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© Ingeborg Schuldt-Britting

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Ingeborg Schuldt-Britting

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Band 5  Seite 223
Kommentar Seite 402

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«
.. Diese Erzählung liegt, von Britting gesprochen, als CD 1 vor.



Der Geheimrat Zet

Der Leiter eines großen Unternehmens, der Geheimrat Zet, ein behäbiger Sechziger mit großem rundem Gesicht, stattlich und breitschultrig, ein Mann, zu dem der schwarze Schoßrock und der hohe, steife Hut gut paßten, hatte nicht nur zu planen und zu werken hinterm Schreibtisch, ihm oblag auch, wie sich das versteht, die Pflicht, bei feierlichen Anlässen, traurigen und heiteren, Ansprachen zu halten, das Wort zu ergreifen, wie die Zeitungen hernach in ihren Berichten zu schreiben pflegten. Am häufigsten traf es sich, daß er bei Beerdigungen ein paar teilnahmsvolle Sätze zu sprechen, einen großen Kranz mit schwarzen, wehenden Flügelschleifen am Grab niederzulegen hatte.
 Wenn das Wetter gar zu schlecht war, wenn vom Himmel der Regen niederfiel in ein offenes Grab, und um das Grab standen viele schwarze Männer und Frauen und hatten viele schwarze Schirme aufgespannt, auf die der Regen trommelte - so waren sie immerhin vor der schlimmsten Nässe geschützt, nur in das Grab fiel der Regen ungehindert - wenn das Wetter dann also gar zu schlecht war, und er hatte seine kleine Rede gehalten, der Geheimrat Zet, und hatte seinen großen Kranz niedergelegt, und war wieder zurückgetreten in den Kreis der Trauergäste, so verstand er es vortrefflich, jede Gelegenheit wahrzunehmen, sich in die zweite und dritte Reihe der Zuschauer zu schieben, unmerklich, ganz wie zufällig, bis er der hinterste und allerletzte Mann war und nur mehr schwarze Rücken vor sich sah. Dann wandte er sich, dann ging er mit raschen, freien Schritten durch die Gassen der fröstelnd nassen Grabsteine, dahin zwischen weißen Marmorengeln und gelben Säulen, zum Friedhofsausgang, stieg in seinen Wagen, setzte sich in den Polstern zurecht, und fand es doppelt warm und gemütlich mit seinem Dach über sich, wenn er sich erinnerte, daß noch immer viele schwarze, nasse Schirme über einem offenen Grab schwankten.
 Diese Geschicklichkeit, vor Beendigung von Feierlichkeiten sich davon zu schleichen, und das brauchten nicht immer nur Beerdigungen zu sein, und es brauchte auch nicht immer gerade zu regnen, bildete er immer kunstvoller aus, und die am nächsten Beteiligten, die trauernden und die jubelnden, merkten fast nie seine frühe Flucht. Die merkten nur Männer in wichtigen, öffentlichen Stellungen, die, wie er auch, gezwungen waren, viele Freudenfeste und Trauerversammlungen mitzumachen - die merkten es, mit Mißbilligung manche, die neidisch waren auf diese seine füchsische Gabe, andere mit Freude über seine Schlauheit, die sie bewunderten.
 Aber dann kam einmal der Tag, da schwankten wieder viele schwarze Schirme über einem offenen Grab, und im offenen Grab und vernagelten Sarg lag der Geheimrat Zet, weit über die Siebzig nun, und sein Gesicht war noch rund, aber nicht mehr rot wie ehedem, und er lag im Sarg, wie wir alle einmal im Sarg liegen werden. Der Regen fiel, unter den Schuhen der Trauergäste platschte der klebrige Lehm und schrie auf, wenn der Schuh sich hob, schrie boshaft auf, weil er den Schuh loslassen mußte, und Reden wurden gehalten, kurze und lange, gute und schlechte, und Kränze häuften sich über dem Grab, und die Feier nahm kein Ende, und wenn ein Windstoß ging, fand der Regen trotz der Schirme seinen Weg in die Gesichter.
 Einer, der oft den lebenden Geheimrat Zet hatte in solcher Stunde fuchsschlau entwischen sehen, einer, der den großen, schweren Mann gern gehabt hatte, legte die Hand im schwarzen Leder vor den Mund und flüsterte lächelnd und mit einem sonderbaren Zucken um die Augen seinem Nachbarn mit einem Kopfnicken auf das offene Grab hin zu: »Heut muß er aber bis zuletzt da bleiben!«
 Wahrhaftig, heut blieb er bis zuletzt, der Geheimrat Zet, trotz der vielen Reden und des vielen Regens, aber ein guter Sarg ist besser als der beste Schirm, und Regen und Reden gleiten von ihm ab.
 
 



Drucknachweise und Anmerkungen:

S. 220 Der gemalte Sommer
In einer frühen Fassung in Bd. 3/2, S. 420, u.d.T. Der gemalte Blitz.
Der Text wurde in verschiedenen Fassungen in diversen Zeitungen veröffentlicht (siehe dazu auch Bd. 3/2, S. 512).
E: Krakauer Zeitung, Nr. 118, 24.5.1941, u. d. T. Der gemalte Blitz. D: Anfang und Ende, 1967, S. 76.

S. 223 Der Geheimrat Zet
Über diese kleine überaus erfolgreiche Prosa schreibt Britting am 13.11.1950 an Jung:
ja, der alte ›geheimrat zet‹, vor 25 jahren schrieb ich ihn, seitdem ist er wohl an die 8o bis hundertmal gedruckt worden, unter den verschiedensten überschriften, zum erstenmal in der »frankf. ztg.«[die sie im Jahr 1956 wieder druckte] solcher kleiner »schlager« hab ich noch mehr, das ›bosn.mahl‹ [vgl, Bd. 2, S. 386] gehört dazu, die immer wieder an den mann zubringen sind. sie bringen mir jedes jahr ein paar tausend mark ein. sie gehören zur finanziellen grundlage meiner existenz. und haben mir schon mehr geld verschafft, als meine sämtlichen bücher zusammen. ich sagte ihnen schon, daß ich mich bemühe, diese kleinen betrachtungen und anekdoten auf einem niveau zu halten, dessen ich mich nicht zu schämen brauche.
In einer frühen Fassung u. d. T. Der Flüchtling in Bd. 3/2, S. 402. E:Völkischer Beobachter, Nr. 336, 31. 12. 1940.
D1: Krakauer Zeitung, N. 31,10. 2.1941.
D2: Die Deutsche Anekdote, Hg. Karl Lerbs, Berlin: Knaur,1943, S.49I-493.
D3: Badische Zeitung, 16. 11. 1950.
D4: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5./6.11. 1956,
u.d.T. Der schlaue Herr Geheimrat.
D5: Münchner Stadtanzeiger, Nr. 22, 29. 5. 1964.
D6: Anfang und Ende, 1967, S.16.

S. 225 Die Antwort
Für diese Anekdote gilt ähnliches wie für den »Geheimrat Zet«. In einer frühen Fassung u. d. T. Anekdote in Bd. 1, S. 319.
E: Krakauer Zeitung, Nr. 20, 27. s. 1941.
D1: Straßburger Neueste Nachrichten, 22.2. 1941.
D2: Die Deutsche Anekdote, Hg. Karl Lerbs, Berlin: Knaur,1943, S. 489-491.
Druckvorlage: Zeitung von 1941 aus der Nachlaßmappe Brittings.

S. 227 Lob der Stadt Passau
In einer ersten Fassung u. d. T. Passau und der alte und junge Lautensack in Bd. 1, S. 222, siehe hierzu Bd.1, S. 643.
E: Anfang und Ende, 1967, S. 113.

S. 231  Frau Holderlein
E: Münchner Tagebuch, 4, Nr. 9, 4.3.1949, S. 4-5.
D1: Schwäbische Landeszeitung, Nr. 39,1.4- 1949.
D2: Münchner Illustrierte, z. 6. 1951, u. d. T. Kein indisch Weib (gekürzt).
D3: Anfang und Ende, S. 9.
»Frau Holderlein« geht auf eine Patientengeschichte zurück, die der Arztfreund Kiefisaber Britting erzählte. Bei Hohoff (vgl. S.169) heißt Kieshaber Atzinger und kommt etwas schlecht weg. Die Freunde nannten ihn spaßeshalber einen Bauerndoktor, denn seine Praxis lag in München-Giesing, einemVorstadtviertel;unter seinen Patienten gab es noch manche Originale, über die Kiefhaber stets berichtete. Er war ein guter Geschichtenerzähler, kam bei gewissen Themen leicht ins Schwärmen, was die Freunde dann an ihm rügten. Britting gab in der Erzählung »Tausend Rehe« dem Eiergroßhändler Franz einiges von seinen Zügen.
 Von der Erzählung »Frau Holderlein« gab es verschiedene Fassungen. Als der Nachlaßband »Anfang und Ende« erschienen war, stellte es sich heraus, daß Jung noch eine andere Version besaß, die den Herausgebern nicht bekannt gewesen war. Georg Jung schrieb am
10. 4. 1967 an Ingeborg Britting:
 Was für eine Vorlage oder besser Version der »Frau Holderlein« haben Sie und Podszus dem Druck zugrunde gelegt? Ich besitze eine viel längere Fassung der »großartigen Erzählung«, wie Hohoff [vgl. S. 428] sie nennt und zwar in Maschinenabschrift, die Britting mir einmal schickte. Dazu eine Briefstelle, nicht aus dem Begleitbrief, der mir eben nicht zur Hand] ist, vielleicht gibts den gar nicht, viehnehr eine frühere Stelle, vom 21.9.50:
 »die seidene sibylle leg ich bei, sie ist noch nicht fertig, ich möchte sie etwas ausbauen und eine runde geschichte draus machen und hab schon' eine vorstellung davon.«  `
 Aber unten in einer Nachschrift heißt es: »nun kann ich ihnen die sibylle doch nicht senden, ich hab nur mehr einen abdruck, und möchte ihn nicht aus der hand geben.«
Später kam dann die oben erwähnte »ausgebaute« Fassung, neun Schreibmaschinenseiten. Nun würde ich gar zu gern wissen, ob Britting diese später verworfen und radikal gekürzt hat, oder ob Ihnen nur diese vorgelegen hat. Ich gebe nur zwei Beispiele fiür die Erweiterungen: die Schilderung der Silberhochzeit enthält den Zusatz:
»Einmal stahl sich Herr Holderlein von derTafel fort. Er ging in den Stall, atmete tief die Luft ein, und tätschelte den Rotfischs, der ihm entgegen gewiehert hatte, und schüttete ihm ein Schaff Haber vor: er sollte auch was haben vom dem Festtag.«
Es fehlt auch in der Buchfassung der schöne Absatz, in dem geschildert wird, wie Herr Holderlein die Pferderennen besucht, die einen bemerkenswerten Anklang hat an das späte Gedicht vom Pferderennen, die alkäische Ode »Auf der Rennbahn«.