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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

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Band 3-2  Seite 209
Kommentar Seite 485

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«

..Diese Erzählung liegt, von Britting gesprochen, als CD 1 vor.



Der Sturz in die Wolfsschlucht

Eine kleine Gehstunde vor der Stadt dämmerte waldbeschattet die Wolfsschlucht, ein Felsenkeller, in dem eine Brauerei ihr Bier lagerte. Ob sie diesem Zweck auch heute noch dient, weiß ich nicht. Die gleichmäßige Erdkühle war dem Getränk bekömmlich und tat ihm besser, behaupteten die alten Leute, als die eisige Frische, die in den neuzeitlichen Lagerhallen durch Maschinen erzeugt wird. An Sonntagnachmittagen wurde das Bier dort auch zum Ausschank gebracht, süßes, dickes, braunes Bier, damals, vor dem Krieg, als das bittre Helle, das dann vom Norden her vordrang, noch wenig Liebhaber hatte bei uns. Heut ist das anders.
 An den Tischen unter den laubigen Bäumen war es kühl zu sitzen, die Sonne drang nicht durch das Blätterdach, man ahnte nur ihre heiße Kraft, die zitternd oben liegen mochte. Hummeln brummten herbei, von draußen, von den Wiesen, und grünschillernde Fliegen zogen unermüdlich ihre Kreise und fanden, was sie suchten, und saugten an dem süßen Vergossenen.
 Ich war mit meinen Eltern gekommen an diesem Junisonntag. Ich war, wie alle Kinder, kein Freund dieser Familienausflüge, die unter den strengen Augen der Erwachsenen mir mehr eine lästige Pflicht zu sein schienen denn ein Vergnügen. Aber wenn man sich schon nicht ausschließen konnte, so suchte man sich diese erzwungenen Wanderungen genußreicher zu machen, indem man neben den gebahnten Wegen herlief, Blumen ausriß und achtlos wieder fallen ließ, Erkundungen auf eigene Faust ausführte, mit Steinen nach Fröschen im Bach warf, Nachzügler war oder weit vorausprellte und sich nicht viel daraus machte, mahnend immer wieder beim Namen gerufen zu werden. Heut war ich still und verdrossen und ohne einmal vom Weg abzubiegen, mitgegangen und saß nun ruhig am Tisch, in Gedanken versunken. Es waren bittere Gedanken, die mich plagten, und die mit der Schule und ihrem Pflichtenkreise zusammenhingen - womit denn sonst bei einem Vierzehnjährigen?
 Morgen war eine Schularbeit zu leisten, in der Geometrie, und das war ein mir verhaßtes Fach, in dessen Geheimnisse ich noch nie so recht eingedrungen war, ich im Leben nicht eindringen würde, wo es Fallen gab, in deren jede ich stürzte, und Irrwege, die ich hoffnungslos ging und nie einen Ausweg fand, und wenn ich mir nur vorstellte, wie das sein würde, morgen, wenn der Lehrer hereinkam und die leeren, weißen Blätter verteilte, die mit Linien und Zahlen zu füllen waren, so lief mir ein kalter Schauder über den Rücken.
 Meine Mutter sah mich besorgt an, ich war wohl zusammengezuckt bei dem Gedanken an das Schreckliche, das mir morgen bevorstand, und sie meinte, daß ich mich ein wenig verkühlt hätte, hier im Schatten nach dem heißen Weg, und hieß mich in die Sonne zu gehen, auf die Wiesen hinaus.
 Ich stand auf, ich ging gern, ich war froh, dem allem hier entrinnen zu können. Die lustigen Menschen ringsum kränkten mich, ihr Glücklichsein machte mich bös und neidisch, und sie schienen mir alle glücklich, die hier auf den Bänken saßen, das Bier vor sich, und Käse und Rettiche aßen und rauchten und lachten und unbesorgt schwatzten, und die alle längst nicht mehr zur Schule gehen mußten und nichts zu verstehen brauchten von gleichschenkligen Dreiecken und Winkelberechnungen.
 Ich trat, fröstelnd noch, in die Sonne hinaus. Am Grunde eines mit Büschen bestandenen, nicht tiefen Hohlwegs saß ein vielleicht sechsjähriger Junge, der an einem dünnen Zweig einen schwarzen Käfer in die Höhe klettern ließ und vorsichtig und gemein immer dann, wenn der eifrige Sechsfüßler die Spitze fast erklommen hatte, den Zweig gänzlich herumdrehte und das betrogene Tier von neuem seinen stets vergeblichen Weg nach oben nehmen ließ.
 Vor einem kleinen Waldstück spielten Mädchen, hielten sich an den Händen gefaßt und gingen im Kreise und trennten sich und fanden sich wieder und standen dann still und schwangen die wieder verschlungenen Hände hin und her und sangen mit hellen Stimmen etwas von einem goldenen Fisch im Wasserfall, was mir recht läppisch vorkam. Ich fühlte mich neben diesen Geschöpfen schon ganz wie ein Erwachsener und: »Hat man denn hier nirgends Ruhe?« sagte ich ingrimmig vor mich hin, sah die erstaunten Sängerinnen mit einem zornigen Blick an und stieg langsam eine Wiese empor, die schräg wie ein Dach nach oben lief. Am First der Dachwiese standen Büsche wie aus Silber vor dem Blau des Himmels. Es war eine etwas kümmerliche Wiese, das Gras wuchs niedrig und wenig dicht, und immer wieder sah der graue Stein durch das Grün. Ich war dann oben bei den Büschen, es waren Haselnußstauden, und hellgrün schimmerten die gekrausten Mäntel, welche die junge Frucht bargen. Jenseits der Stauden lief die Wiese wieder hinab und dann ein Stück eben dahin und endete in einer schwarzen, krummen, gefährlich aussehenden Linie: da war es, wo sie anscheinend zur Wolfsschlucht abfiel, und es mochte geraten sein, nicht allzu weit an den Rand vorzugehen.
 Ich blieb bei den Büschen, streckte mich ins Gras, die Arme aufgestützt, sah im Sommerrauch die Stadt liegen, mit den steilen Dächern, den beiden grauen Domtürmen, um die der Dunst wallte, sah das glänzende Band der Donau weit über die Ebene geworfen, und fern ragten die festen, schwarzen Rücken der Vorberge des Bayrischen Waldes.
 Von der Wolfsschlucht herauf drang verworrenes Geräusch, ein Lachen hier und da, und jetzt auch der Ton einer Drehorgel, die ein Bettler in Tätigkeit gesetzt haben mochte. Das scholl traurig und süß her, und jetzt fiel mir wieder schwer aufs Herz der Gedanke an den morgigen Tag, und was er mir brachte. Allein und ganz auf mich angewiesen lag ich hier unter den Stauden, und rings leuchtete die Welt im Glanz, scherzten die Erwachsenen und sangen und tanzten die Kinder im Glück. Ich seufzte tief.
 Auf der Wiese wuchsen kleine, blaue Glockenblumen, die auf zarten Stielen zierlich und demütig schwankten. Ich pflückte einige im Liegen, die auf Armlänge zu erreichen waren, vier oder fünf, das war schon ein kleiner Strauß. Ich würde einen tüchtigen, schönen, vollen Strauß sammeln und ihn meiner Mutter bringen, beschloß ich, die würde sich freuen, sicherlich, und ihn daheim ins Wasser stellen. Es war vielleicht ein wenig unmännlich, so zu tun, überlegte ich, Sträuße zu pflücken war eine Mädchenangelegenheit, schien mir, aber wenn ich mich jetzt sanft erwies und mich demütigte, so konnte es mir gelingen, empfand ich unklar, das Schicksal, das über mir stand, gnädig zu stimmen durch eine solche Handlung der Selbstüberwindung und der zärtlichen Sohnesliebe.
 Ich stand also auf und bückte mich oftmals und hatte bald einen stattlichen Strauß gesammelt. Bei jeder Blume, die ich brach, wurde ich zuversichtlicher, die Sicherheit in mir wuchs, daß es morgen so arg nicht kommen würde, auf eine rätselhafte und zauberische Weise war es möglich, fühlte ich, das Schicksal zu beschwören, und ruhig wurde meine törichte Knabenseele.
 Unversehens war ich dem Rand nahegekommen, wo es jäh zur Wolfsschlucht abfiel, deutlicher schon hörte ich die Stimmen der Trinker heraufschallen. Dort wuchs ein ganzer Büschel der blauen Glocken, besonders hochstielig, besonders schön waren sie, schien es mir, und lockten, wie nur die Schönheit unwiderstehlich lockt, die dicht am Abgrund doppelt glänzt.
 Gerade die muß ich noch haben! schoß es mir glühend durch den Sinn, die hole ich noch, gelobte ich mir, und die kleine Gefahr, die damit verbunden war, sie zu pflücken, machte die Durchführung des Gelübdes nur noch löblicher. Ich wollte mich schon auf den Bauch legen; um vorsichtig kriechend mich dem Standort der Blumen zu nähern, aber dann kam mir das feige vor, und es war verdienstvoller, aufrecht an sie heranzugehen, und so nur war es schicksalswendend.
 Mit kleinen Schritten, behutsam Fuß vor Fuß setzend, ging ich den gefährlichen Weg. Ich bemühte mich, nicht in die Schlucht hinabzusehen, um nicht schwindlig zu werden, aber einen schnellen Blick wagte ich doch, sah Baumkronen und wehende Sträucher, ein grünes Dach unter mir, und sah wieder weg und bückte mich und pflückte eine der Glocken, und spürte, wie der Boden unter mir wegbröckelte, das ganze Rasenstück, auf dem die Blumen wuchsen, sich vom Fels löste. Ich wollte mich noch zurückwerfen, aber es gelang mir nicht, und den Strauß fest umklammernd, als hätte ich daran Halt, sank ich in die Tiefe.
 Ich weiß noch, daß es ein wunderbar beseligendes Gefühl war, so zu schweben, daß ich keine Angst hatte, nur die heftige Empfindung der Sonderbarkeit, die es bedeutete, wie ein Vogel fast im luftigen Raum sich zu schwingen. Ich merkte, daß ich wie ein Taucher mit dem Kopf voran die Luftflut durchschnitt, und ich erwartete nicht besorgt den Aufschlag, der doch kommen mußte, den Zusammenstoß mit der harten Erde, der doch unvermeidlich war, ich flog nur, es war mir wie im Traum, es rauschte um mich mit vielen Stimmen, ich flog nur und flog und genoß es zu fliegen, und der Flug nahm kein Ende.
 Im Biergarten unten hatte man einen Schrei gehört, einen lauten und grellen Schrei, und niemand hatte daran gezweifelt, daß er ein Unglück anzeigte. Von dieser Art war der Schrei, den ich ausgestoßen hatte, ohne es zu wissen, es war der entsetzte Schrei des Körpers, der sich fürchtete, während der Geist heiter die luftige Reise genoß. Meine Mutter war bleich aufgestanden vom Tisch, als sie diesen Schrei hörte, und auch sie hatte nicht daran gezweifelt, daß der Schrei etwas Schlimmes anzeigte, und sie hatte auch nicht daran gezweifelt, daß das Schlimme mich betraf: sie war bleich und wankend aufgestanden vom Tisch, erzählte mir mein Vater später, und hatte meinen Namen geflüstert und war weggestürzt, in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war.
 Im Biergarten unten war auf einer Bank vor seinem Krug ein blauer Soldat gesessen, sein Mädchen neben sich, und er hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt gehabt, und der Soldat war ein Unteroffizier mit breiten, goldenen Tressen am Kragen, und vom blauen Uniformrock hoben sich die weißen Sommerhosen prächtig ab. Und weil heute ein hoher militärischer Feiertag war, Regimentsgründungstag, es war in der Zeitung zu lesen gewesen, hatte er auch während des kleinen Ausflugs sich nicht vor der Hitze des Marsches mit der leichten blauen Mütze schützen dürfen, sondern hatte den ritterlich blitzenden Helm tragen müssen. Den Helm natürlich hatte er, während er aß und trank, neben sich auf die Bank gestellt, aber nun hatte er schon bezahlt und wollte gehen, nicht schnurstracks zur Stadt, mit seinem Mädchen noch wollte er einen behaglichen und liebevollen Umweg machen, und der Helm mit der schimmernden Schuppenkette saß schon auf seinem Kopf.
 Da scholl über ihm ein Schrei, es rauschte in den Zweigen des Baumes, in dessen Schatten er sein Bier getrunken hatte, dann empfand er einen heftigen Schlag auf die Schulter, und die Umsitzenden sahen, daß auf der Schulter des blauen Soldaten wie ein Turner, der eine Turnübung macht, sich ein Knabe stemmte, Knabenschulter auf Soldatenschulter, einen Augenblick der kleine Turner wie eine Kerze stand und dann über die Bank ins Gras stürzte und bewegungslos liegen blieb.
 Da kniete auch schon eine Frau neben dem Knaben, es war jedem klar, daß sie des Knaben Mutter war, und behorchte sein Herz, und das schlug noch. Und der blaue Soldat betastete seine Schulter, die wunderbarerweise unversehrt geblieben war, nur etwas schmerzte, und zog sein Mädchen an sich, das lachte und weinte in einem, und er bedachte, wie wohl die Folgen gewesen wären, wenn der unerwartete Besuch von oben seinen Weg nur ein wenig weiter nach links genommen, wie ihm da die Helmspitze bös funkelnd entgegengestarrt hätte, die unnachgiebige Helmspitze, härter als eine Knabenschädeldecke, und wie da wohl alles anders gekommen wäre, für den Knaben wohl und wohl auch für ihn.
 Weil Wasser nicht gleich zur Hand war, so schüttete man dem Bewußtlosen Bier ins Gesicht und auf die Brust, die man ihm entblößt hatte, das Getränk aus den Krügen auf den Tischen, und wenn das auch braun und dick war, kühl war es doch, froschkühl, und es nützte auch. Der aus dem Himmel Gefallene schauerte zusammen unter den Güssen, schlug die Augen auf, sah verwirrt um sich und lächelte verlegen und wischte sich mit dem Ärmel die klebrige Nässe aus dem Gesicht, und braune Flecken blieben ihm auf Stirn und Wange.
 Als er aber, von der Mutter gestützt, sich aufrichten wollte, sank er stöhnend gleich wieder zurück. Der rechte Knöchel schmerzte sehr, der war gebrochen, schien es, und auch der rechte Arm tat weh, im Ellbogen, tat aber nicht so weh wie der Knöchel; der Arm war wohl nur verstaucht oder sonst leicht beschädigt.
 Der blaue Soldat hatte auf das Unerwartete hin, das ihm zugestoßen war, sich doch noch einmal Bier bestellt. Der Tisch, an dem er saß, an dem er jetzt zu dem im Gras liegenden Abgestürzten hin sein Glas erhob, ihm freundlich zublinzelnd unter dem Helmrand her, ihm aufmunternd zutrinkend, der Tisch war mit Glockenblumen ganz übersät, daß es aussah, als sei da ein Fest gefeiert worden, wie man ja bei freudigen Anlässen Blumen zwischen die Gläser zu streuen pflegt. Und eine der Glocken lag wie mit offenem Mund über eine Bierlache geneigt, als trinke sie gierig.
 Von einem nahegelegenen Bauernhof lieh man sich Pferd und Wagen und einen Knecht, um mich in die Stadt zu schaffen. Man trug mich zum Wagen, mein Vater trug mich und der blaue Soldat, der sich das nicht nehmen ließ. Man lehnte mich vorsichtig in die Wagenecke, und mein Vater setzte sich zu mir, und für die Mutter war kein Platz mehr, sie mußte zu Fuß gehen, aber wenn sie einen abkürzenden Feldweg nahm, mochte sie nicht viel später als wir zu Haus eintreffen. Für die Fahrt im Wagen, mich zu betreuen und zu bewachen und nach der Ankunft über die Treppen zu tragen, war mein Vater als der Geeignetere befunden worden.
 Der Knecht schnalzte mit der Peitsche, der blaue Soldat legte die Hand grüßend an den Helmrand, und wir fuhren ab. Das Pferd, das uns zog, war ein großes, schweres Bauernpferd, das besser vor einer hochgetürmten Heuladung sich ausgenommen hätte, als vor dem zierlichen, auf kreischenden Federn wippenden Wägelchen, das wie ein Spielzeug wirkte hinter dem mächtigen Tier. Der Vater hatte den Arm sorglich um meine Schulter gelegt, so saß ich in guter Hut und sah in die vertraute Landschaft hinaus. Das Räderknarren klang lustig, der Wagen schaukelte, der braune Pferderücken glänzte in der Sonne, und der blaue Himmel wölbte sich fast wolkenlos. Wenn ich den Kopf drehte, sah ich den Staub uns in Wirbeln nachlaufen. Schmerzen hatte ich nicht oder nur wenig, und daß ich eine große Gefahr glücklich überstanden hatte, darüber wurde ich mir jetzt erst klar, und so war mir ein wenig zumut wie einem Genesenden nach schwerer Krankheit, der die Welt, die ihm wiedergegeben ist, anders und in frischen Farben, ja wie neu sieht.
 Und auf einmal kam mir zum Bewußtsein, mit einem Blitzschlag der Erkenntnis, unermeßlichen Glanz verbreitend, daß ich die Schularbeit morgen nun doch nicht machen mußte! Ich atmete tief auf und schmiegte mich fester an den Vater. Nicht bloß, daß ich morgen nicht zur Schule zu gehen brauchte und die gefürchtete Arbeit mir nichts mehr anhaben konnte, es lagen noch mehr schulfreie Tage vor mir, viele Tage wahrscheinlich, eine ganze lange schulfreie Woche möglicherweise, vielleicht sogar deren zwei oder drei, und dahinter dämmerten im rosigen Licht schon die großen, niemals endenden Sommerferien herauf. Glück ohne Maßen! fühlte ich und hätte schreien mögen vor Lust.
  Wir hatten uns der Stadt schon sehr genähert, hoch hob sich der Dom, die ersten Häuser kamen, die Straßen waren jetzt gepflastert, und die Hufe des Gauls klapperten hart auf den Steinen. Dort war schon das Jakobstor.
 Aus dem Jakobstor heraus, uns entgegen, kam, grünglänzend, ein Straßenbahnwagen. Ich sah ihn neugierig an, der Vater tat's, auch der Knecht auf dem Bock. Es war erst ein paar Tage her, daß die alte kleine Stadt, dem Zuge der Zeit folgend, mehr fast aus Prahlerei als weil es notwendig gewesen wäre, sich dieses Verkehrsmittels bediente. Es war ein großes Ereignis gewesen, als man den ersten Wagen geschmückt und bebändert seine Reise hatte antreten lassen, und man hatte es feierlich begangen mit Reden und Fahnenschwingen und blumenstreuenden Kindern. So ein Wagen also, neu und blitzend, kam uns entgegen, und der Wagenführer klingelte laut und oft hintereinander, er klingelte öfter wohl als es nötig war, auch ihm war seine Tätigkeit noch erregend ungewohnt.
 Aber sahen wir Menschen schon mit Staunen und wohl auch mit unbewußter Furcht auf das neuartige Gefährt, das ohne Pferde, die es zogen, geheimnisvoll einherrasselte, mehr noch erschrak das bäuerische Tier, das vor uns an der Deichsel ging. Es stutzte, drängte zurück vor dem Ungetüm, und als der Kutscher ihm eine mit der Peitsche über den braunen Rücken gab, stieg es hoch, schlug mit den Vorderbeinen in der Luft und raste dann in einem wilden Galopp davon. Vergeblich lehnte sich der Mann auf dem Bock in den Zügeln zurück, das scheu gewordene Tier war nicht mehr zu halten, und wir sausten donnernd durch das dunkle Tor. Den Wagen warf es hin und her, der Knecht zog die Bremse an, es schrillte, die Räder drehten sich nicht mehr, und schleifend wie ein Schlitten auf Stein und dann wieder in wilden Sprüngen ging die Fahrt. Erschrocken wichen uns die Menschen aus, drückten sich an die Häuserwände, schrien und winkten sinnlos mit den Armen. Ich sah die blitzenden Fenster der Wohnungen auf und ab tanzen, mir schwindelte, die Luft sauste mir kühl ums Gesicht, ich schloß die Augen, und wie auf einem Schiff im Sturm stieg und fiel ich nun im Dunkel. Einmal warf ich einen schnellen Blick auf den Vater neben mir. Der hatte ein sonderbar verschlossenes Gesicht, saß angespannt vornübergebeugt, sprungbereit sah er aus, und hatte mich fest an sich gezogen, als lauere er auf die Gelegenheit, wie eine Katze mit dem Jungen im Maul, mich mitreißend abzuspringen, und das linke Ende seines Schnurrbarts hatte er auf eine komische Art im Mund und biß darauf herum.
 Und dann, auf einmal, hatte das Pferd, so schien es, genug von dem sinnlosen Toben, stand so plötzlich still, daß der Wagen einen Sprung nach vorn machte und die Deichsel weit vorragte und das Geschirr und Gestränge sich verschob, daß es aussah, als wolle das Tier das lästige Lederzeug sich über Hals und Kopf stülpen. Mit den Vorderfüßen auf dem Bürgersteig stand es, vor einer mächtigen, spiegelnden Glasscheibe, und zitterte noch, und schlug mit dem Schweif. Es war ein Sattlergeschäft, vor dem der Ausreißer zu stehen gekommen war, und hinter dem Schaufenster aufgestellt war ein ausgestopfter Gaul, die Kunden anzulocken, und der hob den Kopf mit den großen, schillernden Glaskugelaugen stolz und kampfbereit gegen den stürmischen Ankömmling. Da hielt der Durchgänger nun vor seinem ausgestopften Ebenbild hinter der Scheibe, und es war erschreckend und lustig zugleich für die Leute, die lachend uns umstanden, sie so zu sehen, die beiden, Aug in Aug, da hielt es nun, das feurige Bauernroß, und bewegte die Ohren, die das Schaufenstertier, so lebendig es sonst auch scheinen mochte, doch nicht bewegen konnte. Dann, vom Knecht geleitet, der vom Bock gesprungen war und die Zügel gefaßt hatte, trat das Pferd langsam vom Bürgersteig auf die Straße zurück, dahin es gehörte. Und das sah aus, als weiche es furchtsam vor dem Gegner hinter dem Fenster, der es mit bösen, gläsernen Augen anstarrte.
 Die paar Straßen bis zu unserem Haus stieg der Knecht nicht wieder auf seinen Sitz, er führte das Pferd am Zügel, und wie er so neben dem Tier herschritt, Kopf an Kopf, erinnerte es mich an Abbildungen, die ich oft in Büchern gesehen hatte, die von Fahrten und Abenteuern erzählten, wo der Gepanzerte neben dem Streitroß einhergeht, in Waffen klirrend und den Helm bebuscht, und die Gefahr lauert und lockt, der feuermaulige Drache, und nun schien es mir im Wirklichen Gestalt angenommen zu haben und alte kriegerische Zeit war da und sah mich sternäugig an.
  Als dann der Arzt kam und mich beklopfte und behorchte und an mir zerrte und an mir herumdrückte und vieles fragte, stellte er fest, daß mir nichts Ernstliches geschehen sei, keine innere Verletzung sich finde. Der Knöchel, der jetzt sehr schmerzte und dick angeschwollen war, sei ganz heil so weit, nur eine unbedeutende Prellung sei's, der Arm aber, dem äußerlich keine Veränderung anzusehen war und der auch gar nicht weh tat, sei im Ellbogen gebrochen, müsse in Gips gelegt werden, aber erst morgen, und für heute tue es ein Notverband.
 Am anderen Vormittag kam der hilfreiche Mann denn auch und rührte in einer Schüssel den weißen Brei an und tauchte Binden hinein und zog sie durchtränkt wieder heraus und wickelte die nassen mir um den Arm und panzerte mich mit Gips. Ich saß aufrecht im Bett, ließ mir das alles wohl gefallen und zuckte nicht, wenn es weh tat, und sah die hochstieligen Glockenblumen blaugebüschelt am Rand der Wolfsschlucht stehen, und hörte unsre große, alte Wanduhr neun schlagen, und wußte, daß jetzt in der Schule ein bärtiger, bebrillter, mir im tiefsten zuwiderer Mann leere, weiße Blätter verteilte, die meine Kameraden mit Kreisen und Kurven und Zahlen zu bedecken hatten, und ich fühlte herzliches Mitleid mit ihnen, und zugleich stieg eine so ausgelassene, wilde Schadenfreude in mir auf, daß ich mich fest auf die Zunge biß, vor unterdrückter Wonne, und keuchte, und der Arzt nahm's für einen Wehlaut und meinte mir tröstend sagen zu müssen: gleich sei er fertig, der Gute, der Besorgte, und fuhr nur eifriger und behutsamer fort in seinem helfenden Werk.
 Ich lag wohlig im weißen Bett, den Tag darauf, die Sonne schien durchs Fenster, friedlich war es um mich und in mir, da erhielten wir den Besuch einer Frau, die am Sonntag auch in der Wolfsschlucht und Zeuge meines Sturzes gewesen war. Es sei sonderbar, ja, fast zum Fürchten gewesen, erzählte sie, daß, als ich schon auf der Erde lag und man sich um mich mühte, daß da aus dem Baum herab, durch dessen Zweige zuvor ich gefahren war, daß da eine Weile später, eine geraume Weile später, und gerade das war ja das Erschreckende, ein Regen von Glockenblumen niedergegangen sei, lautlos und sanft sich drehend ein blauer Blumenregen herniedergeströmt sei über den verlassenen Tisch. Die Blumen waren von dem Strauß, den ich gepflückt und im Sturz dann doch hatte losgelassen, und weil sie leichter waren als ich, und die Luft und der Wind sie behutsam und schaukelnd trugen, die langstieligen, so kamen sie erst an, blau und still wirbelnd, als ich, ihr Vorläufer, längst hart gelandet war. Diesen Blumenregen, dieses stille, zarte Tropfen, das leichte Aufschlagen der Glocken auf den Tisch, sagte die Frau, werde sie so bald nicht vergessen.
 Sie habe dann die Blumen vom Tisch aufgelesen und hier seien sie, sagte sie noch. Meine Mutter füllte ein hohes Stengelglas mit Wasser, tat die Glocken darein und stellte sie mir ans Bett. Da standen sie lang noch mir zu Häupten, die blauen, schändlich geraubten, verblüht schon bald, hängenden Kopfes, und raschelten, wenn man sie anfaßte, wie trockene Spreu, während mein gebrochener Arm, der Arm des Räubers, unter den stürmischen Heilkräften der Jugend wieder erstarkte und sich festigte und gänzlich wieder sich erneuerte, und sich bald würde wieder heben und strecken und biegen lassen, zu jeglichem Guten und Bösen zu gebrauchen, wie ich's nur wollte.



Drucknachweise und Anmerkungen:

S.2o9 Der Sturz in die Wolfsschlucht
Zuerst erschienen mit wenigen kleinen Abweichungen in: Europäische Revue, 12, 1936, S.329-337 [Mai]. - Auch in: Kindheitserinnerungen erzählt von Dichtern unserer Zeit, Köln: Schaffstein 1936, S.44-54 und, gekürzt, in: Der Bücherwurm, 22, 1936/37, H.7, S.166-169 [März 1937].
Zuvor u.d.T. Abenteuer in der Wolfsschlucht eine etwas stärker abweichende Fassung in: Münchner Illustrierte Presse, Nr.39, 1.10.1933, S.1216-1218. Auch in: Ausritt 1933/7934, München: Langen-Müller [Okt.1933], S.13o-141.
[E] -In Buchform erstmals dann in: Erzähler unserer Zeit,
hg. v. Rudolf Ramlow, Berlin: Franke [1934], S.209-221.
E weist folgende Abweichungen auf:
S. 214, Z.15f: Regimentsgründungstag, es war in der Zeitung zu lesen gewesen fehlt in E.
S. 218, Z.24 - S.219, S. 14: Der Abschnitt lautet in E: Der Knecht bekam das Pferd dann doch wieder in seine Gewalt, es fiel in Trab und dann in Schritt, und er sprang vom Bock und klopfte dem zitternden Tier den Hals und redete ihm gut zu, das immer noch unruhig auf den Beinen trat und den Kopf warf.
S.219, Z.20-22: wo der Gepanzerte [...] Drache fehlt in E.
S.219, Z.22-25: schien es mir [...] sternäugig an. E: und nun war es Wirklichkeit, und seltsam schön.
S.22o, 2.15 - S.221, Z.17: Fehlt in E;
E endet: und auch ein klein wenig Schadenfreude empfand ich.
Der Sturz in die Wolfsschlucht gehört neben Brudermord im Altwasser und Fischfrevel an der Donau zu den populärsten der autobiographischen Jugendgeschichten B.s. Dessen literarisch gestaltetes, negatives Verhältnis zur Schule scheint freilich nicht ganz den biographischen Tatsachen zu entsprechen (vgl. Conrad M. Färber: Brittings Jugendjahre in seiner Vaterstadt.
In: Mittelbayerische Zeitung, 29.4.1964).