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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung

Band 5  Seite 11
Kommentar Seite 368

Aus: »Der Schneckenweg«                                        als pdf - Datei öffnen


Der Schneckenweg

Um die Jahrhundertwende war der Freiherr von Zeeh, ein großer, magerer Mann mit feurigen Augen, schon weit über fünfzig Jahre alt, aber das sah man ihm nicht an, und seit über zwanzig Jahren war er Maler, nachdem er vorher Reitoffizier gewesen war, und das konnte man ihm eher ansehen, oder sich einbilden, es ihm angesehen zu haben, wenn man es dann erfuhr. Den kurzen Krieg gegen Frankreich im Jahre 187o hatte er als Leutnant mitgemacht und war verwundet worden, und der schlecht verheilte Schuß zwang ihn sein Leben lang, beim Gehen das linke Bein etwas nachzuziehen, aber das sah gut aus an ihm und gab seinem Gang etwas fröhlich Nachlässiges, damit er gleich auffiel. Zu reiten und seinen Dienst zu tun, daran hatte ihn der kleine Mangel nicht gehindert, und auch nicht einmal daran, zu Rennen in den Sattel zu steigen und über die grüne Grasbahn hinzufegen, und nicht seines verkürzten Beines wegen hatte er von der geliebten Waffe dann Abschied genommen, da war er schon Rittmeister, sondern weil es ihn unwiderstehlich vor die Staffelei hingezwungen hatte, Maler zu werden, und man zählte ihn bald zu den besten seiner Zeit.
 Aber er vergaß über dem Malen nicht zu leben, und tat das eine wie das andere mit aller Herzens- und Sinnenkraft, und hatte nur Staunen für die, die es anders damit hielten, oder halten mußten, in ihrer Schwäche. Er war ein Jäger, der den Bock und die Schnepfe und den roten Fuchs schoß, aber er konnte auch stundenlang, ohne die Flinte anzurühren, im hohen Sommergras liegen und träumen wie ein junger Dichter, der erwachsene Mann mit den ersten weißen Fäden im Spitzbart, aber Verse machte er nicht, wenn sie ihm auch durch den Kopf blitzen mochten, wie Gold funkelnd aus der schwarzen Tiefe herauf.
 Im Grase zu liegen: er hatte einen Lieblingsplatz dafür, eine Gehstunde nur von seinem Wohnhaus entfernt, unter einer uralten, geborstenen Weide, neben einem Bach, über den ein hölzerner Steg führte, und nirgendwo sonst wuchs das niegeschnittene Gras so hoch wie dort, in den Flußauen. Und wo vom Steg ab der schmale, brennesselüberwucherte Pfad sich zum Flusse wandte, da waren die vielen Schnecken, rote, ohne Haus, und graue, die ein Haus trugen, und wer den Pfad ging und die Füße noch so vorsichtig setzte, es knackte immer wieder, als zertrete man Nüsse, es waren aber die brechenden Schneckenhäuser. Und diesen Schneckenpfad ging der Freiherr im Sommer nicht gern, er führte aber am schnellsten zu seinem Hochstand am Fluß.
 Er liebte die Karten, das farbige Gebetbuch des Teufels, und spielte gern hoch und scharf, und wenn er nach dem Süden fuhr, sich den Winter zu verkürzen, und kein Jahr verging, da er das nicht tat, versäumte er es nie, den Umweg über die kleine weiße Bergstadt am Meer zu nehmen, darin sich die Spieler aus aller Welt einfinden, und zitternd erprobte er die rollende Glückskugel, Sieg und Niederlage mit Lust und Schmerz zu genießen, wie es sich eben traf.
 Den Freuden der Tafel war er sehr zugetan - wie hätte es anders sein können bei einem Mann seines Schlages! - und er hatte gern schöne Frauen und gute Freunde um sich am geschmückten Tisch versammelt und war, das heitere Weltkind, der angenehmste Wirt, den man sich denken konnte, jeden Scherz und jedes Witzwort wie ein Ballspieler aufnehmend, selber sprudelnd von Einfällen, hell auflachend, ob ihm eine ins Schwarze treffende Bemerkung geriet, oder ob sie von einem seiner Gäste stammte, das minderte sein Vergnügen nicht.
 Auf seinem Schloß, im Schwäbischen gelegen, tief in Wäldern versunken, verbrachte er die Sommermonate, Forellen fischend und jagend, und auch, Fischen und Jagen vergessend, zeichnend und malend, und das war ihm eine Lust und Qual zugleich, aber er redete über beides nicht, und überhaupt nicht gern über seine Bilder.
 In der süddeutschen Hauptstadt, in der er lebte, hatte er eine große Werkstatt im Gebäude der Hochschule für bildende Kunst. Er hatte es für seine Pflicht gehalten, die Lehrstelle nicht auszuschlagen, obwohl sie ihm viel Zeit raubte und nur wenig einbrachte, gemessen an den Preisen, die man ihm für seine Bilder bezahlte, und die Schüler kamen in Scharen zu dem berühmten Mann. Er hatte noch einen anderen, kleineren Arbeitsraum in der Stadt, aus der Zeit noch her, da er begonnen hatte zu malen, hoch unter dem Dach eines der grauen Häuser des Malerviertels im Norden, und auch in dem Haus natürlich, das er bewohnte und das ihm gehörte, zwischen Gärten am Flusse liegend, an das mit Feldern und Wind das Land sich heranschob, hatte er eine mächtige Werkstatt sich eingerichtet, und mit der im Schloß waren es deren vier, die er zur Verfügung hatte.
 Und in allen vier Werkstätten standen halbfertige Bilder auf den Staffeleien oder lehnten an den Wänden. Es war ihm nicht gegeben, wie den Malern seiner Zeit allen nicht, lang und zäh und unablässig an einem Bilde zu malen, im ersten Anlauf mußte es ihm gelingen, oder nicht, wie man vom Löwen sagt, er springe nicht zum zweitenmal auf dasselbe Wild, wenn ihm der erste Sprung mißlang. In einer Art von Verzweiflung, in die sich Glück mischte, bestaunte er die feste und edle Form der alten Meister, ihre bestürzende Farbigkeit und die Fülle ihrer Gesichte - aber er mußte mit dem Seinen auskommen! Wie hatten die ein Stück Wald bloß gemalt, der tief sich verlor mit goldenen Bäumen und dunkelgrünem Moos, was waren das Gesichter, die einen anblickten, und wie blühten auf ihren Bildern Blumen, Gras und Unkraut in üppiger Mächtigkeit, wie heut nicht mehr! Mit Nachahmung war da nichts getan, wie es manche billig versuchten. Man mußte auf seine Weise mit der Welt fertig werden, die gemalt werden wollte wie je, sie verlangte es herrisch. Aber sie selber war nicht mehr so leuchtend und morgenfrisch, und ihr Abbild darum auch nicht. Aber das mußte ertragen werden, und das tat er schweigend und gewann eine heitere Gelassenheit daraus und eine Verachtung für die Stümper, die sich übernehmen.
 Einmal hatte ihn einer seiner Schüler gesehen, in der großen Gemäldesammlung der Stadt, wie er lang vor einem Bild verweilte, bis er sich endlich abwandte, und dem Schüler konnte es nicht entgehen, daß dem Freiherrn die Tränen übers Gesicht liefen. Der winkte ihn, als er ihn dann erkannte, zu sich heran, und seine Augen waren noch naß, aber seine Stimme klang voll und zufrieden, als er dann sagte: Man sollte vielleicht doch nicht mehr malen! Als der Schüler, bestürzt, daß der, der ihm unerreichbar schien, so redete, etwas Abwehrendes stammeln wollte, lachte der Freiherr, mit ganz plötzlich wieder strahlendem Gesicht und sagte, und rüttelte ihn zärtlich an der Schulter wie einen Sohn: Jetzt gehen wir beide aber gleich und erst recht wieder vor unsere Leinwand! und ließ ihn stehen und ging mit eiligen Schritten davon, und das war die schönste Lehrstunde, die der Schüler je gehabt hatte.
 In dem Haus am Fluß war der Freiherr verheiratet gewesen, mit einer ungewöhnlich schönen Frau aus dem Volke, in einer kurzen und wilden Ehe, die nicht dauern konnte, wie man das allgemein und spöttisch vorausgesagt hatte. Die Frau, von riesigem Wuchs und mit dem kuhäugigen Gesicht einer Göttin, war früher Kellnerin gewesen, und er hatte sie, wozu sie nimmermehr taugte, als Hausfrau heimgeführt, selber über sich lächelnd und seine Torheit. Seltsam genug, daß er es gerade mit ihr wagte, von bedenklicher Herkunft und angetasteten Rufes, und waren doch Frauen in seinem Leben gewesen, in allem dazu angetan, daß man sie vor den Altar führe, die demütig Stolzen, aber nie war es dazu gekommen, und mit Tränen und Leid und Scham oder auch mit Gleichgültigkeit hatte es jedesmal geendet. Und nun war es ihm geschehen, daß er zu heiraten begehrte, und er hatte es getan. Wenn er daran zurückdachte, war ihm, die Jahre seiner Ehe seien wie mit Flammen und Rauch erfüllt gewesen, als hätten sie in einem brennenden Haus gelebt, und der Dachstuhl habe über ihnen gelodert, funkenwerfend, und gleich würden die glühenden Balken stürzen, sie zu begraben. Und die Frau gebar ihm einen Sohn in dem Feuerhaus, der starb aber bald, und dann ließen sie sich scheiden, nach kaum drei Jahren schon, und die Frau zog in eine andere Stadt, und sie sahen sich nicht mehr, und ein alter Diener besorgte ihm seitdem das Hauswesen, von einer Zugehfrau unterstützt, welche die gröberen Arbeiten verrichtete.
 So lief die Zeit dahin, er hatte schon Hunderte von Bildern gemalt. Keine große Sammlung, im Inland und im Ausland, die nicht ein Gemälde von ihm besaß, und Fürsten und große Damen kamen von weither gereist, nur um von ihm auf der Leinwand sich dargestellt zu sehen, und Reichtum und Ehre Floß ihm zu, ein goldener Strom. Man erzählte sich, neidvoll und bewundernd, viele Geschichten aus seinem glücklichen Leben, und von schönen Geliebten, die er hatte, auch noch als er dann sechzig und darüber geworden war und das Alter anfing, ihn zu beugen und seinen Bart gänzlich weiß zu machen, aber seine Augen waren noch immer voll Feuer und durstig. Oft sah man ihn in guten Weinstuben sitzen, wo man für Feinschmecker zu kochen wußte und wo man ihn gut kannte und noch besser bediente, und hin und wieder war dann auch einmal eine junge Frau an seiner Seite, zu der er das Glas hob, und manchmal eine am Nebentisch verstand nur zu gut, was jene an den weißhaarigen, schlanken Mann binden mochte, und der Junge neben ihr gefiel ihr auf einmal nicht mehr so sehr.
 Seine Arbeitskraft verließ ihn nicht bis zuletzt, und von den Bildern seiner späten Zeit wußte man zu rühmen, daß sie an Glanz und Tiefe dazugewonnen hatten, dergleichen sie früher nicht immer besessen. Aber nun galt es, sich auf den Abschied vorzubereiten, er sah ihm mit klaren Augen entgegen, und er richtete es so ein, daß eine Stille um ihn entstand, und immer seltener traf er sich mit alten Freunden, die ihm Vorwürfe machten deswegen, aber er lächelte nur dazu.
 Er wußte von einem malaiischen Sprichwort, das ging ihm jetzt oft durch den Sinn: daß nur der einen Mann sich nennen dürfe, der ein Kind gezeugt, einen Feind getötet, einen Baum gepflanzt und einen Vers gemacht habe. Nun, das alles konnte er von sich sagen, und seine Verse malte er zwar und schrieb sie nicht, aber das mochte doch gleich viel gelten, wollte er schon hoffen. Der Sohn war ihm im Feuerhaus gestorben, er dachte kaum je an ihn und wußte nicht mehr, wie er ausgesehen, der unbekannte Feind in roten Hosen aber, den er niedergehauen im klirrenden Anritt, der war mit den Jahren sein bester Freund geworden, in der Erinnerung, die sie mächtig aneinanderband, den lebenden an den toten Mann, dessen Gesicht deutlich vor ihm war, zu ihm aufblickend mit einem unvergeßlichen Blick, dann war es niedergesunken in den Staub. Und auch Bäume hatte er oft pflanzen lassen, im Garten seines Hauses und im Schloß garten, und einmal, das Malaienwort auf den Lippen, hatte er dem Gärtner den jungen Baum aus der Hand genommen und ihn selber in die Erde gesenkt.
 Er war nun schon siebzig Jahre alt, da rief ihn ein dringender Brief zu seiner geschiedenen Frau, die, auf den Tod im Krankenhaus einer entfernten Stadt darniederliegend, nach ihm verlangte. Er reiste sofort ab, an einem schönen Sommertag, fuhr nach seiner Ankunft vom Bahnhof aus gleich ins Krankenhaus und wurde in das Zimmer der Sterbenden geführt. Er hatte sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, es waren auch keine Briefe in all der Zeit zwischen ihnen hin und her gegangen, und er fürchtete sich ein wenig jetzt: sie war viel jünger als er, und nun mußte sie doch schon fort, und er, der Alte, war noch da! Die Kranke habe hohes Fieber, sagte man ihm, seit Tagen schon rede sie wirr und unzusammenhängend und wisse oft nicht mehr, wo sie sei, man höre es an den Worten, die sie zu schattenhaften Gestalten spreche, aber den geliebten Mann erkannte sie sofort und streckte ihm glücklich auflachend ihre abgezehrte Hand hin und nahm die seine und ließ sie nicht mehr los. Er sah in ihr Gesicht, das mager und faltig geworden war, und das Herz zog sich ihm zusammen beim Anblick dieser Veränderung. Aber was sich auch alles geändert haben mochte seit ihrer gemeinsamen traurigschönen Zeit, an ihm schien sie es nicht zu bemerken. Sie sah ihn mit glühenden Augen an, als sei er der junge Liebhaber von damals. Sie liebkoste seine Hand und breitete die Arme, ihn zu umfangen, und drückte ihn fest an ihre Brust und küßte ihn mit heißen Lippen und gab ihm die vertrauten Namen, die sie ihm früher gegeben hatte, und keinen hatte sie vergessen, und jeden kannte er wieder, und er wußte nicht, wie er sich benehmen sollte, in Scham und Rührung. Inzwischen war die Krankenschwester ins Zimmer getreten und hatte ihm verstohlen ein Zeichen gegeben, daß es an der Zeit sei, die Kranke zu verlassen, daß ihr die Aufregung nicht zu sehr schade. So löste er sich vorsichtig aus ihren Armen, die ihn nicht lassen wollten, und sagte, und seine Stimme war nicht fest, er müsse jetzt gehen, aber natürlich komme er morgen, und schon in der Frühe wieder, und wollte sich zur Tür wenden. Bleib doch noch! schrie aber die Kranke, ach, ich habe dich so lange nicht mehr gehabt! und ihre Augen glänzten, und sie zerrte an ihrem Hemd, daß die welke Schulter sich entblößte, und dann sagte sie Worte der wildesten Raserei, wie die Liebenden sie sich sagen in den Nächten, und deren sie sich selber schämen müssen am nüchternen Morgen dann, und die Nonne, die dergleichen nie gehört hatte, errötete tief unter der weißen Haube über das, was da zu ihr drang. Dann war der Freiherr gegangen, und als er, nach einer unruhigen Nacht, in der er wenig Schlaf gefunden, aber viel Zeit, manches zu bedenken, am andern Morgen wieder kam, war die Frau schon tot, und er wußte, daß es richtig gewesen war, sie zu heiraten und keine andere. Ohne die Beerdigung abzuwarten, war er dann wieder heimgereist in sein leeres Haus.
 Am Tag nach seiner Rückkehr ließ er sich wieder einmal, wie oft, im offenen Wagen flußabwärts fahren und bedeutete dem Kutscher, mit dem Wagen auf der Straße zu warten, und ging durch einen grünen Gürtel Fichtenwaldes zu den Flußauen und zu der alten Weide. Die flimmerte im grellen Licht, und das Gras stand hoch, und an den Blättern der Weide hingen die weißen Tropfen des Kuckucksspeichels, und mit leisem Geräusch fiel hier und da ein Tropfen ins Gras, daß er zuerst gemeint hatte, es wolle zu regnen beginnen - aber wie hätte das sein können, aus dem wolkenlosen Himmel herab? Er legte sich ins Gras, so, daß die Tropfen ihn nicht treffen konnten, und schloß die Augen, schlief aber nicht. Er hörte die tausend Sommergeräusche, ein dünnes Summen und Brodeln, so kochte die Wiese, und die Hände hatte er ins Gras gewühlt, tief hinein, wo die Stengel aus der Erde kommen, und wo es immer kühl ist. So lag er eine Zeitlang, und dann beschloß er, zu seinem Hochstand zu gehen. So stand er denn auf und ging. Er kam an den Holzsteg, der Bach floß mit schwarzen, schnellen Stößen, und neben dem Steg weitete er sich zu einer Bucht, an deren Rand Binsen wuchsen und in der das Wasser sich zu weißen, schaumigen Strudeln kräuselte, und grüne Wasserjungfrauen standen zitternd über der Flut. Er ging über den Steg, und der schmale Pfad, der nun kam, war kaum zu sehen, so war er bedrängt von Brennesseln, Gras und dem niederhängenden Gezweig von Sträuchern.
 Heuer waren wieder so viele wie sonst, und mehr noch, Schnecken da. Die kleinen, in den gelblichen und grauglänzenden Häusern, saßen auf Halmen und auf den Blättern des Elefantenohrs, die großen krochen am Boden dahin, die grauen, behausten, und die roten, die kein Haus trugen, auch – es war, als sei da eine Heerstraße der Schnecken oder ihr großer Lagerplatz, zu dem sie von weither zusammenkamen. Er wollte die Tiere schonen und schaute zu Boden, daß er keines zertrete, und bückte sich, sie aufzuheben, und warf sie wie Steine raschelnd in die Sträucher. Aber der Pfad war mit Gras überwachsen, und im Gras verborgen entgingen die Tiere seinen Augen, aber nicht seinem Fuß, und bald ertönte das knackende Geräusch eines brechenden w, Gehäuses, und wieder und wieder, und er zuckte jedesmal schmerzlich zusammen. Dann mußte er es aufgeben, die Schnecken zu schonen, es waren ihrer zu viele, er hörte es krachen und splittern, und ging schneller, und begann dann zu laufen, und mit Lust stampften seine Schritte jetzt den Boden, erbarmungslos zu töten. Die Zweige der Sträucher, die den Pfad säumten, schlugen ihm ins Gesicht, und weil auch auf ihren Blättern der Kuckucksspeichel saß, klatschte es ihm naß über Stirne und Mund und Augen, und bei jedem Schlag, den er empfing, und der ihm weh tat und ihn demütigte, trat er um so heftiger auf, als wolle er an den schuldlosen Schnecken sich rächen. Als der Pfad ihn endlich am Flußufer ins Freie entließ und er keuchend stand, waren sein Gesicht und sein Bart beschmiert von der klebrigen Nässe der weißen Tropfen, und auch sein Anzug war mit Flecken weißen, ekelhaften Speichels bedeckt, und ihm war, er sei Spießruten gelaufen zwischen wilden Männern, höhnisch im Gesträuch verborgen, den fliehenden Greis mit ihrem Auswurf zu verunreinigen, und fast schien ihm, er habe die verzerrten Gesichter der Wütenden gesehen.
 Er säuberte sich mit zitternden Händen und wischte mit Gras die Schuhsohlen ab, an denen die schleimigen Überreste der getöteten Schnecken hingen, und ging nicht mehr zum Hochstand, und auf Umwegen zu seinem Wagen zurück, und befahl die Heimfahrt, und der Kutscher erschrak, als ihn der Freiherr mit flackernden Augen anblickte.
 Drei Wochen später starb der Freiherr schnell und unerwartet an einem Herzschlag. Die Zeitungen veröffentlichten lange Nachrufe auf ihn, in denen Werk und Persönlichkeit des Verewigten eingehend gewürdigt wurden, und die Beerdigung fand mit großem Gepränge statt. Hunderte von Teilnehmenden waren herbeigeeilt, und Vertreter von Staat und Stadt und großen Körperschaften, und auch bloß Neugierige, die einmal sehen wollten, wie ein großer Mann zu Grabe getragen wird. Als Erben seines Vermögens und seines gesamten Nachlasses hatte der Freiherr in seinem letzten Willen seines jüngeren Bruders einzigen Sohn bestimmt, der ihm schon immer lieb gewesen war. Am Tage nach der Beisetzung ging der Neffe in das Haus seines toten Onkels, das ja nun ihm gehörte, und in der Halle empfing ihn der Diener. Er solle ihn durch das Haus führen, begehrte der Neffe, und sie schritten durch die Räume, die wohleingerichtet waren. Die Böden spiegelten, die alten Schränke glänzten, und der Neffe sprach dem Diener sein Lob aus, wie schön und ordentlich alles gehalten sei. Aber das hätte der verstorbene Freiherr, darin peinlich wie ein alter Soldat, nicht anders geduldet, wehrte der bescheiden ab. Als sie dann zum ersten Stock hinaufstiegen und der Diener wieder ein Zimmer wies und der Neffe die Klinke an der Tür des nächsten niederdrückte und die Tür öffnen wollte, war sie versperrt. Den Schlüssel zu diesem versperrten Zimmer habe er nicht, sagte der Diener, und auch nicht zu den anstoßenden Zimmern. Sie habe der Freiherr abgeschlossen, eins nach dem andern, im Lauf der letzten Jahre, und sie selber wohl nie mehr betreten, und die Schlüssel dazu müßten in seinem Schreibtisch liegen.
 Dort fanden sie sich auch. Der Neffe steckte selber den Schlüssel zum ersten der versperrten Zimmer ins Schloß und sperrte es auf und trat ein und der Diener hinter ihm. Es war dämmerig im Raum, die Sonne, die draußen lag, drang nur dünn durch die Ritzen des herabgelassenen hölzernen Rollvorhangs, und so drehte der Diener die Deckenbeleuchtung an. Sie sahen einen weißgedeckten Tisch, Teller und Geschirr und Weingläser darauf, als seien Speisende eben vom Mahl aufgestanden. In einer Vase ließen blaue und rote Blumen die vertrockneten Köpfe hängen, und als der Neffe sie anrührte, zerbröckelten sie unter seinen Händen. Die Luft roch modrig, und der Fußboden war so mit feinem Staub bedeckt, daß die Spuren ihrer Schritte sich abzeichneten.
 Als der Neffe dann das anstoßende Zimmer aufsperrte, die Tür weit offenstehen lassend, war es dämmerig in ihm auch, und auch hier war der Rollvorhang herabgelassen, und wieder war ein weißgedeckter Tisch da, und noch Gläser und Schüsseln darauf, von einem beendeten Mahl, und welke Blumen in einer Schale, und aus einem Kühler ragte der Hals einer Weinflasche. Und was klares Eiswasser gewesen war in dem silbernen Kübel, das war ein trüber, grünlicher Bodensatz nun, vom Schimmel weiß überzogen. Und überall lag Staub, und mehr als im ersten Zimmer, auf dem Boden und auf jedem Schrank und Stuhl.
 So war es auch im nächsten Zimmer, das der Neffe aufsperrte: sie hatten es gar nicht mehr anders erwartet, die beiden, der Neffe und der Diener, auf diesem wunderlichen Weg in die Vergangenheit. Die Zimmer stießen eins ans andere, durch Türen miteinander verbunden, und das Licht drehten sie nicht mehr an, als scheuten sie sich, das Bild der Verlassenheit zu sehr zu erhellen, und sie sprachen mit so leiser Stimme miteinander, als sollte sie niemand hören dürfen. Sie traten an den Tisch heran, an dem man gespeist hatte, mit Geschirr darauf, in dem verschimmelte Reste von Fleisch und Brot waren, und auf dem geleerte Gläser standen. Neben einem Weinglas lag ein zerknülltes Tuch. Der Neffe nahm es auf und schüttelte den Staub daraus. Es war ein kleines, zartes Taschentuch, wie es Damen benützen, und die Zerstreute hatte es liegengelassen und vergessen und auch nicht mehr zurückverlangt oder es sich wiedergeholt.
 Sie öffneten das nächste Zimmer, das vierte nun von fünfen, die seit Jahren versperrt gewesen waren, sagte der Diener. Dämmerig lag der Raum vor ihnen wie die andern. Wieder war der Tisch da, an dem gegessen und getrunken worden war und geredet und gescherzt und gelacht, und kein Schall war mehr da von den Worten, bösen und guten, aber die verstaubten Teller und Gläser waren noch da und der zerknitterte Blumenstrauß, und der Staub, der sich über alles gelegt hatte, grau und flaumig, war hier schon wie eine dicke Aschenschicht, denn je weiter sie vordrangen, von Zimmer zu Zimmer, desto weiter drangen sie ja in die Vergangenheit zurück, und desto modriger und totengrüftiger wurde die eingesperrte Luft.
 Und dann waren sie im letzten der versperrt gewesenen Zimmer. Sie hatten die Türen, die von Zimmer zu Zimmer führten, alle weit offenstehen lassen, und in dem Zimmer, das sie zuerst betreten hatten, brannte noch das Deckenlicht und drang, wie aus der Tiefe eines Schachtes her leuchtend, matt bis zu ihnen. Vor vier Jahren vielleicht sei es gewesen, erinnerte sich der Diener, daß ihm der Freiherr zum erstenmal gesagt habe, er habe ein Zimmer verschlossen, im ersten Stock, und niemand solle sich darum kümmern. Der noch gedeckte und verlassene Tisch stand hier an den Ofen gerückt, wie wärmesuchend, mit zwei Gläsern darauf- nie hatten mehr als zwei oder drei Menschen gespeist gehabt in
jedem der Zimmer, an der Zahl der Gläser war es immer zu erkennen gewesen. Schwarze Spinnwebfahnen hingen von der Decke herab, und auch zwischen den zwei Gläsern auf dem Tisch war ein Netz gespannt, und eine riesenbeinige Spinne lief aufgestört zwischen den Tellern davon, und wovon die nur gelebt haben mochte, all die Jahre? Aber tote und ausgedörrte Fliegen hatten sie auch in den andern Zimmern liegen sehen, die mochten dort verhungert sein aber die in dem Zimmer hier hatten den Spinnen als Nahrung gedient.
 Langsam gingen dann die zwei den Weg zurück, den sie gekommen waren, durch die Zimmerflucht, auf ihren eigenen Spuren, ihren Fußstapfen nach, und der Staub wirbelte unter ihren Schritten, und es war ihnen wie grabschänderisch zumut auf diesem Gang. Als sie dann im Flur waren und das volle Sonnenlicht sie mächtig beschien, sahen sie, daß ihre Schuhe grau bestaubt waren, als hätten sie eine lange Wanderung hinter sich, und sie waren ja auch vier Jahre unterwegs gewesen.
 Der Diener war gegangen und wieder gekommen, mit Bürsten und Lappen, die Schuhe des Neffen zu säubern, und der war inzwischen vor das Haus hinausgetreten und stand auf der Treppe, die zum Garten führte, und während der alte Mann die Bürste schwang, sah der Neffe über den Garten hin, der mit hohen Bäumen und Gesträuch bis zum Flußufer hinab sich dehnte. Die grünen Wipfel glänzten im Licht, und wo der weiße Kiesweg eine Schleife machte, sah man den Brunnen, eine große Marmorschale auf steinernem Sockel ruhend, und deutlich sah man aus der Schale einen Wasserstrahl aufsteigen und in der Sonne funkeln. Dort habe er den Freiherrn tot gefunden, sagte der Diener, und zeigte auf den Brunnen, vor vier Tagen nun. Der Freiherr habe zu Mittag gespeist gehabt, im Eßzimmer, und nur wenig gegessen, und der Wein habe ihm nicht geschmeckt, und er habe einen andern sich bringen lassen.
Aber auch der sei nicht nach seinem Gefallen gewesen. Er habe nur einen Schluck davon genommen und den Kopf geschüttelt, und dann habe er Wasser verlangt. Er, der Diener, habe ihm ein Glas frischen Wassers gebracht, aber der Freiherr habe es nur mißmutig betrachtet und gesagt, das sei ja schales Zeug, und er ginge jetzt selber zum Brunnen, dort zu trinken, und er brauche kein Glas dazu, er wisse noch gut, wie sie es als Buben gehalten hätten, und das könne er noch: den Mund an den Strahl legen und davon schlürfen. Damit sei er aufgestanden und in den Garten gegangen, und er, der Diener, habe nicht gewagt, ihm zu folgen, obwohl er es gern getan hätte, weil ihm das Wesen des Herrn bedenklich vorgekommen sei. Aber vom Küchenfenster aus habe er den Freiherrn beobachten können und habe gesehen, daß er, vor dem Brunnen angelangt, sich niedergekniet habe, so besser trinken zu können. Er habe die Hände auf den Rand der Schale gelegt und lang dem steigenden und fallenden Strahl zugesehen, und dann habe er nicht den Mund an den Strahl gehalten, sondern das Gesicht tief in das Wasser der Schale getaucht, so lang, daß es ihn, den Diener am Fenster, schon ängstigte, und dann habe der Freiherr den Kopf gehoben und sei aufgestanden, und plötzlich sei er neben dem Brunnen zusammengesunken. Er sei voll Sorge hingelaufen, sagte der Diener, aber der Freiherr sei schon tot gewesen, als er bei ihm ankam, und in seinem Bart und in seinen Haaren hätten die Wassertropfen geblitzt wie der Tau im Gras, daß er nicht gewagt habe, sie mit seinem Taschentuch abzuwischen.
 Der Neffe ging dann allein zu dem Brunnen. Weiß hob sich der Strahl und sank und stieg mit neuer Kraft, wie vor Erregung zitternd, und der Neffe tauchte die Hand in die Schale. Das Wasser war von eisiger Frische, und der Neffe ließ die Hand so lange darin, bis ihm war, sie würde gefühllos. Es lockte ihn, auch das Gesicht in das Nasse zu tauchen, aber er tat es nicht und sah zum Haus hin, wo das Küchenfenster sein mochte, und von wo aus man ihn vielleicht beobachtete. Da nahm er die Hand aus dem Wasser und ging ein Stück tiefer in den Garten hinein, bis an den hölzernen Zaun, der ihn vom Nachbargarten trennte. Am Zaun wuchsen Himbeerstauden in großer Menge. Die roten Früchte waren reif und überreif, und das Rankenwerk glühte in der Sonne, und geflügeltes Getier, Hummel und Biene, umschwirrte es. Der Neffe pflückte sich eine Handvoll der Beeren, die waren trocken und heiß, und legte sie auf ein großes, grünes, kühles Blatt. Dann schlug er einen Bogen und kam auf einen Nebenpfad und ging den, von den Beeren essend, und sah eine Sandsteinfigur stehen, halb verwittert, vom Regen ausgewaschen, und es war nicht zu erkennen, ob das ein Heiliger sein sollte oder ein heidnischer Gott, und mit einem Armstumpf langte die Steingestalt in die blaue Leere des Himmels hinauf. Der Neffe legte das Blatt mit dem kleinen Häuflein Beeren, das noch darauf war, vor der Gestalt nieder wie ein Opfer: und wenn der Gott es verschmähte oder der trotzköpfige Heilige es ungnädig ablehnte, so mochten es die Vögel fressen. Dann ging er langsam zum Haus zurück.
 Als er wieder auf der Haustreppe stand, hörte er ein Rasseln über sich, ein Rolladen im ersten Stock fuhr knarrend hoch, ein Fenster wurde aufgestoßen, und fünfmal, wie Donner, prasselte es über ihm, und fünfmal fuhren Fensterflügel auseinander, frische Luft einzulassen: der alte Diener war schon an der Arbeit. Dann beugte er sich auch aus einem der Fenster und schrie herunter, das gäbe nun zu tun, und morgen ließe er Putzfrauen kommen, und in ein paar Tagen schon könne er, der Erbe, das Haus vom Boden bis zum Keller gesäubert finden und in Besitz nehmen, und der nickte nur.
 



 
 


Drucknachweise und Anmerkungen:

Der Schneckenweg
Erstausgabe: Der Schneckenweg. Erzählungen.
München: Albert Langen/Georg Müller 1941. 195 Seiten
Leinen mit Schutzumschlag.  Preis 3.80 RM.
1938  war Brittings letzter Prosaband Das gerettete Bild erschienen. Bei der Zusammenstellung des „Schneckenweg“, einer Sammlung von acht Erzählungen, griff Britting teilweise auf Geschichten zurück, deren Wurzeln bis in die zwanziger Jahre hinabreichten, etwa "Das Märchen vom dicken Liebhaber", "Die Base aus Bayern" oder "Ulrich unter der Weide". Sie sind zumeist in Bayern angesiedelt;  für "Die bestohlenen Äbte" ist der Ort Dürnstein in der Wachau Schauplatz der Handlung. In der in München spielenden Geschichte "Der Flüchtling" wird der ‘Mann Kruch’ durch den einstigen Todessturz der Fanny Ickstatt vom nördlichen Münchner Frauenturm zu seinem herostratischen Selbstmord angeregt. Vorbild für die Hauptfigur der in der Vorweltkriegszeit angesiedelten Titelgeschichte "Der Schneckenweg" war der Maler und Akademiepräsident Hugo Freiherr von Habermann. Fünf der acht Geschichten waren als Erstdrucke im Inneren Reich veröffentlicht.
1949 legte die Nymphenburger Verlagshandlung eine im Text unveränderte Auflage  dieses Erzählungsbandes mit der Auflagenbezeich-nung 22.bis 24.Tausend vor.
In die Nymphenburger Gesamtausgabe wurde der "Schneckenweg" mit Ausnahme von „Ulrich unter der Weide“ in den Band 5: Erzählun-gen III (1941-1960), Seite 5-104 aufgenommen. Letztere Erzählung reihte Britting in Band 4: Erzählungen II (1937-1940) ein.
Unter der Überschrift "Bayrisches Sprachbarock. Ein stilkritischer Versuch statt einer Buchbesprechung" rezensierte W.E.Süskind in Die Literatur [Das literarische Echo, 44.Jg.Heft 3, Dezember 1941] die Neuerscheinung:
Eine einfache Buchbesprechung käme nämlich nicht ohne Wiederholungen aus; denn Britting ist in seinem neuen Buch um kein Haar anders als in den vier oder fünf Geschichtenbüchern, die wir von ihm kennen, höchstens hat er sich in seiner Eigenart noch gesteigert. Auch ist ihm gegenüber gar nichts damit geleistet, daß man etwa die Fabeln seiner Erzählungen aufsagt; dagegen alles darauf an-kommt, die höchst eigentümliche dichterische Natur des Mannes darzustellen. Das ist aus verschiedenen Gründen nicht einfach, einmal weil bei ihm in einem heute ungewöhnlichen Maß auch die Prosa, die Erzählung, selbst die Anekdote in die Gattung des Gedichts schlägt; zum andern weil er - ohne "tief", ohne "esoterisch" zu sein - vielen Menschen, auch solchen, die zu lesen und zu differenzieren verstehen, Schwierigkeiten macht.[...] Es ist nicht zu verschweigen, daß die Schwierigkeiten, die Britting vielen Lesern im eigenen Lande bereitet, auf Stammeseigentümlichkeiten seines Stils zurückgehen, auf das durch und durch Altbayrische in seiner Sprache, seiner Komposition, seiner Weltsicht.[...]
"Was ist altbayrische [barocke] Formensprache", fragt Süskind, und erläutert am Beispiel von Ludwig Thoma, was er damit meint. Thoma, sagt er, sei:
ein Darsteller seiner heimischen Welt, ein hervorragender Kenner, Sprecher und Schreiber des Bayrischen [...] eben deshalb kein Ge-genstück zum altbayrischen Barock, weil er ja nicht das Allgemeine, Überbayrische ausdrücken wollte [...] sondern weil er immer, auch wo er hochdeutsch schrieb, ganz bewußt ein Altbayer blieb. Britting aber, auf den wir zusteuern, hat gar nichts bewußt Bayri-sches; er läßt wohl viele Geschichten in einer "süddeutschen Hauptstadt", "im nahen Gebirge" oder an der heimischen Donau spielen, aber nicht ausdrücklicher als es das epische "Anno dazumal" verlangt [...]. Er erzählt Geschichten, meist recht grausame, ungezähmte Seelen- und Körperkatastrophen, wie sie sich unter Menschen von starken Leidenschaften überall auf der Welt zutragen. Seine Umwelt mag häufig bayrisch sein; aber seine Welt ist weder bayrisch noch überhaupt der menschlichen Gesellschaft eingeordnet; sie ist kreatürlich-naturhaft wie die Welt im Wassertropfen, in Andersens Märchen. Ja, sie gleicht einem unendlich vergrößerten Stück Mikrokosmos; sie gleicht - um es mit einem von ihm selber gern gebrauchten Bild zu sagen - einem übergenau betrachteten Büschel Kraut, Farn oder Riedgras mit dem darin wimmelnden und sich verschlingenden Käfer, Fliegen - und Spinnenwesen - und das Bayrische daran ist höchstens, daß die Grasbüschel auf einer bayrischen Wiese wachsen. Auf Herz und Nieren gefragt, würde Britting sich nie als einen bayrischen Dichter bezeichnen, sondern als einen Mann, der halt seine Geschichten und Gedichte aufschreibt. In die Sprache übersetzt, in der man von sich selber nicht reden kann: als einen deutschen Dichter. Und als solcher, versteht sich, schreibt er deutsch und nichts anderes, weiß vielleicht, daß es sein Deutsch ist, niemals aber, daß die altbayrische Formensprache daraus redet - wie es auch jene [Barock] Architekten aus dem 18.Jahrhundert nicht gewußt haben.
Ein paar Sätze aus dem neuen Buch: "Er kam an das einsame Landhaus wieder, und blieb stehen am Zaun, gerade vor der Tür, und kein Täfelchen daran zeigte den Namen des Besitzers." Oder:" und nachdem sie den Ofen angeheizt im Zimmer des Gastes, und ihre Einkäufe in der Küche verwahrt, war sie gleich wieder aufgebrochen, ins Dorf, um nicht allzu spät wieder zurück zu sein, vor Einbruch der Dunkelheit noch, wenn es möglich war." Oder:"...und das brachte auch die Freundinnen gegen sie auf, die sich von ihr abwandten und nichts mehr redeten mit ihr."[...] Oder gar:"...und dann schwieg der Vogel auf seiner Stange und es war feierlich still in dem klei-nen Raum nun."
Was fällt einem bei dieser Schreibweise auf? Ganz allgemein geantwortet: Ein Zug nach hinten, ein Drang, den schweren Ton ans Ende des Satzes zu verlegen, selbst um den Preis einer ungewöhnlichen oder gar ungehörigen Umstellung der Wörter. Unbetonte Wörter - nun, wieder, sonst, vielleicht, dann - rücken ans Satzende und winken, ja glotzen dort wie seltsame Ausrufezeichen. Ebenso treten die Umstandsbestimmungen von ihrem normalen Platz weiter nach hinten "blieb stehen am Zaun" - "angeheizt im Zimmer".) Das Verbum rückt dementsprechend nach vorn, und das ist nun allerdings eine Eigentümlichkeit des Bayrischen ("I hab's scho g'sagt zu eahm"), die es mit den romanischen Sprachen teilt. Der Italiener, der am Deutschen bemängelt, daß es seine Wortstellung nicht nach dem Gebote der Logik und Wichtigkeit einrichtet, daß es die Ergänzungen und Adverbialien dem Zeitwort vorbaut, statt sie von ihm abschnellen zu lassen - dieser italienische Germanist fände an der bayrischen Grammatik wahrscheinlich weniger zu tadeln. Bei Britting vollends fän-de er an vielen Stellen den bayrischen Satzbau ins Hochdeutsche gewendet. Er fände bei ihm eine Sprache, die im selben Rhythmus weiterrückt, wie Blick und Gedanke weiterrücken, während die normale deutsche Hochsprache stillsteht und vorausdenkt. Sie wirkt rund; Brittings Sprache wirkt - wir wollen nicht sagen eckig, aber sie wirkt kantenreich und knorzig, und das bedingt schon einen Teil ihrer Schwierigkeit.[...] Das ist ganz offensichtlich eine Prosa, die vom Vers herkommt, sich nach eigenen Gesetzen ihre Betonungen, ihre Zäsuren setzt und vom Dichter, wenn man das recht verstehen will, laut geschrieben ist.[...]
Um Brittings merkwürdig ruckhafte, in Zickzacklinien verlaufende Anfänge zu studieren, sind die früheren Bände tauglicher; dafür enthält der neue einige hervorragende Beispiele einer merkwürdig aufgelösten, vom Thema scheinbar abführenden Schlußtechnik, so daß man bei diesen Geschichten an einen kunstvollen Peitschenknall denken muß, bei dem man den Stock der Peitsche fest in der Hand des Schwingers sieht, das Ende der Peitschenschnur aber verzüngelt in der Luft. Doch genügt es uns, daß wir eine Seite der Sa-che gezeigt haben und damit, hoffentlich, ein Bild des ganzen Mannes: als einer Natur, so in sich fest und unverkennbar, daß man sie niemals vergessen kann.
 


S.11 DER SCHNECKENWEG
E: Das Innere Reich 7, 1940/41, S.17-25,
     (mit geringen Abweichungen gegenüber der Buchfassung).
D1: Schneckenweg, S.5.
D2: E III, S.5.
Britting an Jung (7.8.1946):
meinen schneckenweg haben sie mir deutlicher gemacht, als er mir selber war. vieles ereignet sich ja beim schreiben im halben däm-mer.
Jung, durch Brittings Lob ermutigt, schrieb 1948 einen Aufsatz (Aufzeichnungen S.79) über die Erzählung; am 1.2.1949 antwortete ihm Britting:
ihr kleiner schneckenwegaufsatz ist vorzüglich. ihre deutung, das wort zu gebrauchen, hat mir selber licht gegeben. ich habe mich immer gehütet, und hüte mich, mir während des schreibens "klar" zu machen, was "gemeint" sei. wenn so liebevoll, und gescheit, wie in ihrem aufsatz, dann ein anderer mir sagt, was in meiner erzählung verborgen läge - das ist dann eine sonderbare empfindung. und ich bin ihnen dankbar für ihr eingehen auf meine arbeit.
Von Brittings Arztfreund Josef Kiefhaber (vgl.S.xxx) ist ein Brief überliefert, in dem er der angehenden Germanistin Susanne Dillmann, die an ihrer Magisterarbeit über Brittings Prosa arbeitete und sich mit Fragen an Freunde Brittings wandte, am 30.8.1967 über den Schneckenweg schrieb:
Freiherr von Zeeh  - die Hauptfigur der Erzählung - ist ziemlich eindeutig Hugo Freiherr von Habermann, geboren ca.1850 in Dillingen, den wir ja alle aus seinen Werken kannten, er war zuletzt Akademiepräsident in München, Max Unold war sein Schüler, an seinen Anfängen deutlich zu sehen. Der erzählte am Stammtisch oft. Die Geschichte von den fünf Zimmern erzählte ebenfalls ein Habermannschüler, er hieß Wiedemann, wanderte Mitte der dreißiger Jahre wenn ich mich recht erinnere, nach Columbien oder Peru aus. Ob es nun Habermann war, von dem er die Geschichte erzählte, bin ich nicht ganz sicher, halte es aber für sehr wahrscheinlich.
Der Schneckenweg ist so großartig beschrieben. Wir beide sind ihn oft gegangen. Wir fuhren noch einige Kilometer über Ismaning hinaus zu den Fischerhäusern und dann gings in die Auwälder an der Isar, ich fände ihn heute noch, es war zwischen 1935-37, Kuckucksspeichel, nie gemähte Wiesen, Holzsteg übern Bach, dann der Schneckenweg mit krachenden Schneckenhäusern, und so weiter.
So viel zum Stofflichen. Zeeh hat natürlich auch noch ein bißchen was von Binding und auch von Britting selbst.
Was sogenannte Interpretationen betrifft, äußerte Britting oft Skepsis:
„Das ist halt wie mit dem Schmetterling, den darf man auch nicht in die Hand nehmen und mit dem Finger über die Flügel fahren“; oder ein andermal, als er nach der Bedeutung einer Erzählung gefragt wurde, 'dunkle Stellen' erklären sollte, antwortete: „Ich meine das so, wies da steht, besser kann ichs nicht sagen, sonst hätt ichs anders geschrieben.“



S.26 VALENTIN UND VERONIKA
E: Das Innere Reich 6, 1939/40, S.22f.  u.d.T. Veronika.
D1: Schneckenweg, S.29
D2: Valentin und Veronika.
      Drei Erzählungen. Düsseldorf: Merkur-Verlag 1947, (broschiert) und
       1948 (neu gesetzt, Pappband).
       Lizenzausgabe der Nymphenburger Verlagshandlung.
      (Die beiden anderen Erzählungen sind:
      »Die Wallfahrt« und  »Die Totenfeier«.)
D3: E III, S.22.
Die Erzählung wird in den Jahren 1936 bis 1938 entstanden sein. In der Buchfassung geringfügige Änderungen gegenüber dem Erstdruck.

S.50 DER EISLÄUFER
E: Schneckenweg, S.67.
D1:  Der Tod im Schlepp. Eine Sammlung ernster Erzählungen.
       Hg. Friedrich Velmede, Berlin: 1941, S.47-60.
D2: Der Eisläufer, Erzählungen und Gedichte,
       Wörishofen: Drei  Säulenverlag 1948, S.7-25,
       (Das kleine Säulenbuch Bd.12).
D3: Der Eisläufer, Erzählungen und Gedichte.
       Mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Armin Mohler.
       Stuttgart: Reclam 1956 (Universal-Bibliothek  Nr.7829) S.26 - 42.
D4: E III, S.49.
Durch die Reclam-Ausgabe, die 1971 neu gesetzt und bibliographisch ergänzt bis heute im Verlagsprogramm ist, fand die Erzählung als Schullektüre weite Verbreitung; der „Eisläufer“ gehört zu Brittings bekanntesten Erzählungen. Neben der Titelgeschichte enthält diese Ausgabe noch "Das Waldhorn", "Der Sturz in die Wolfsschlucht" und "Der Fisch".

S.64 ULRICH UNTER DER WEIDE
E: Das Innere Reich 8, 1941/42, S.2 -18.
Am 10.3.1941 hatte Britting mit einem Begleitbrief das Manuskript an Alverdes geschickt:
Lieber Alverdes, kannst du diese übersteigerte Geschichte brauchen? Sie war schon einmal gedruckt, vor 15 Jahren in der ‘Deutschen Rundschau’, aber ist an Haupt und Gliedern so verändert, daß ich leichter eine neue Geschichte geschrieben hätte. Aber wenn sie dir nicht gefällt, sollst du es barsch sagen        deinem Britting.
Die erwähnte frühe Fassung war unter dem Titel ‘Josef am See’ in der Deutschen Rundschau  im April 1929, 55.Jg.Bd.219, S.15-27 ge-druckt; sie sollte die Titelgeschichte für einen „demnächst“ (1933) bei Langen-Müller erscheinenden Novellenband abgeben, aber Britting zog die Erzählung zurück und veränderte sie, wie er schreibt „an Haupt und Gliedern“. Gemäß der Absicht dieser Ausgabe die Entwick-lungsgeschichte einzelner wichtiger Texte darzulegen, wird „Josef am See“ im Folgenden hier abgedruckt.
D1: Schneckenweg, S.91.
D2: E II, S.177.

JOSEF AM SEE
Josef, der Mann dieser Geschichte, fünfunddreißigjährig und unabhängig, unabhängig, weil er gerade so viel verdiente, daß es zu einem mönchischen Leben in der Zelle eines Großstadtmietshauses reichte und er vorläufig mehr nicht begehrte, Josef also hatte seinen Kaffee ge-trunken, und ihm zitterten noch ein bißchen die Finger, denn das dunkelbraune Giftgetränk war zu stark gewesen, wie immer, und es war eine Tasse zuviel gewesen, wie immer, und nun saß er vor dem leeren Tisch, der eine frischgewaschene weiße Decke trug. Es war wohltuend, so ruhig zu sitzen und auf die schneeweiße Decke zu sehen, die faltenlos war, nur von vier Linien fast unmerklich durchschnitten. Das waren die Linien, die davon herrührten, daß die Decke nicht immer so ausgebreitet lag wie ein winterliches Feld, daß sie vorher zusam-mengefaltet im Wäscheschrank sich befunden hatte. Die weiße, tote Fläche ließ seinen Blick nicht mehr los: das war Winter, Schnee, rein und kalt und so sauber, so klar, während der Kaffe doch in seinen Fingerspitzen braun und giftig und lebendig, überlebendig bebte und leb-te. Aber dann ärgerte ihn das Tote, Weiße, und er zog die Tischschublade auf und holte eine Orange heraus und legte sie mitten auf das weiße Tischtuch. Die rötliche Kugel, mit kleinen Poren, die lag nun protzig da wie ein kleiner Globus und wartete, daß man sie rolle, und Josef rollte sie. Er stieß vorsichtig mit dem kleinen Finger gegen sie, und da drehte sie sich dahin und schaukelte ein wenig und blieb wie-der ruhig liegen, und ihr Schatten auf dem Schnee war wie eine blasse, rötliche Scheibe. Er legte die Hände auf das Tischtuch, mit den Handkanten auf den Schnee, und rollte nun die Kugel zwischen den beiden Händen hin und her, immer die gleiche Strecke. Weich prallte die Frucht gegen seinen Handteller, sprang elastisch ab, rollte den Weg zurück, bis sie an die gegnerische Hand stieß und wieder zurück-rollte. Das war ein dummes Spiel, dachte er, und einmal, als die Orange eben wieder die eine Hand verließ und sich auf den Weg zur an-dern machte, hob er diese andre Hand hoch, grad so hoch, daß die Frucht unter ihr wegglitt, weiterrollte, das Tischende erreichte, zögerte und dann abstürzte, mit einem dumpfen saftigen Geräusch auf dem Fußboden auffiel, am Boden weiterrollte und erst an der Zimmerwand halt machte. Er nahm sie auf und legte sie wieder in die Schublade.
Es war Ende Februar, er hatte eine kleine Summe Geldes vorrätig, was hielt ihn in der Stadt? Nichts! Was lockte? Der weiße Schnee des Gebirges und die Kälte und das gefrorene Wasser, und er beschloß, nach Eichhausen am Aprersee zu fahren und dort einige Tage, eine Wo-che, einige Wochen zu bleiben.  Er saß zwar immer noch vor dem Tisch, aber in Gedanken war er schon in dem Ort, den er kannte, wo er schon im Sommer ein paar Tage gewesen war und damals sich vorgenommen hatte, auch im Winter einmal hinzugehen. Er stand auf und wußte, daß er morgen in Eichhausen sein würde.
Er beobachtete im Zug mit Vergnügen, wie die Berge immer näher rückten, wie die Berge immer größer wurden und die Häuser immer kleiner und auch die Menschen immer kleiner, so schien's, gegen die hohen Berge, und wie immer mehr Schnee zu sehen war, wie der Schnee immer dichter an das Bahngeleise herankam, und dann kam Eichhausen. Er ging gleich zum Wirtshaus, wo er im Sommer gewohnt hatte, und bekam ein kleines, billiges Zimmer, gut heizbar, versicherte ihm der Wirt, und mit Aussicht auf den See, und er räumte seine Wäsche ein und ein paar Bücher und die Kaffeemaschine, und weil es Nachmittag um vier Uhr war und es bald dunkeln würde, ging er noch schnell ins Dorf und durch das Dorf zum See. Es war nicht sehr kalt, und als er vorm Wasser stand, war das gar nicht gefroren, war schwarz-blau und ohne Bewegung, groß, flach, gegenüber sah er ein Dorf und dahinter wieder Berge.   Dicht vor ihm stieg trockenes Schilf aus dem Wasser, gelblich braun, stachlig, es erinnerte ihn, woran wohl? Er wußte es nicht gleich, aber dann sah er eine frischgerupfte Gans, wie oft in seiner Kinderzeit, in deren Leib einzelne Federkiele stecken geblieben waren, und da hatte er das Bild, das er wollte. Lang-sam kam der Abend über den See mit leichten Nebeln, es wurde kühler, er ging ins Dorf zurück, wo die ersten Lichter dumpfrötlich durch die kleinen Scheiben auf die Straße sahen, und ging ins Wirtshaus und in die Wirtsstube und fand die Ecke neben dem grünen Ofen leer, und in diese Ecke setzte er sich und legte die Hände an die warmen Kacheln, und nun strömte langsam behagen in ihn ein, langsam und mächtig und glückähnlich. Es war still in der Stube, es war sechs Uhr abends, eine Uhr tickte, wie sich das gehörte, eine zuverlässige Wirtshausstubenuhr im braunen Holzgehäuse, und jetzt kam aus der Tür im Hintergrund eine große, schwarzhaarige Frau und erkundigte sich nach seinen Wünschen. Ob es Wein gäbe? fragte Josef, und den gab es, er war gar nichts schlecht, ein leichter Pfälzer, der grünlich im Glas schimmerte, säuerlich war, aber rein, und den Rücken am Ofen, den Wein in kleinen Schlucken trinkend, unter der Lampe, draußen nun schon die Nacht, saß er. Als die große, schwarzhaarige Frau, die Kellnerin, ihm ein zweites Glas brachte, spürte er Hunger, und er ei-nigte sich rasch über das zu Bestellende. Anna hatte große, klare Gesichtszüge, war hochgewachsen, er schätzte sie so groß wie sich, und er war ein Mann und keiner von den kleinen. Sie mochte dreißig Jahre alt sein, und unter der schwarzen, seidigen Bluse wölbte sich eine Brust, die fest sein mußte und gesund. Sie schritt davon, die Röcke schlugen ihr an die Knie, eine Magd, sagte er sich, und er dachte mit einer leichten Geringschätzung an die zierlichen und puppenhaften Geschöpfe, die Damen waren. Da kam sie wieder und brachte ihm das Mahl, und er aß, und das Essen war gut, er war gut aufgehoben hier. Später kamen ein paar Männer, halbbäuerliche Gestalten, die Karten spielten, ihn kurz grüßten, aber dann nicht weiter beachteten. Er hatte sich eine schwarze Zigarre angezündet, rauchte langsam, betrachtete die weiße, leicht angebräunte Asche, trank seinen Wein und verfolgte mit seinen Blicken die Kellnerin, die ab und zu ging, und sie hatte es wohl bemerkt, gab ihm Blick auf Blick zurück. Aber es war gar nicht leichtfertig, wie sie das taten, sie mußten sich ansehn, sie waren auch gar nicht verlegen dabei, lächelten aber auch nicht, sie sahen sich fest und mit Ernst an, und auch als er zahlte, sprach er nur das Notwen-digste und horchte darauf, wie ihre seidige, schwarze Bluse knisterte.
Er ging auf sein Zimmer, trat ans Fenster. Der schwarze See blickte dunkel her, der Mond, im ersten Viertel, stand am Himmel. Der Tag hatte sich gut angelassen, er freute sich auf den morgigen, und als er sich im Bett ausstreckte und das saubere Leinen des Kopfkissens un-ter seinem Ohr raschelte, dachte er, wie Meerwasser, wie wenn man eine Muschel ans Ohr hält, und schon im Entschlummern verbesserte er sich ohne Lächeln: wie das Knistern einer schwarzseidenen Bluse.
Als er am andern Morgen erwachte, nicht gleich wußte, wo er sich befand, aber dann zum Fenster blickte, es wieder erkannte, setzte er sich glücklich im Bett auf. Es schneite, sah er, nicht in dicken Flocken, es fielen weiße, harte Kristalle vom Himmel, ein schöner, frostiger Schnee war das, einer, der liegen bleiben würde, das sah man ihm an, der sich sträuben würde am Boden zu Wasser zu zergehen. Er zog sich an, im Zimmer war noch ein Rest Wärme geblieben von gestern, und er trat zum Fenster, wo man den See nicht sehen konnte und nicht die Berge vor dem Schneegwimmel, wo aber doch eine große Helligkeit draußen lag, die anzeigte, daß der Schneefall bald aufhören würde. Josef stieg in die Wirtsstube hinab, die sah schon wieder freundlich und sauber her, war schon gewärmt, es roch nach frisch gewa-schenem Boden, es war gut gelüftet worden, und an seinem Platz am grünen Ofen lag die neue Nummer einer Zeitung der nahen Groß-stadt. Er blätterte darin, da kam Anna, frisch und blühend, frisch gelüftet, dachte er. Er bestellte warme Milch und Schwarzbrot und Butter, und sie brachte es. Er sprach ein paar Worte, sie antwortete wie jemand, der sich auf eine Unterredung gefreut hat und der doch bange dar-auf war. Die Stimme kam nicht frei aus der gewölbten Brust herauf, dunkel und heiser, kindlich zaghaft.
Dann trieb es ihn in den Winter hinaus, er hatte es leicht, hinauszugehen, er wußte, daß er zu Mittag wieder hier sein würde, daß das große, schwarzhaarige Mädchen, nein, die Frau, aber das paßte auch nicht, er lächelte, daß die Magd ihn bedienen würde, da konnte er leicht in den Winter hinausgehen. Wirklich hatte es aufgehört zu schneien. Er ging durch den Ort. Er war bald am Dorfende, der Weg lief weiter, und da kam nun ein Hügelland, sanft, gewellt, erst weit hinten wieder hohe Berge, hier die Hügel, Brust an Brust, er dachte an die feste, gewölbte Brust Annas, die hier, die Hügelbrüste, waren auch kraftvoll und fest wie die ihren, aber nicht in Schwarz gehüllt, in Schneeweiß. Er ging den Weg weiter, zehn Minuten hinterm Dorf lag am Weg ein Haus, städtisch aussehend, kein Bauernhaus. Es war nicht zu erkennen, ob das Haus bewohnt war. Er blieb am Zaun stehen, an der Zauntüre, nichts regte sich. An den Fenstern sah er Vorhän-ge, die Fensterläden waren offen, es war alles in gutem Zustand, aber so unheimlich ruhig. Er konnte nicht anders, obwohl es peinlich sein mußte, wenn sich daraufhin jemand zeigte, er mußte schallend in die Hände klatschen, schämte sich aber, ging schnell weiter, sah sich dann scheu um, aber nichts im Haus hatte sich gerührt. Er ging den Weg, der hügelauf und hügelab sich schlängelte, ging auf einem Holz-steg über einen Bach, schlug einen großen Bogen, der ihn zum See brachte, und ging den Seeweg entlang zum Dorf.
Der Ofenplatz wartete auf ihn, Anna hatte ein kleines, viereckiges, weißes Tuch am Tischende über das rote Tischtuch gelegt, und als er eintrat, sie unter der Tür stand, die zur Küche führte, wurden ihre Augen groß und feurig, sie flammten auf, dann brannten sie wieder sanft, aber sie brannten, und vorher hatten sie nur still geglommen, hatten auf den Wind geduldig geharrt, der ihnen das Glänzen geben sollte.
Er aß mit großem Behagen, man kochte gut, auch an höheren Ansprüchen gemessen, man war das noch vom Sommer her gewohnt, wo viele Gäste aus der Stadt hier im Landaufenthalt Erholung suchten. Jetzt, im Februar, war alles leer von Fremden, weil die Gegend keine oder nur geringe Möglichkeit zum Wintersport bot, aber der Zuschnitt des Gasthauses war noch städtisch, nur die dämmernde Stille der Wirtsstube ländlich. Anna bediente ihn mit einer unaufdringlichen, scharfäugigen Sorgfalt, und wenn er ihr ruhiges, beglänztes Gesicht sah, wußte er: das ist Liebe. Vielleicht wußte sie es noch nicht, sie spürte wohl nur eine sanfte Zufriedenheit, ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen zu dürfen, und konnte gut vor sich verbergen, daß das Liebe war, denn war es nicht ihre Berufspflicht und ihre Berufsehre, jede Kraft aufzubieten, dem Gast genug zu tun?
Als er zahlte und ihre Hand einen Augenblick auf dem Tischtuch lag, legte er leicht seine Hand auf ihre. Es ging ein Zittern durch ihren Körper, dann regte sie sich nicht, sie hielt den Atem an, das sah er und fühlte er, sie hielt den Atem an, und ihr Gesicht rötete sich davon, und da nahm er die Hand wieder weg von der ihren und ging hinauf in sein Zimmer, kochte sich seinen gewohnten Kaffee.
Später machte er einen Spaziergang, den Weg vom Vormittag. Es war ein strahlender Wintertag nun geworden, mit einem blauen Him-mel ohne jede Wolke, und die beglänzten Hügel ringsum blendeten die Augen. Da war auch schon wieder das Landhaus, und er stand schon wieder vor der Tür und sah auf das Haus, in dem sich nichts rührte und regte. Er blieb lange stehen in der prallen Sonne, die wärmte ihn. und sah von Fenster zu Fenster, und auf einmal fühlte er, wie er die Klinke der Gartentür niederdrückte, aber die Tür öffnete sich nicht. Die Besitzer sind in der Stadt, sagte er sich, sah aber immer noch ungläubig auf die lebendigen Fenster. Wer weiß, warum er es nicht glau-ben wollte, daß das Haus unbewohnt sei? Er stand wohl fünf Minuten vor der Gartentür, aber dann ging er doch zögernd und wieder den Weg wie am Vormittag, zum See hinunter und den See entlang. Auf einer kahlen Weide saßen ein paar Krähen, das einzige Lebendige weit und breit, wenn man nicht den See als etwas Lebendiges rechnen wollte, der kleine Wellen über den Uferschnee warf, der davon zu glän-zendem Eis wurde. Die Sonne, die er am Vormittag auf dem Kirchturm des Jenseitsdorfes hatte sitzen sehen und am Mittag freischwebend und kugelfeurig über dem See und am Nachmittag brennend über den beglänzten Hügeln, drohte nun glühend über einem Wald am Hori-zont, sank, wurde aufgespießt von spitzen Fichten, blutete, versank ganz im Wald, und schnell war die Dämmerung da. Er ging den nun schon gewohnten Gang in sein Zimmer und saß ruhig neben dem Ofen und sah durch das Fenster noch die schwarze Nacht kommen. Und als in der schwarzen Nacht der Mond heraufkam und viele Sterne heraufkamen, verließ er wieder sein Zimmer und ging nach unten in die Wirtsstube. Es war ihm, als sei er das alles schon seit langer, langer Zeit gewohnt, geregelt und vorbestimmt schien ihm der Verlauf dieser Tage. Der grüne Ofen stand, und er saß schnell wieder an seinem Platz, und als er saß, sah er nach rechts schräg oben und sah Annas ruhig strahlendes Gesicht unter dem schwarzen Haar, und die Bluse knisterte, und er bestellte das Essen, und das Essen kam und wurde wieder weggetragen, und die Zigarre wurde angezündet, und zum Nebentisch die Männer kamen, grüßten kurz und spielten Karten und tranken Bier, während er bei seinem grünlichen Pfälzer blieb. Er brachte es heute auf fünf Schoppen, wurde heiter, langweilte sich gar nicht in sei-ner einsamen Ecke, sprach mit Anna nur das Notwendige, aber sie unterhielten sich mit den Augen, ja, sie verständigten sich durch ihr blo-ßes Dasein, durch jede Bewegung ihrer Körper. Wenn er sich fest an den Ofen drückte und sich dehnte und sich straffte, so antwortete sie seiner Bewegung in einer seltsam aufnehmenden Art, unwillkürlich, und als er einmal seine Hand auf den Tisch legte, die Handfläche nach oben, legte sie ihre Hand hinein, obwohl sie drüben am Kartenspielertisch war. Sie lächelte ruhig und legte ihre Hand in seine, legte sie in die Luft natürlich, in eine Luftspiegelung. Aber sie mußte doch seine fleischige Hand spüren, denn sie erbebte und errötete. So ging es den ganzen Abend, ihr Zusammensein vor aller Augen, und unbemerkt doch, spannte und erregte sie. Die Kartenspieler gingen, Josef saß nun allein in der Stube, Anna stellte die Stühle auf die Tische, es war elf Uhr abends geworden, und plötzlich fragte Josef, ob er nicht noch eine Tasse Kaffee auf sein Zimmer gebracht haben könne, er koche ihn zwar sonst selber, aber dazu sei er jetzt zu müd, aber auf den Kaffee wolle er doch nicht verzichten? "Natürlich können Sie das", sagte Anna, ich koche ihn selber noch, die Köchin schläft schon, und bringe ihn Ihnen", und lief in die Küche, und er ging hinauf in sein Zimmer und wartete, bis Anna kam. Auf einmal stand sie unter der Tür, und er stand auf und nahm ihr das Geschirr ab und stellte es auf den Tisch, und Anna trat aus dem Türrahmen heraus und herein in das Zimmer und schloß die Tür hinter sich und blieb vor der Tür stehen. Wie groß sie ist, dachte er. In dem kleinen Zimmer kam es deutlicher zur Gel-tung. Ihr Gesicht schien blaß zu sein und war demütig und entschlossen, der schöne Leib auf den starken Beinen regte sich nicht, nur lang-sam und schwer ging die Brust. Josef ging auf sie zu, sie war so groß wie er, sie kam ihm aber größer vor. Er stand dicht vor ihr, sah in ihre Augen, sah auf ihren Mund. Er zog sie an sich, etwas nur an sich und küßte sie. Sie regte die Lippen zuerst nicht, er spürte, wie sie sich aber dann unter dem Druck der seinen leicht öffneten. Sie hatte die Augen jetzt geschlossen, atmete tief, lehnte sich gegen die Tür und fing lautlos zu weinen an. Es war ein stilles Weinen, ihr Gesicht verzerrte sich nicht dabei, die Tränen liefen aus den geschlossenen Augen, dann lächelte sie, schlug die Augen auf, die Tränen flossen weiter, ja sogar stärker, eine tiefe Glückseligkeit lag über dem tränenüberströmten Gesicht, so verharrte sie eine Weile, der Ausdruck eines grenzenlosen Glücks verwischte sich nicht in ihren Zügen, und als Josef auf sein Bett hin sah, dessen Decke schon zurückgeschlagen war, kam in ihre Augen, die noch feucht waren, ein von tief innen heraufspielender Glanz, eine kindliche Bereitwilligkeit zu jedem Tun lockerte die starken Glieder. Josef sah schnell weg vom Bett. "Gute Nacht, Anna", sagte er, und sie nickte nur, drehte sich um zur Türe und ging wie ein Trunkener geht, oder wie ein Lastragender, aber die Last ist seine Beseli-gung.
Als Josef ausgestreckt im Bett lag und seinen ruhig atmenden Körper fühlte und sich dann aufrichtete und ihn betrachtete, sich die Schenkel abtastete und auf die Brust klopfte und spürte, wie warm und sicher und kräftig er war, wurde die Verwunderung in ihm stärker, daß er Anna so hatte gehen lassen. Anna, murmelte er, und dann kam die Müdigkeit des Weines, und er schlief ein und schlief tief und traumlos die ganze Nacht.
Der Stundenplan des neuen Tages stand ja fest. Erst kam wieder das Frühstück in der gescheuerten, glänzenden Wirtsstube und unge-wöhnlich, weil zum erstenmal, war, daß ihm Anna, als sie ihr "Guten Morgen" sagte, ihm die Hand hinstreckte, die er fest schüttelte, sonst war alles wie immer. Es kam der Gang durch das Dorf. Nachts hatte es wieder geschneit, der Schnee war noch weißer als sonst, unter den Haustüren standen Leute, die er nun schon kannte und die nun auch ihn schon kannten, und einer grüßte, und er sah, daß es einer von den kartenspielenden Männern war, und er grüßte erfreut zurück, und die Sonne war die von gestern und vorgestern und goldfarbig wie je, und die Hügel liefen vor seinen Augen auf  und ab, und der Weg lief, und er lief auf dem Weg und stand auch schon wieder vor der Gartentür des Landhauses und sah auf die Fenster. Die spiegelten wie nur immer, und unverwandt starrte er lange auf eines, das schillerte und glänzte wie närrisch, und wenn ein Kopf und in dem Kopf ein paar Augen ihn durch dieses Fenster beobachtet hätten, sie wären nicht zu erblicken gewesen, und warum er nur immer dachte, daß in dem Hause jemand vielleicht wohne, wußte er sich nicht zu erklären, und er beschloß, heut Mittag Anna zu fragen, wem das Haus gehöre, und war erstaunt, daß er das nicht schon längst getan hatte. Aber einstweilen stand er immer noch an der Tür und stellte fest, daß mindestens heut noch niemand das Haus betreten, noch verlassen haben könne, weil der Schnee im Garten und auf dem Weg, der von der Gartentür zur Haustür führte, unberührt war. Lustig spiegelten die Fenster, er ging, er sah sich ein paar mal um, ging sogar, als er schon an die zwanzig Schritte weg war, wieder zurück, aber dann ging er endgültig und trat des zum Zeichen fest auf und ging zum See hinab, wo die Krähen schrieen und die leisen Uferwellen plätscherten, die genug zu tun hatten, den frischgefallenen Schnee zu übersprühen und zu Eis zu machen.
Anna bediente ihn beim Mittagessen. Das große, schwere Mädchen schwebte, das Glück war zu ihren Füßen ein See, auf dessen Wellen sie wandelte, gewichtslos. Josef betrachtete sie, ein wenig befremdet und ein wenig beunruhigt, denn an diesem Glück, das er hervorgeru-fen hatte, hatte r nicht in dem Maße teil wie sie, und ihr Glück bestand wohl auch darin, daß sie annahm, er teile es. Mußte er ihr sagen, daß er das nicht tat? Hatte er sich zu Unrecht und unbedacht in ihr Leben gedrängt? Mußte er, um ihr Liebeslust und Liebesleid zu erspa-ren (und Liebestod vielleicht! sagte etwas frech und überschwenglich in ihm), mußte er da jetzt gehen? Aber war es nicht auch und ebenso vorwitzig, jetzt die Flucht zu ergreifen, wenn es schon Vorwitz gewesen war, zu kommen? Er blieb jedenfalls und wartete ab, beunruhigt und neugierig, was da wohl werden würde.
Später tat er, was er jeden Nachmittag hier getan hatte, er ging durchs Dorf dem Hügel zu und blieb an der Gartentür des Landhauses stehen. Er faßte nach der Klinke und drückte, und die Tür sprang diesmal auf. War also jemand im Haus, oder hatte er damals nicht fest genug gedrückt, damals, am ersten Tag seines Aufenthaltes hier, als er schon einmal sie zu öffnen versucht hatte? In der beginnenden Dämmerung lag das Haus, er machte ein paar Schritte auf dem überschneiten Weg, blieb beobachtend stehen und ging dann weiter, bis er an der Mauer des Hauses hielt, sich dicht an die Mauer drückte, daß niemand in dem Haus, der vielleicht aus dem Fenster sah, ihn sehen sollte. Er sah einen Sprung im Verputz der Mauer, sah ein paar vom Herbst gebliebene Spinnfäden wehen und dachte sich: wenn man mich sieht und mich frägt, sage ich, ich wollte mich erkundigen, ob hier ein Zimmer zu vermieten sei! Er ging vorsichtig an dem Haus entlang, die Haustüre war geschlossen, er ging um die Hausecke herum, ging die Seitenmauer des Hauses entlang und ging wieder um die Ecke, und auf der Hinterseite des Hauses war wieder eine Tür, und er drückte gegen sie, und sie ging auch auf.
Er stand in einem halbdunklen Flur und sah wieder eine Tür vor sich und öffnete auch diese und befand sich in einem hellerleuchteten Zimmer, und eine kleine, blonde Dame saß auf einem Stuhl und hielt am Halsband fest einen mittelgroßen, braunen, stachelhaarigen Hund, der leise knurrte, der nicht übel Lust hatte, laut zu heulen, aber die Hand der Dame auf seinem Halsband drückte ihm etwas den Kopf ge-gen den Boden, und das hieß: schweig du! Die Dame war zierlich gewachsen, hatte ganz helle Augen und ganz helle Augenbrauen, Augen-brauen, die sich kaum von der blonden Haut, auch die Haut des Gesichtes war blond, abhoben. Mit diesen hellen Augen sah sie Josef ent-gegen, gar nicht überrascht, gar nicht erschreckt, die Augen sahen so, als seien sie eben in einem Gebiet der Einbildungskraft geschweift, wo nichts unmöglich ist, da konnten sie nicht erschrecken vor dem Anblick eines gewöhnlichen Mannes, wenn der auch etwas unerwartet gekommen war, und mit einer Stimme, die sehr den Augen glich, einer blonden und hellen Stimme, sagte die Dame jetzt und fragend: Bit-te? Der Hund knurrte, und Josef stand an der Tür, und die Dame hatte "Bitte" gesagt, und dann nahm er sich zusammen und fragte, ob hier nicht ein Zimmer zu vermieten sei. "Das ganze Haus", schrie die Dame lachend, "das ganze Haus vom Keller bis zum Dachboden, gewiß doch!" und lachte laut und aufgeregt und lang und hörte nicht mehr auf zu lachen, und Josef sah verwirrt zu Boden und hörte immer noch das Lachen, ohne das lachende Gesicht zu sehen, und als er endlich doch wieder aufsah, lachte die Dame immer noch, aber Tränen liefen aus ihren Augen, das Lachen ging in Weinen und Schluchzen über, und dann wurde sie still und legte das Gesicht auf die Tischplatte, daß man es nicht mehr sah und war ganz ruhig, nur die Hand zitterte, die immer noch dem Hund den Kopf gegen den Boden drückte. Das war alles unerklärlich, und als Josef jetzt gehen wollte, wieder nach der Klinke griff, sah aber die Dame wieder auf und sagte, und jetzt weinte sie schon wieder nicht mehr, "nein, jetzt müssen Sie schon bleiben".
"Jetzt müssen Sie schon bleiben", wiederholte die Dame. "jetzt wo Sie gerade zu dieser Stunde gekommen sind". "Gerade zu welcher Stunde?" fragte Josef. Er betrachtete die Dame genau. Ihre Züge waren jetzt entspannt, die ganze Gestalt gelockert, es war etwas um sie wie Heiterkeit, nein, etwas, wie einer Gefahr entronnen sein, vorläufig wenigstens einer Gefahr entronnen sein. Die Dame antwortete ihm nicht und sagte nur: "Ein Zimmer im ersten Stock, ein schönes Zimmer können Sie haben, mit Aussicht auf den See und recht bequem". "Ich weiß noch nicht", sagte Josef, ob es nicht besser ist...und "ich wohne im Adler auch sehr gut". Aber das ließ die Dame nicht gelten, und dann sagte sie ihm, er, Josef, habe sie soeben ins Leben zurückgerufen. Sie habe das Giftfläschchen schon in der Hand gehabt, eben, als er eintrat, und wäre er nur zwei Minuten, nur eine Minute, ja sogar nur eine halbe Minute später gekommen, so hätte er wohl einen le-benden Hund, aber eine tote Frau im Zimmer vorgefunden. Josef lächelte und tat, als scherze sie, was sollte er wohl sonst auch tun in dieser ungewöhnlichen Lage? Die Dame beachtete sein Lächeln nicht. Jetzt müsse er bleiben, wiederholte sie hartnäckig, und ihre Stimme klang zäh und entschlossen, in dem Augenblick, da er wieder ginge, würde sie das Fläschchen wieder hervornehmen und nachholen, was sie ver-säumt. Sie sah ihn an: "Das wollen Sie nicht! Sie müssen bleiben. Das Zimmer im ersten Stock ist gut eingerichtet, lassen Sie Ihre Sachen vom Adler holen und bleiben Sie. Um sechs Uhr kommt Maria, ein Bauernmädchen aus der Nachbarschaft, das Besorgungen für mich macht. Schreiben Sie den Auftrag auf einen Zettel, sie trägt ihn zum Adler und holt das Ihrige". Sie wies auf einen Schreibtisch. "Gestern", sagte Josef, "gestern Nachmittag und auch heute sah ich keine Spur im Garten!" "Ich kam gestern abend an", sagte die Dame, und heute nacht hat's geschneit und auch die Spuren verschneit, und ich verließ das Haus nicht mehr. Um sechs Uhr kommt Maria. Schreiben Sie". Josef ging an den Schreibtisch und schrieb dem Wirt, er habe hier im Landhaus ein Zimmer gemietet, und der Wirt solle seine paar Sachen einpacken lassen und der Überbringerin des Zettels mitgeben und ihr auch die Rechnung mitgeben. Er betrachtete den Zettel, aber die Da-me kam und nahm ihn und las ihn und sagte: "Das ist gut so. Wollen Sie Ihr neues Zimmer sehen?" Sie stieg vor Josef die Treppe hinauf, zeigte ihm den hübsch eingerichteten Raum, und dann gingen sie wieder in das untere Zimmer hinab. Da ließ ihn die Dame gleich allein und sagte, sie müsse ihm oben Feuer machen, und ging, und er saß nun da; neben ihn hatte sich der Hund geschlichen, der seinen Kopf auf seine Stiefel legte, es war ihm wohl zu einsam. Und die Dame erschien wieder und sagte:" Jetzt wird's droben schön warm". Kurz darauf kam Maria, und die Dame sagte ihr, sie habe an diesen Herrn das obere Zimmer vermietet und sie solle nun gleich zum "Adler" gehen und die Sachen des Herrn holen. "Es ist nur ein einziger Koffer", sagte Josef, "Hier ist der Zettel", sprach die Blonde, sie holte ihn aus dem Ausschnitt ihres Kleides, "und nun gehen Sie". Maria ging, und nun waren Mann, Frau und Hund wieder allein.
Die Dame versuchte es gar nicht, ein Gespräch in Fluß zu bringen, und Josef hätte jetzt Zeit gehabt, über das merkwürdige Erlebnis nachzudenken. Er nahm auch einen Anlauf dazu, aber es gelang ihm nicht, die Gedanken gehorchten ihm nicht, er konnte nicht denken, er mußte nur sehen, er mußte die Dame ansehen und den Hund und das Zimmer und immer wieder die Dame und immer wieder und vor al-lem das Gesicht der Dame, den blassen Mund im hellen Gesicht und die hellen Augen. Dann fiel ihm auf einmal ein, es wäre wohl das Be-ste, trotz allem von hier fortzugehen, aber er hatte es kaum gedacht und den Gedanken wohl durch ein Zucken des Mundes oder ein Stirn-runzeln oder durch sonst etwas nach außen dringen lassen, denn die Dame wurde unruhig, sah ängstlich auf ihn, da ließ er den Gedanken gleich wieder los, und auch das fühlte sie, sie wurde wieder ruhig und zuversichtlich, und so warteten sie.
Nach einer Stunde kam Maria wieder mit seinem Koffer und der Rechnung und einer Empfehlung vom Wirt, und Josef ging mit dem Mädchen in sein neues, nun schon behaglich warmes Zimmer, räumte den Koffer aus, legte die Wäsche in den Schrank. Welch ein Aben-teuer! dachte er, welch ein Abenteuer! Da kam Maria wieder und sagte: "Zum Essen".
Es wurde nicht viel gesprochen zwischen ihnen an diesem Abend, der sehr lang war, aber die Befangenheit zwischen den beiden Men-schen war weg, und auch der Hund spürte das, er lag am warmen Ofen, schlief, erwachte dazwischen., sah vom Herrn auf die Dame, schlug mit dem Schweif den Boden und schlief wieder ein mit beruhigten, tiefen Atemzügen.
Am andern Morgen, nach dem Frühstück, das er wieder gemeinsam mit der Dame einnahm, als er am andern Morgen ihr sagte, er wolle nun einen Spaziergang machen, in einer Stunde sei er wieder zurück, erbleichte sie, die Blonde, ihre hellen Lippen zitterten, und dann fleh-te sie ihn an, das nicht zu tun, sie nicht allein zu lassen, sie wolle ihm Bücher bringen und ein Schachbrett habe sie und Turngeräte, aber bleiben solle er, bleiben, um Gottes und aller Heiligen willen bleiben und sie nicht verlassen! Er komme ja nach einer Stunde wieder zu-rück, erwiderte er, bestimmt und sicher wieder zurück. Sie schüttelte den Kopf und flehte: „Bleiben Sie".
Er blieb, setzte sich ans Fenster, sah in den hellen Wintertag hinaus, auf den schwarzen Zaun und die Tür, an der er gestern neugierig gerüttelt hatte. Nun kannte er das Geheimnis des Hauses, oder eigentlich, er kannte es nicht. "Da ist nicht viel zu wissen", sagte sie, ich bin seit vierzehn Tagen, nach einer fünfjährigen Ehe, geschieden. Wahrscheinlich liebe ich den Mann noch, aber das weiß ich nicht, aber ich weiß, daß ich sterben will". "Sie", sagte sie und sah ihn an , "haben mir eine Gnadenfrist verschafft, ich lebe weiter, so lange und so kurz Sie bleiben". Ihr weißes Gesicht sah ihn saugend an. "Bleiben Sie, bitte, oder gehen Sie: ich bin in Ihrer Hand", und ging aus dem Zimmer.
Er blieb am Fenster sitzen bis zum Mittagessen, speiste mit ihr, trank Kaffee, spielte Schach mit ihr den langen Stubennachmittag. Abends las er, sie las auch, er rauchte, sie rauchte nicht, er ging schlafen, sie ging schlafen. Er erwachte am Morgen, klare Sonne schaute auf sein Bett. Er wußte der würde jetzt die Treppe hinabsteigen, zum Kaffeetisch, zum Hund, der nun sein Freund geworden war, zu ihr, die ihm fremd war, die an ihn gebunden war, die sich an ihn gebunden hatte. Er lachte, ich bin im Gefängnis, sagte er sich.
Nach dem Kaffee saß er am Fenster, sah wenigstens hinaus auf den Schnee, sah hinaus auf den Weg, sah hinaus auf die Hügel, sah we-nigstens hinaus, da er nicht hinausgehen durfte. Aber wenigstens in den Garten darf ich gehen? wollte er fragen, aber er öffnete den Mund nicht, denn schon bevor er sprach (erriet sie denn seine Gedanken?), war sie weiß geworden wie der Schnee draußen, und so fragte er nicht, und da kehrte die Farbe wieder zurück in ihre Wangen. Er lachte wieder, sie lachte mit. Wie lang soll das gehen? dachte er. Kummer-voll wurde ihr Gesicht. Sie konnte seine gedachte Frage nicht beantworten, drum sah sie traurig her, aber da sein Lächeln blieb, wich die Sorge wieder aus ihrem Gesicht.
Und wie er jetzt wieder zum Fenster hinaus sah, stellte sie sich hinter ihn, er spürte das leichte Rauschen ihres Gewandes, eine leichte Wärme, spürte ihre Lippen auf seinem Hals, sie war kleiner als er, sie mußte sich auf die Zehen gestellt haben, er wunderte sich trotzdem, daß sie seinen Hals erreichen konnte, er spürte die Lippen, unterschied Unterlippe und Oberlippe, spürte, daß sie beim Kuß die Lippen leicht geöffnet hatte. Dann drehte sie ihn herum, er ließ sich drehen, lässig, nun küßte sie ihm das Gesicht, Lippen, Stirn und Wangen, küß-te ihn lange und oft, nicht wild, und er ließ sich willenlos abküssen und ließ sie sich an ihn pressen, und dann ging sie wieder weg von ihm und aus dem Zimmer, und er drehte sich um und sah wieder in die Freiheit hinaus, in die weiße Freiheit. Er sah die Gartentüre, schwarz, und den schwarzen Zaun, ein schwarzes Käfiggitter. Er besah seine linke Hand. Mit ihr hatte er den vorwitzigen Griff nach der Klinke ge-tan, und das war der Anfang gewesen, und nun war kein Ende abzusehen in der Verwirrung, in die ihn seine sträfliche Neugier gelockt hat-te.
Abends deckte die Blonde den Tisch. Nicht das gewöhnliche Geschirr brachte sie, sie holte aus einem Schrank, den sie bisher noch nie geöffnet hatte, schönes Porzellan, gelblich. Er nahm einen Teller in die Hand. Um den Tellerrand ruderte ein venezianischer Schiffer in sei-ner Gondel, gold, blau und rot, und Kristallgläser brachte sie, und silberne Gabeln und Löffel, und zwischen das Geschirr legte sie grüne Tannenzweige, wie eine Festtafel sah es aus. Und einen Weinkühler brachte sie, der war mit Eis gefüllt, und eine Flasche Wein steckte drin.
Wieder ging die Blonde, wieder wanderte er allein im Zimmer auf und ab. Und wieder kam sie und hatte sich umgekleidet, hatte sich festlich gekleidet, trug ein ausgeschnittenes Abendkleid, mit freiem Hals, wie war ihr Fleisch weiß und ihr Haar blond und ihre Augen hell. So saßen sie zu Tisch, und Maria, die eine weiße Schürze trug, brachte das Essen, und er schenkte den Wein ein, der war gelb wie das Haar der Blonden und ging ins Blut, ging ihr auch ins Blut, der Blonden, ihre Augen glänzten bald.
Auf einmal sah er neben seinem Glas einen Brief liegen, einen weißen Umschlag, angegilbt, als sei er lange in einer Schublade gelegen, in einer etwas feuchten Schublade, und der Brief trug seinen Namen, mit dünner, blasser Tinte geschrieben, mit einer Tinte geschrieben, die schon verdickt und fast eingetrocknet gewesen sein mußte, und die man mit zugeschüttetem Wasser wieder flüssig gemacht hatte. Der Brief trug seinen Namen, und ihn hatte Maria hingelegt. Die Schrift war kindlich, mit zu großen Buchstaben und mit genau gesetzten U-Häubchen und I-Punkten. Die blonde Frau war weggegangen, sie wollte den Kaffee selbst kochen, und er öffnete den Brief schnell und las. Er war von Anna, der Kellnerin vom "Adler". Wie hatte er sie vergessen! Es war merkwürdig, wie er sie in seiner Gefangenschaft vergessen hatte, nein, nicht vergessen, sie war noch da in ihm, aber er hatte wohl absichtlich nicht mehr an sie gedacht, aus bestimmten Gründen, die ihm selber nicht klar waren, aber nun auf einmal lebte sie wieder, war ihm unheimlich nah, und da war ihr Brief, den sie ihm geschrieben hatte, und den er nun schnell las und der bestürzende Inhalt des Briefes stand in einem seltsamen Gegensatz zu der regelmäßigen, kindli-chen Schrift, zu den genau gesetzten U-Häubchen und I-Punkten, und er war in guter Rechtschreibung geschrieben, kein Schreibfehler störte, und sie schrieb ihm, wenn er sie nicht noch heut Abend, heut Abend um elf Uhr an der Tür, hinter der Tür des "Adlers" erwartete, dann, ja dann, dann ginge sie von dieser Tür weg ins Wasser, in den See, in den Tod!
Er lachte über diese schnelle und harte Drohung. Dann erschrak er. War's ihr Ernst? Wie kam sie dazu, ihm das zu schreiben? Nun, er wußte wohl, wie sie dazu kam. Wußte er es nicht? Er steckte den Brief rasch ein. Die Blonde kam aus der Küche, mit geröteten Wangen, die Kaffeekanne in der Hand. Es war ein guter und starker Kaffee, er rauchte, sie rauchte. Das Kristall glänzte, das weiße Tischtuch, die Gläser blitzten, grün die Tannenzweige dazwischen.
Das Gespräch ging weiter, er hörte sich reden und lachen, er hörte die Blonde reden und lachen, und in seiner Tasche steckte der Brief. Er sah verstohlen auf die Uhr. Es war halb zehn. Noch anderthalb Stunden, dachte er. Was sind anderthalb Stunden? Anna geht in die See! Sie geht nicht, dachte er, denn ich erwarte sie an der Hintertür des "Adlers".
Die Blonde ihm gegenüber blühte wie eine gelbe Blume. Ihr Gesicht war runder geworden in den zwei Tagen, ihre weiße Haut weißer. Sie dehnte sich in dem seidnen Abendkleid, behaglich, und wenn es sie schüttelte, wie im Frost, so verbarg sie das schnell.
Nach einer Stunde ging sie schlafen, die Blonde, und an der Tür sah sie sich unruhig nach ihm um und blieb stehen und lächelte und sagte:" Wie lange darf ich noch leben?" und ging. Josef wartete eine Viertelstunde, dann verließ er das totenstille Haus, ging durch den Gar-ten, öffnete die Gartentür und trat auf den Weg. Es war eine sternklare und kalte Nacht. Wie ein aus dem Gefängnis Entsprungener kam er sich vor. Wenn er rasch ging, kam er gerade noch recht zu dem Stelldichein mit Anna. Der Weg war fest gefroren, der Mond stand hoch am Himmel, vor ihm, in der Ortschaft waren noch einige Lichter wach. Er war fast schon beim Dorfeingang. Aber die Blonde? und ihre letzte Frage? Wenn sie entdeckte, daß er geflohen war! Er blieb stehen, drehte dann kurz um und ging den Weg wieder zurück. Die Blonde, die hatte das Gift ja bereit gestellt, und er mußte schleunigst zurück, das Schlimmste zu verhindern. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen, sang Gift, Gift! Er ging schneller, den halben Weg zum Landhaus hatte er schon wieder zurückgelegt, als er hinter sich elf Schläge der Dorfuhr hörte. Jetzt trat Anna aus der Hintertür des "Adlers". Da machte er kehrt und lief, die kalte Luft fuhr pfeifend in seine Lunge, auf das Dorf zu. Er lief, er durfte nicht zu spät kommen, zehn Minuten würde sie wohl warten. Jetzt kam der Bogen, den der Weg machte, und um ihn abzuschneiden, lief er querfeldein, lief, stolperte. Er hatte schon fast die Sehne des Bogens durchlaufen, er sah das Band des Wegs schon wieder, da kam ein Graben, er fiel, neben dem Graben stand ein Baum. Er wollte sich aufrichten, es ging nicht, er schleppte sich un-ter den Baum, saß eine Weile, versuchte dann wieder aufzustehen. Unmöglich! Es stach unerträglich im linken Knöchel. Er betastete die Stelle. Das schmerzte höllisch. Gebrochen, dachte er.
Er saß mit dem Rücken am Baum. Kalt! Er schlug den Mantelkragen hoch, zog den Hut tief ins Gesicht, vergrub die Hände in die Man-teltaschen. Von der Kirche schlug die Uhr einmal. Schon eine Viertelstunde. Der Knöchel tat weh, er schwoll auch schon an. Nun mußte er wohl bis zum Morgen so sitzen bleiben, sechs, sieben, wohl auch acht Stunden. Das war lang, und es war bitter kalt, würde wohl nach Mit-ternacht noch kälter werden. Erfrieren, ging ihm durch den Sinn. Lächerlich! Sich wehren! Er hatte einen warmen Mantel an, und nun hieß es, die Nacht durchkämpfen. Der volle Mond stand am Himmel, das Dorf lag schwarz vor ihm, die Berge verliefen weit, rechts unten das Bläuliche, das war der See. Nicht einschlafen, dachte er. Aber er hatte keinen Schlaf, der scharfe Kaffee tobte noch in ihm, er würde nicht einschlafen. Zwölf Schläge, schon Mitternacht! Das ging aber rasch.
Noch spürte er die Kälte wenig, noch war ihm heiß, sollte das schon etwas Fieber sein? dachte er. Nur nicht einschlafen, heiß es, in sol-chen Fällen wie dem seinen. Einschlafen? Ihm war wahrhaftig gar nicht zum Einschlafen zu Mut. Das war seine geringste Sorge. Er sah lang zum Himmel auf, zu den vielen Sternen. Er erkannte einzelne Sternbilder, viel wußte er nicht von diesen Dingen. Der Himmel war blauschwarz und tief, unendlich tief, und das Mondlicht lag auf dem Schnee, bläulich, unwirklich. Wie wohl tat's, sich an den Baum zu lehnen. Er griff mit der Hand hinter sich nach dem Stamm, spürte die steifkalte geborstene Rinde. Unbeweglich lag das Dorf vor ihm. Ob er in einem Acker lag? Oder auf einer Wiese? Es war nicht zu erkennen, der Schnee lag zu dicht, keine Ackerfurche war zu sehen, waren viel-leicht alle ausgefüllt. Er langweilte sich gar nicht. Es schlug die erste Stunde nach Mitternacht vom Kirchturm. Schon, dachte er. Seine Hände waren kalt, aber er hatte ja in den Manteltaschen Handschuhe stecken, und die zog er nun bedachtsam, langsam an und genoß froh die Erwärmung.
Später einmal, nach zwei Uhr, kam etwas Schwarzes gegen ihn herangehopst, ein Hase. Der machte ein Männchen, sein Schatten stand schräg und schwarz und komisch. Dann kam das Tier näher und blieb und wagte noch einen Satz und war ihm nun zum Greifen nah, und er sah in die Augen des Hasen, er sah die Ohren, sah das braungelbe Fell, die Pfoten, den helleren Bauch, sah den Bauch sich atmend re-gen. Die Augen sahen ihn friedlich und neugierig an, dann verschwand die Neugier aus dem Blick, Furcht ließ sich drin nieder, Furcht drückte auf einmal der Körper aus, die Furcht wurde helles Entsetzen, dann warf sich der Hase mit einem Ruck herum, daß der Schnee stäubte, und raste wild zurück, auf das Dorf zu, der schwarze Schatten hinterdrein, als jage er das Lebendige, und Josefs Gelächter, das wie eine Peitsche hinter dem Hasen und seinem Schatten herschlug, trieb das Paar noch schneller und zum Äußersten an. Dann verschluckte die beiden der Dorfschatten.
Noch viel später, das mußte wohl schon gegen Morgen sein, obwohl am Himmel keine Veränderung vorgegangen war, nur der Mond seinen Platz gewechselt hatte, bekam er Besuch von drei Krähen, die sich in schleppendem Flug ihm auf zwanzig Schritte näherten, dann im Schnee hocken blieben, unbeweglich. Er sah lange auf sie hin, auf die drei schwarzen Vögel. Wo mochten die wohl hergekommen sein? Wie lange sie wohl blieben? Er schloß die Augen, zählte bis sechzig, machte sie auf, sie hockten noch da. Mit geschlossenen Augen ging er diesmal bis hundert. Als er bei achtzig war, war es ihm, als hörte er sie die Flügel auftun und wegfliegen. Aber er zählte tapfer bis hundert, wie er es sich vorgenommen hatte, mit geschlossenen Augen, und als er wieder sah: sie waren immer noch da! Das freute ihn unbändig. Bis zweihundert, nahm er sich vor. Das dauerte lange, und als er die Augen öffnete, waren die Vögel schon weggeflogen.
Und dann mußte er doch sterben, so tapfer er sich gewehrt hatte bisher, es war fast schon Morgen, die Nacht schon heller, da hatte er auf einmal keinen Mut mehr zum Leben, keinen Widerstand mehr gegen den Tod, keine Lust mehr zu atmen, Begierde nur mehr nach Schwärze und Schweigen. Die beiden Frauen waren nun wohl auch schon tot, tot die Schwarze, tot die Blonde. Er sah Anna im Wasser treiben, das stille Gesicht nach unten im Kühlen, und sah die Blonde, quer über den Tisch liegend, mit verzerrtem Gesicht, und das Schul-terband des Gesellschaftskleides war verrutscht und ließ die weiße Haut sehen, lockend, aber das verzerrte Totengesicht war nicht mehr lockend.
So mußte er also auch sterben, und er wollte sterben, und das war die Strafe dafür, daß er in fremde Gebiete eingebrochen war, die Ge-rechtigkeit verlangte, daß er starb, jetzt, wo die beiden Frauen schon totenstarr waren. Und er war ja auch recht überflüssig auf der Welt (wer war nicht überflüssig auf dieser Welt?), er konnte sich schon davonmachen, was tat's, angenommen selbst, daß er unschuldig war an dem Schicksal der Frauen?
Josef dehnte sich wohlig und ohne Schrecken und starb.
Aber in einem Krankenhaus der Stadt erwachte er wieder, mit vier erfrorenen Fingern an der linken Hand, mit Fingerstümpfen, mit Fin-gern kurz und ohne Nägel, vier Fingerkuppen hatte man ihm weggeschnitten. Der Fuß war verbunden, es war ein leichter Bruch, der rasch heilte. Fünf Tage später schon konnte man Josef entlassen, wenn er auch noch an einem Stock humpeln mußte.
Er saß an seinem Tisch in seinem Zimmer, an seinem weißgedeckten Tisch, und in der Tischschublade lag noch die Orange, ver-schrumpft, an einer Ecke angefault, klebriger Saft saß an der Wunde. Von den beiden Frauen hatte er nichts mehr erfahren, auch nicht sich nach ihnen erkundigt, er hatte nicht den Mut dazu. Vielleicht lebten sie noch! Wahrscheinlich lebten sie noch, denn er lebte ja auch noch und hätte doch sterben müssen, damals in der Winternacht, wenn sie ihm im Tod vorausgegangen wären. Er betrachtete seine verstümmelte linke Hand. Das Gift war zu schwach gewesen, das Wasser nicht tief genug, und darum auch die Kälte nicht eisig und fressend und mörde-risch genug.
Er rollte die Orange hin und her, die gelbrote Tupfen auf dem Tischtuch zurückließ. Auch sie, die Orange, war noch da, mit einem fau-len Fleck allerdings, mit einer Wunde, einer blutenden Wunde, aber sie war noch da. Und sterben mußten sie alle einmal. Anna, die Blon-de, und er. Die Orange mußte gänzlich verfaulen, sie alle mußten vermorschen und vermodern, aber erst später einmal, jetzt noch nicht.

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S.93 DIE BASE AUS BAYERN
E: Das Innere Reich 6, 1939/40, S.868 - 874
Die Urform dieser Erzählung reicht bis in die zwanziger Jahre zurück. Sie wurde wohl öfter gedruckt, vermutlich in Tageszeitungen, es ist aber vor ihrem Erscheinen im Inneren Reich kein weiterer Druck nachweisbar.
Varianten  der Fassung  E zu D3 :
D3: S.93, Z.:18: bei Wein und Karten zugebracht hatte]
E: Wein und nicht mit Rosenkranzbeten, mit des Teufels Gebetbuch vielmehr, den Spielkarten, zugebracht hatte...(Dieser Zusatz fehlt in allen weiteren Drucken).
D3: S.95, Z:16-17: und vielem Reden./ Drei Tage später, als der Oberleutnant heimgekommen sei ]  E:  und  vielen Reden (kein neuer Absatz) -, und erst sehr spät wieder sei der Oberleutnant heimgegangen in sein Zimmer. Und als er dann mit unsicherer Hand die Kerze zum Brennen gebracht hatte, fast habe er sie gleich wieder fallen lassen, als. Ebenso in D1.
D3: S.97, Z.:2: Und der Bruder des Ermordeten hatte nicht gezögert...]
E:  Aber der Bruder des Ermordeten, der versteckt, aber waf-fenlos, Zeuge der Tat gewesen sein mußte, hatte sich ein Gewehr geholt, und Tags drauf, daß die heilige Kette nicht abrisse, die niemals abreißen durfte, den Mörder durchs Fenster erschossen, als der gerade, aus Neugier wohl, im Zimmer des Oberleutnants sich zu schaffen gemacht hatte.
E: wagte ihr kaum die Hand zu küssen. Fehlt in  D1 -D3.
D3: S.104, Z.:1 und einen solchen Versuch duldet, ja wünscht noch das keuscheste Mädchen.  Fehlt in E.
D1: Schneckenweg, S.135.
    S.103, Z.:16f wie in E.
D2: Die Literatur 44, Heft 5, 1942, S.198 - 199,
      u.d.T. Die toten Albaner, (wie in D1).
D3: E III, S.65.
D4: Süddeutsche Zeitung, Nr.36, 11.2.1961,
      u.d.T. Die Nichte des Gutsherrn  (wie in D3).
Dazu Bode (S.84):
Bei der »Base aus Bayern« ist es vor allem die unaufgelöste Wirklichkeit, das harte Rätsel des Erlebnisses, das diese Erzählung von dem Erscheinungsjahr 1941 abrückt. Die beiden toten schwarzen Albaner und der blonde Oberleutnant, dem gleich ihnen eine Kugel in die Stirn bestimmt ist, die fremden Toten im Bett und die "rotlippige Base“ im Bett, dies alles schmilzt zu einer untergründigen Iden-tität der reinen Bilder zusammen, wie es sie nur in den frühen Erzählungen gibt. Aus der absoluten Anschauung trifft da ein Schock, geschieht die magische Berührung. Erzählrahmen und einige Kommentare muten als spätere Einfügung an.