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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung

Band 5  Seite 238
Kommentar Seite 404

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«



Tausend Rehe

Wenn es des Dichters Recht ist und sein Stolz und seine Stärke, im Wort gewaltig auszuschweifen, um, was er fühlte, sah, und was um ihn geschah, im erhöhten Bild anschaulich hervorzutreiben, dann steht das auch dem Manne zu, der am Stammtisch erzählt. Von Jägern ists bekannt, daß der Bock, den sie erlegten, groß und schwer war wie ein Kalb, und halsbrecherisch unzugänglich die Felsschlucht, in der sie ihn vors Gewehr bekamen, und sein Gehörn war schön und weißrötlich zugespitzt wie die Brust der Sulamith: man heißt es Jägerlatein! Armlang, zum mindesten, war der Hecht, den der Fischer aus dem Wasser zog - er schwört es dir bei allen Heiligen! Als er ihn aus der schwarzen Flut hob, aus dem weißen Wasserschwall, den er tobend aufwarf, der Furchtbare, war er armlang - glaubs! und sag: Petri Heil! Wenn die Frau zu Haus ihn mit Kräutern und Zwiebeln dann siedet, und er kommt auf den Tisch, die friedliche grüne Petersilie im scharfzahnigen Räubermaul, da ist er kleiner, viel kleiner auf einmal . . . wie das nur zugeht? Und der Fischer, die Beute vor sich auf der Silberplatte, kennt sie kaum wieder, und spürt sie noch an der Angelschnur reißen mit des Haifisches Kraft.
 Wie der Liebende die Braut sieht, mit Rosenwangen, schwarz glänzend das Haar wie Rabengefieder, und ihr Gang ist wie eines Rehes Gang, und ihre Stimme nachtigallisch: nicht jeder hört und sieht sie so, nur der Verzauberte schwärmt und übertreibt. Dieser hier war ein Händler seines Zeichens, Eiergroßhändler, Franz mit Vornamen was soll sein genauer Name? Ich laß ihn weg. Was wissen wir von Homer? Gerade noch den Namen, und ob er gelebt hat, bleibt strittig. Sein Gesang aber schallt durch die Jahrtausende, in ewiger Jugend, und er übertrieb auch im Wort, unbekümmert und löwenmäßig, der Vater der Dichter. Franz war Eierhändler - welch ein Beruf!  Die weißenglänzenden Dinger, riesigen Perlen gleich, in Kisten und aber Kisten, die zerbrechlichen Früchte der Hühner - ein winterlicher Anblick, Hügel hinter Hügel! Er, Franz, war ein ausnehmender Freund des Weines, und am liebsten trank er den roten, er, der mit Weißem handelte: weiße Eier, roter Wein, das ist, wie Schneewittchens Wangen sind, und zeugt schön für den Mann und sein dichterisch Gemüt! Er war der unermüdliche Rotweintrinker nicht nur, er war der große Erzähler des Stammtisches, und oft hatte er, wenn, der Geist in ihm wehte, die goldene Harfe geschlagen und hatte sein süßmundig Lied uns getönt.
 Der Sonntag heute war heiß gewesen, atlasweiß und seidenblau, und er war mit seinem Freund, den er nun zum Tisch mitgebracht hatte, den lieben, langen Nachmittag im grünen Wald gewesen – voll war er noch von all der Pracht! Der Wald hatte gerauscht wie eine Kirchenorgel,die roten Fliegenpilze hatten gebrannt, wie Zauberlaternen im dunklen Moos aufgestellt, Brombeeren hatten sie gepflückt, groß wie Taubeneier, aber schwarz natürlich, glühend und dampfend und Feuerkugeln werfend war die Sonne hinabgesunken, und als die Dämmerung kam, waren die Rehe scheu und zögernd auf die Wiesen hinausgetreten, zu äsen. Er beschrieb es, und der mitgebrachte Freund nickte zustimmend. Da und dort, und immer wieder, nach jeder Wegbiegung, wenn eine neue Wiesenfläche sich darbot, zeigten sich die Tiere, zierlich, wie aus Glas, und der Wald voll Wipfelrauschen, und es duftete wie aus Salbenbüchsen.
 Ein verspäteter Mann der Runde kam und setzte sich und hörte, wie Franz schwärmend die Harfe schlug, und fragte: »Was erzählst du?« »Ach!« sagte Franz, auf dem Goldmeer der Erinnerung sich treiben lassend, und Glück überglänzte sein Gesicht, »ach«, sagte er, »schön wars heut im grünen Wald! Und tausend Rehe haben wir gesehen!« Nun, die Übertreibung, wir überhörten sie und verziehen sie ihm, wir wußten ja, wie ers meinte, Franz, der Glühende. Aber
der Spätling, eine gewissenhafte Natur, ein guter Rechner, das große und das kleine Einmaleins im Kopf, aber mit sandigem Gemüt, der tadelte: » Franz, hör auf, tausend?« Der Trockenbold las, es ist zu vermuten, auch seinen Homer nicht. Franz, das weiß ich, tat es auch nicht, und war doch, bei allem sternenweiten Abstand, von seiner Artung: ein Vorstadtsänger neben einer gewaltigen Liederkehle, ein schilpender Spatz neben der Goldfäden ziehenden Nachtigall, aber ein Sänger eben doch! Die Rüge des Sandmännchens hatte ihn verdrossen, er war aus allen Himmeln geschleudert, der ertappte Dichter, und wandte sich jetzt, Hilfe und Rechtfertigung suchend, an den Mann, der mit ihm im Wald gewesen, Zorn und gerechte Entrüstung bebte in seiner Stimme, als er sagte: »Aber fünf warens gewiß! Sag selber! «
 Gelächter erhob sich, donnernd, rund um den Tisch, verhallend und dann neu ausbrechend, wie bei einem zurückkehrenden Gewitter, und Franz lachte mit, und auch der Trockenbold lachte. Und das Gespräch ging weiter, gemächlichen Ganges, und hin und her, und vom Hundertsten zum Tausendsten, aber vom Wald und seinen tausend Rehen sprach Franz heute nicht mehr. Die Harfe hatte er weggestellt. Er hatte Perlen vor die Säue geworfen. Welche Übertreibung nun schon wieder: waren wir Säue?