weiter, zum Kistenrand. Der Major rückte nach, nun auf allen Vieren, die Ordenskreuze hingen schräg nach vorn, und mit raschem Zugriff hatte er die Fliege, in seiner hohlen Hand saß sie gefangen, brummte zornig, stürmte, er fühlte es kitzelnd, gegen seine Handfläche, versuchte in die Täler zu entkommen, die seine nebeneinanderliegenden Finger bildeten, stieß heftig in dem schwarzen Turm nach oben.
 Der Major saß wieder auf der Kiste, neben ihm lag die Kerze, er hielt die Faust vors Ohr und horchte auf das Rütteln und Rasseln seines Gefangenen, das immer stärker anschwoll.
 Und plötzlich verstummte, als er zudrückte.
 Er blieb auf der Kiste sitzen den Rest seines Lebens, und dieser Rest war ja nur mehr sehr kurz, und er stand in seinem Leben nur noch einmal auf, um in die Stallecke zu gehen und sich dort davonzumachen. Vorher holte er noch Streichhölzer aus der Hosentasche und entzündete die Fronleichnamskerze noch einmal. Er ließ vom weißen Wachs auf die Kiste tröpfeln, drückte das Kerzenende fest in das allmählich verhärtende Flüssige, so brauchte er keinen Halter, die Kerze stand aufrecht, und die kleine Flamme brannte ruhig und schön und leuchtete ihm.
 Sie brannte ruhig und schön noch, als sie ihn hängen fanden, das Kinn auf die Brust gedrückt, eigensinniges Kinn.
 Die Wirtin schrie, als sie ihn so sah, die Magd ging nach rückwärts hinaus, ohne einen Blick von dem Toten zu wenden, der Knecht schnitt ihn vom Strick, und die Kerze auszulöschen vergaß man.
Niemand sah, wie dann der Brand entstand, aber es ist wohl kein Zweifel daran erlaubt, daß die sterbende Kerze es war, die vorm Verlöschen das Feuer weitergab. Das mag gequalmt und gewirbelt haben im engen Stall, die Schwaden stiegen und fielen und drängten und schoben sich, und durch das kleine Stallfenster muß der schwarze Rauch gefahren sein, dick und fett und branstig riechend und in wütenden Stößen. Und es muß schön gewesen sein, wie durch die Rauchwolken die gelben Flammen unruhig zuckten, wie das aufgeschüttete Heu in der Ecke prasselnd und funkenwerfend sich aufbäumte, wie das Holz der Balken und der Futterkrippen glühend sich wand.
 Aber niemand sah etwas, niemand roch etwas, niemand hörte etwas, weil alles im Haus um den toten Major versammelt war.
 Als endlich der Ruf »Feuer!« scholl und man vom Toten weg aufgestört in den Hof lief, saßen die Flammen schon züngelnd am First, und aus den Dachfenstern schlug das Feuer mit zornigen Armen. Der Stall brannte nieder, und die Feuerwehr konnte nur noch erreichen, daß der Brand nicht auf die Nachbargebäude übergriff.
 Es war ihr aber nicht möglich, und sie versuchte es auch gar nicht, zu verhindern, daß die Hitze, die von dem Feuer ausstrahlte, die Blätter des Kastanienbaums versengte, auf der Seite wenigstens, die dem Stall zugekehrt war. So war es ein furchtbarer Anblick, den der Baum bot, dessen Krone zur einen Hälfte üppig und grün und in Büscheln wuchernd prahlte, strotzend und in Saft, während zur andern Hälfte die Blätter schwarz verkohlt und von der Glut schrecklich und schmerzlich gekrümmt an den verrußten Zweigen sich noch mühsam hielten.
 



 
 

Drucknachweise und Anlagen:

S.137 Der Major
Zuerst erschienen mit zum Teil erheblichen Abweichungen u.d.T Der Majorswirt in: die neue linie, 1, 1929, H.1, S.22-25 [September] und H.2, S.38-39 [Oktober] (mit Illustrationen von Erik Richter). [E] -Den zuvor in der Vossischen Zeitung erschienenen autobiographischen Text Über eine bayerische Wirtsstube (Vossische Zeitung, Nr.114, 16.5.1928) [D1] integrierte B. in etwas veränderter Form in die Novelle. - Eine teilweise gekürzte, teilweise erweiterte Fassung erschien in: Die Einkehr
(= Unterhaltungsbeilage der Münchner Neuesten Nachrichten), Nr.28, 10.7.1932, S.109. [D2]
Nach S.145, Z.14; S.156, Z.15; S.161, Z.36 folgt in der Druckvorlage jeweils ein Absatz mit Leerzeilen.
S.137, Z.31: Eine große, gelbe Sandgrube tat sich auf. E: Hinter diesem Dorf jetzt war eine große, gelbe Sandgrube.
S.138, Z. 6f: Es war eine Welt für sich, die gelbe Sandgrube, E: Nur diese gelbe Sandgrube war jetzt auf der Welt, und
S.138, Z.35: da lag ein großes Dorf E: da lag das Jenseitsdorf. Es war ein großes Dorf
S.140, Z.1f.: Der Wirtin Urgroßvater war E: Wie die Wirtin oft erzählte, war ihr Urgroßvater
S. 140, Z.3: Das Haus hatte E: Das Haus, in dem diese Wirtsstube zu finden ist, hatte
S.140, Z. 4f.: gehört, von dem es der alte Soldat erworben hatte. E: gehört, aber zur Zeit der Säkularisation hatte es der alte Soldat vom Staat erworben.
S. 140, Z.33-35- Er war sorgfältig [...] Hosen E: Er war halb städtisch, halb bäurisch gekleidet, trug lange, schwarze Hosen
S.141, Z.2f: blütenweißen Hemd. E: Hemd, einem weißen Hemd mit festem Kragen daran.
S.142, Z. 6f.: daß er die Realschule E: daß er vier Jahre die Realschule
S. 142, Z.21: Blicke. E: Blicke, sie bewunderte seine Verbeugungen. ,
S.142, Z.27: führte [/] E: führte. Dabei saß er wie die Made im Speck, in Fett eingewickelt, sorgenlos, ging auf die Jagd und war bestimmt ein schlechter Jäger.
S.143, Z.28f.: leer (...] standen. E: leer, sonst standen nebeneinander eine Kuh, ein Zugochse und ein Pferd.
S.1466, Z.11: natürlich!« E: natürlich!« [/] Die Wirtin war ja keine Bauernfrau. Sie hatte in ihrer Jugend ein paar Jahre eine höhere Schule besucht und las heut noch viel, Romane, mit Vorliebe Geschichtswerke, und trug sich halb städtisch gekleidet, und die Demütigung, die sie vorhin im Stall hatte sehen müssen, die ertrug sie nicht. Und sie wußte wohl, sie würde leicht geschieden werden, und so wiederholte sie fast jubelnd und sah ihn blitzend an (ja, sie vermochte jetzt blitzend zu schauen, und einen solchen blitzenden Blick hatte der Major noch nie an seiner Frau gesehen und ihn ihr nicht zugetraut), wiederholte blitzenden Auges und leicht jauchzend: »Scheiden laß ich mich!«
S.1466, Z.20: dachte er nach. E: dachte er nach. Dieses Wort bedeutete etwas, dieses Wort bedeutete sogar viel, und dämmernd ahnte er, was es wohl bedeute. So machte es der Major bei dieser Begegnung mit der Magd.
S.147, Z.25: der Magd Schuld. E: der Magd Schuld. Die Magd besah das rote Haar. Die Wirtin hat auch rotes Haar, dachte sie, das der Wirtin war heller, blondrot, verwaschen. Es gab viele Rothaarige im Dorf. Die Wirtin und ihre Tochter waren auch dabei. Und der Hans! sagte sie sich.
S.148, Z.33: Die Magd hatte gesagt: E: Weil oben wieder die Magd auf den Fußboden stampfte.
S.149, Z.17: richtete sich auf E: richtete sich auf, verlor die elegante Biegung seiner Kavalierhüften
S.150, Z.17: achtzig E: 150
S. 151, Z.8f.: sagte er sich. [/] »Was fällt dieser Frau ein?« E: sagte er sich. [/] Er war kleinmütig. »Was fällt dieser Frau ein?«
S.151, Z.23-25: schleimig triefend (...] besiegte es. E: schleimig triefend von den schlappen Maullappen.
S.152, Z.27 - S.153, Z.2: Der Major zog die Uhr [...] schlüpfte in den Mantel. Fehlt in E.
S.153, Z.5-36: wie Wache haltend [...] Koffer auf und E: wie Wache haltend. Er summte den Gesang der Frösche mit, brummte im gleichen Ton. (/] Den Abendzug konnte er wohl nicht mehr erreichen. Aber morgen früh ging ja auch einer. Und eine Nacht im Freien, im Mai, er dachte an den Krieg, die war leicht auszuhalten, hier, wo nicht geschossen wurde. Aber klang das gleichmäßige Tönen der Frösche nicht wie das Rumpeln eines fernen Trommelfeuers? Der Major zog den Mantel an, setzte sich auf das Köfferchen, weil das Gras anfing feucht zu werden, und beschloß, hier den Morgen zu `erwarten. [/] Aber, wieso sollte er das? Eine Nacht würde er wohl noch in seinem Zimmer, im Wirtshaus zubringen dürfen? Es war ja nur eine Stunde Wegs zurück. Bei dem Geschrei der Frösche war ja doch an Schlaf nicht zu denken. Er hob sein Gesicht, streckte seine Adlernase in die Richtung zum Dorf zurück, und
S.154, Z.5-12: Im Schlafzimmer [...] nur ihn an. E: Im Schlafzimmer saß die Wirtin unausgezogen auf der Bettkante. Der Mond, der den Major beschien, beschien auch sie und sie sah in das Mondlicht hinaus und dachte an den Major.
S.154, Z.18: Baumkronen. [/] Sie E: Baumkronen. [/] Er war ein Kavalier, der Major, und war gegangen. Das hätte sie ihm nicht sagen dürfen, was sie ihm aber doch gesagt hatte. Das mit der Magd war schlecht, sehr schlimm, aber sie
S. 154, Z.25-32: mit mächtigen Adlerschwingen [...] das sie ihm bot? E: mit seiner Adlernase. Wo strich er dahin? Er war stolz. f/1 Sie stützte die mageren Ellbogen auf der Fensterbrüstung und seufzte. [/] Es lag ihm also nicht so viel an dem warmen Nest. Er war stolz und ging.
S.156, Z.27: das war der Major. E: das war der Major. Und das Netz, in dem sie saßen, das war die Tat, die zwischen dem Major und der Magd geschehen war, und das Netz war nachgiebig und grau und weich, aber es hielt.
S. 157, Z. 12-15: Anfangs zwar[ ...] die er seinen Gästen machte E: Zwar der Major spielte vor ihr immer noch den Stolzen. Er gockelte umher wie je, aber mitten in der schönsten Verbeugung, in der kühnsten Haltung
S.157, Z.18: jubelte sie. E: jubelte sie. Des warmen Nestes wegen? Mißtraute sie.
S.157, Z.19: klagte er. E: klagte er. [/] Wenn er zum Fenster hinaussah, in den Regen hinaus, und sagen wollte: Miserables Bauernnest, verstummte er. War er nicht wiedergekommen? Wenn nach dem Essen der Geruch von Fleisch und Kraut in der Stube hing, und er die Nase rümpfte, schon war die Frage da: Warum bin ich wiedergekommen?
S.157, Z.22-26: über sie alle [...] unter solchen Umständen. E: über seine kleine Welt, und wie im Sinnbild vollzog er bald danach offensichtlich die vollständige Versöhnung.
S.157, Z.27-S.160, Z.7: Fehlt in E.
S. 160, Z.34: in den leeren Stall. E: in den Stall, wo Ochs und Pferd standen und sich nach ihm umsahen.
S.161, Z.4: schwarze Fliege E: schwarze Fliege, die auf dem Bauch des Pferdes gesessen war, von einem Schwanzhieb verscheucht
S.161, Z.2o- S.162, Z.31: Fehlt in E.
D1 ist integriert in B S. 139, Z.6 - S. 40, Z.26 mit folgenden Abweichungen:
S.140, Z.16-20: Stube [...] Neben einem Fenster D1: Stube. Das Verhältnis der Höhe der Bänke zur Tischplattenhöhe war wundervoll. Man bekam sofort Lust, sich zu setzen und lange sitzen zu bleiben, und Arbeitslust bekam man. Wenn man mir ein Blatt Papier auf den blütengelbweißen Tisch hingelegt hätte, ich hätte sicher mühelos ein schönes Gedicht gemacht. Das bildete ich mir wenigstens ein. Auch die Verhältnisse des Raumes sonst waren schön und einschmeichelnd. Ich war nur eine halbe Stunde dort, ich werde nächstens, obwohl der Ort abgelegen ist und schwer zu erreichen, wieder hingehen. Ich kann nicht sagen, woher der Wohllaut des Raumes kam, aber ich empfand ihn sofort süß und beruhigend beim Eintritt. [/] Es gäbe noch mehr zu rühmen an der Stube. Die Fenster sitzen tief in den dicken Mauern, so daß die Fensterbretter einen halben Meter breit sind, da können Katzen gut darauf schlafen. Ein schwarzer Dackel war da, fett, schwer schnaufend, ich schätzte sein Alter auf zehn Jahre, aber die Wirtin, die Frau Majorin - er war nicht da, der Herr Major, war auf der Jagd-, sagte, er sei erst vier Jahre alt, aber er habe wenig Bewegung und gutes Fressen, und das bekomme ihm so wohl, oder so schlecht. [/] Über meinem Platz am Tischende beim Fenster
S.140, Z.26: Der Schluß in D1 lautet abweichend: [...] aus seiner früheren Zeit. Die Wirtin wußte viel von der Chronik des Hauses, erzählte manches, brachte ein altes Stammbuch, trotzdem hatte die Stube nichts Museumshaftes, dazu war sie ja zu lebendig, war ja im täglichen Gebrauch, das spürt man doch. [/] Es war in der Osterzeit, und ich saß kaum, da brachte mir die Wirtin, mit der ich noch gar nicht gesprochen hatte und von deren militärischer Würde ich noch nichts wußte, auf einem irdenen Teller gefärbte Eier, als Geschenk, wie sie ausdrücklich und ohne Ziererei sagte. Die geschenkten Eier-wo geschieht einem das noch?-schmeckten gut, der Wein funkelte in einem altertümlichen, dicken Glas. Eine Magd ging durchs Zimmer, in dunkler Kleidung, Mieder, Wespentaille, es war wunderschön.
S. 161, Z.2o-36: Der Schluß von D2 lautet: Auf dieser Kiste blieb er den Rest seines Lebens sitzen, und dieser Rest war ja sehr kurz, und er stand in seinem Leben nur noch einmal auf, um in die Stallecke zu gehen und sich dort davon zu machen, denn soviel Offizier war er doch, so viel Mut hatte er doch, um nicht mehr leben zu mögen, nachdem er so elend besiegt worden war. Sie fanden ihn hängen, in Uniform, den Säbel umgeschnallt, das Kinn auf die Brust gedrückt, eigensinniges Kinn, der Schnurrbart wehte. [/] Die Wirtin schrie, als sie ihn so sah, die Magd ging nach rückwärts hinaus, ohne einen Blick von dem Toten zu wenden, der Knecht schnitt ihn vom Strick. [/] Das Pferd wieherte, die Kuh schlug mit dem Schwanz nach den Fliegen und auf der Futterkiste die Mütze blitzte herrisch.
Ein Handexemplar B.s [D3], das dieser (wahrscheinlich Mitte bis Ende der dreißiger Jahre) für Lesungen benutzte (Privatbesitz), weist folgenden handschriftlichen Zusatz auf -
S.138, Z.32: Himmel. D3: Himmel, - so lebt sich das Leben, und es ist nicht das schlechteste.
Für den Text der Gesamtausgabe (E1, S. 179-207) hat B. folgende Kürzungen und Korrekturen vorgenommen:
S.141, Z.23-25: Es war etwas Fahriges [...] Armbewegungen. Fehlt in E 1. S.141, Z.30: strich seinen Schnurrbart. E 1: sagte:
S.141, Z.31: darum. E 1: darum. Ich bin kein Bayer. S. 141, Z.32f: Er warf [...] hin und her. Fehlt in E1.
S. 151, Z.2: kampfesmutig Fehlt in E 1.
S.16o, Z.8-11: Drei Tage später [...] angesehen hatte. E 1: Und Herbst und Winter kamen, und wieder Mai und Juni. Der Major beachtete es kaum, immer gelber wurde sein Gesicht, immer mehr vernachlässigte er sich, so sehr, daß die Wirtin ihn mahnen mußte. Das machte wenig Eindruck auf ihn, er trank nur desto mehr vom roten Wein. Heuer ging er dann zum erstenmal mit der Fronleichnamsprozession. Er hatte sich so schön dafür gemacht wie lange nicht.
S. 162, Z. 13-15: Fehlt in E 1.
Den autobiographischen Hintergrund beschrieb B. in einem Brief an Wetzlar vom 21.August 1951:
Wenn du mein treues Eheweib hast [...], so steht darin eine Erzählung Der Major, und die Kulisse ist Altomünster, und das Urbild dieses Majors sah ich leibhaftig in Altomünster. Die beschriebene Wirtsstube gibts dort auch, aber es [ist] nicht das Bräustüberl [...].
Den Anstoß, nach Altomünster zu fahren, hatte B. offensichtlich von Schilderungen Ludwig Thomas erhalten, der von dem Ort schwärmte »als dem unberührtesten Fleck Altbayerns«, so daß B., wie es in jenem Brief an Wetzlar weiter heißt, »einmal hin mußte«: »Jahrelang, ehe ich dann hinkam, schwebte der Ort magisch vor mir!«