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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung

Band 5  Seite 241
Kommentar Seite 404

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«



Der Grasgarten

Kneiting heißt das Dorf, und im späten Sommer ist es schön dort. Es gibt einen Grasgarten dort, der ist nicht zu vergessen. Langes grünes Gras und krumme Stämme der Zwetschgenbäume, das ist der Garten, und er hat keinen Zaun. Kneiting hat auch eine alte, weißgekalkte Kirche und ein Pfarrhaus und eine Handvoll Bauernhöfe und Wirtshäuser. In die Außenwand der Kirche ist, aus rostrotem Stein, eine Grabplatte eingelassen. Sie stellt, in Lebensgröße, einen vogelnasigen Ritter dar, der voll geharnischt ist, eine Streitaxt in der Rechten. Ich denke immer nur an den Grasgarten, wenn ich an Kneiting denke. Es ist ein kühles, grünumlaubtes Dorf mit alten, ungeheuren Nußbäumen, es ist ein Schattendorf, und weil Kneiting auf einer der Sonne preisgegebenen Anhöhe liegt, ist es kein feuchter, ist es ein wohltuender, kühltrockener Schatten.
 Kurze Zeit einmal, einen kurzen Sommer lang, hauste ein seltener Vogel in Kneiting, Josef, ein Maler. Der war zu seinem Vater gezogen, der Bahnangestellter war, Streckenwärter oder so etwas, oder etwas Höheres, aber nichts Hohes. Kneiting, übrigens, wird von der Bahn nicht berührt, aber der Streckenwärter, oder was er war, wohnte dort, halb bäuerlich, mit einer Kuh im Stall und Huhn und Hahn. Der Maler, sein Sohn, hatte sich in einem alten, baufälligen Stadel am Ortsrand eingenistet, mit Büchern, einem grellbunten, wurmzernagten Bauernschrank, von dem die Farbe blätterte, einem hölzernen Barockengel, mit vergoldeten Flügeln und großen blauen Augen - ganz künstlerisch sah es im Stadel jetzt aus, mit den vielen herumstehenden Bildern, von dem blauäugigen Engel bewacht, und abends spielte er im Wirtshaus Karten mit dem Pfarrer und dem Lehrer.
 Es gab Leute, die ihm, das ist nicht gelogen, hin und wieder einmal ein Bild oder auch nur eine Zeichnung abkauften, um geringes Geld, versteht sich – er war jung und voll von Hoffnungen der Jugend, und es war ein glückliches Leben, nehmt alles nur in allem, und zu einer Pfeife Tabak reichte es auch, und zu malen gab es genug, zu landschaften.
 Kneiting hatte auch, und hat wohl noch, den kropfigen Hans, einen Burschen unbestimmbaren Alters mit tränenden Augen im törichten Gesicht. Er trug am Hals einen überquellend großen, rot glänzenden Kropf, der es ihm verwehrte, je den Hemdkragen zuzuknöpfen, so mächtig war der Kehlsack. Schön war er nicht, Hans, der Kropfige, aber er wußte es nicht, und jedenfalls litt er nicht darunter: selbstbewußt kam er daher, in der Pracht seiner Halszier, mit jedem Truthahn wetteifernd. Er half bei den Bauern aus, zu leichten Arbeiten, schweren ging er aus dem Weg, meist streunte er herum. Zu essen hatte er auch aus der väterlichen Schüssel, darin glich er dem Maler.
 Dorfdepp - das hat man in Bayern, in Schwaben oft, fast jedes Dorf hat einen, er braucht nicht immer einen Kropf zu haben - ein Depp gerade war er nicht, der unschöne Hans, das wäre zuviel gesagt. Er konnte mit schwerer Zunge, kollernd wie ein Truthahn, auch das kam vom Kropf, Erstaunliches von sich geben, Galle und Weisheit mischend, weiß keiner, woher ers hatte, und einen dabei aus tränenden Augen starr anblicken, zum Eingeschüchtertwerden schier oder auch zum Lachen. Den Mädchen aber schauderte es.
 Nun streunte nicht bloß mehr der kropfige Hans umher in Kneiting und tauchte auf, wo man ihn nicht erwartete, auch der Maler. Der kropfige Hans gehörte zum Dorf, er war eingeordnet und von jeher da, ein Hiesiger, Kneiting wäre nicht Kneiting gewesen ohne ihn, schwieriger wars mit dem Maler – was sollte man von ihm halten? Sein Vater hatte eine nützliche und geldeinbringende Beschäftigung, von daher fiel ein günstiges Licht auf den Sohn. Der war, in den Augen des Dorfes, nicht ein Maler, sondern der Sohn des Streckenwärters. Und wer kann für mißratene, aus der Art geschlagene Söhne? Der Vater des Kropfigen konnte ja auch nichts für dessen stets offenen Hemdkragen und die tränenden Augen! Der Maler überdies spielte sogar Tarock mit dem geistlichen Herrn und dem Schullehrer, so maßte es schon aufirgendeine Weise der rechte Gang mit ihm sein, dachte man. Was wissen wir Bauern?
 So nahm man duldsam die beiden Väter hin und die beiden Söhne. Als der Maler das Dorf wieder verließ, im frühen Winter, mit dem Schrank und dem blauäugigen Engel auf dem Karren, den die Kuh des Vaters zur Bahn zog, ward er zum letztenmal und nie wieder gesehen in Kneiting. Den Kropfigen sah man auch forthin täglich. Ihn hätte man vermißt, den Maler vermißte niemand.
 Der junge Maler, als er noch da war; malte ganz merkwürdig, mit so schnellen Tupfen, und recht durcheinander, man konnte nie genau erkennen, was er malte, wenn man ihm zusah, die Heugabel über der Schulter. Die Bauern sagten auch nichts von seinen Bildern. Nichts Gutes und nichts Schlechtes. Nur der kropfige Hans sagte einmal etwas. Er sagte, was die Bauern sich dachten.
 Des Streckenwärters Sohn malte an einem schönen Tag den Grasgarten. Ich sah das Bild später und möchte es gern besitzen: ein Langformat, anderthalb Hände hoch, fünf Hände breit. Ach, der stille Grasgarten von Kneiting ist auf dem Bild, das ganze Schattendorf, die Sonne, die nicht hineinkann, alles. Das malt man so nur, nicht bloß, weil man begabt ist, und in der Gunst einer glücklichen Stunde, da muß noch etwas anderes dazugekommen sein, ein geheimes Einverständnis zwischen dem Maler und dem Grasgarten: ich denke, der Grasgarten wollte gemalt sein, so und nicht anders.
 Das Bild war ungefähr fertig, da stand der kropfige Hans hinter dem Maler und seiner Staffelei. »Grüß dich!« sagte
der Sohn des Streckenwärters, »grüß dich, Vieledler!« und malte emsig weiter, kniff ein Auge zu, trat einen Schritt zurück, um wieder einen Pinselstrich zu setzen, wie die Maler das so machen, und hatte den Kropfigen schon fast vergessen. Lang und lange das Bild betrachtend, stand der, mit gerunzelter Stirn. Und zuckte hochmütig mit der Schulter und sagte mit seiner kollernden Stimme: »Schön heut, hörst?« - denn der Ostwind trug einen Pfiff von der Bahn herüber, und den Pfiff hörte man in Kneiting gerne, weil er gutes Wetter bedeutete. »Josef«, sagte er dann, wie immer noch dem Pfiff lauschend, »Josef, hat dich dein Vater nicht bei der Bahn unterbringen können?« Da pfiff es wieder, und er ging, mit gekrauster Nase, schaukelnd wie ein gereizter Truthahn, ins Dorf hinein und ließ den Maler zurück, der laut lachte und fortfuhr, an dem Bild zu malen. Bis ihn doch eine kleine Traurigkeit überkam und er den Pinsel sinken ließ, weil es ihm nicht möglich gewesen war, das, was er vom Grasgarten herüberfließen fühlte, weiterzugeben, jeden zu erquicken. Dann arbeitete er fort, und die kleine Traurigkeit kam auch zu dem Bild hinzu und machte es gut und fertig.
 Ach, Hans, kropfiger Hans, boshafter Truthahn! Blaurötlich hängen im Herbst die Zwetschgen an den Bäumen des Grasgartens und warten darauf, gepflückt zu werden, und immer noch schwingt der vogelnasige Ritter an der Kirchenwand die Streitaxt. »Der war, ich glaube, ein Schöntuer«, sagte mir später der Maler, »er hat so das Gesicht und tat einer Kneitinger Magd schön zu seiner Zeit. Und seine vornehme Ritternase sitzt nun dem kropfigen Hans im Gesicht. Ist Ihnen das nicht auch aufgefallen? Man muß immer seine Augen offen halten: Nur der Schein trügt nicht.«