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© Georg-Britting-Stiftung


Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung

Band 5   Seite 261  „Das Goldstück
Kommentar Seite 407   „Der Indienfahrer kam nach Hause

 
Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«  |  Grafiken: Die Wirtsstube und Der Galgen


Diese site ist Fritz Jörn gewidmet, damit der Besucher erfährt,
wie aus einem Indienfahrer ein Goldstück wird !
 

Das Goldstück

Den Vierzehnjährigen hatte es nicht länger mehr zu Hause gelitten. Dieses Zuhause war eine Hafenschenke in Marseille, die sein Vater bewirtschaftete. Die Mutter kochte für die Gäste und hielt die drei Schlafkammern im ersten Stock sauber, ohne darin zu übertreiben. Es war nicht gerade das vornehmste Volk, das hier zu nächtigen pflegte, Matrosen und kleine Händler, wohl auch einmal ein augenrollender Neger aus Tunis. Der rote Provencer Wein, den es gab, war gut und stark und billig, und die Fischsuppe, mit Safran und Pfeffer gewaltig gewürzt, schärfte die Lust nach ihm. Messerstechereien, nun die ereigneten sich, es wurde aber nicht viel Aufhebens gemacht davon oder gar die Obrigkeit bemüht, die hielt man sich lieber vom Halse. Die Eltern, die sich nicht mehr und nicht weniger als üblich um ihren Pierre gekümmert hatten, waren nicht untröstlich, als der eines Tages verschwunden war, zur See gegangen, die vor seiner Nase lag und lockte; und die Erzählungen der Matrosen mochten ein übriges getan haben. Auf einem Zettel hatte der Ausreißer einen kurzen Abschiedsgruß hinterlassen, weil er schreiben konnte, und nicht jeder konnte das damals, um das Jahr 176o. »Daß dich . . . « hatte der Vater Renard geflucht, als er den Wisch seiner ungelehrten Frau vorlas - und weg war das Söhnchen!
    Pierre ward Schiffsjunge und Leicht- und Vollmatrose, er ließ sich den Wind um die Ohren blasen und fuhr um die halbe und dreiviertel Welt. Dann blieb er in dem Lande Indien, als Soldat zuerst und später als Handelsangestellter. Er sah Affen und Elefanten, Götzentempel und nackte Heiden und gepanzerte Krokodiltiere in den Flüssen. Nach zwanzig Jahren, es ist leicht nachzurechnen, war er vierunddreißig geworden, ein viel erprobter Mann mit einem schwarzen Knebelbart, und hatte drei Lederbeutel voll von Goldstücken in seiner alten Seemannskiste. Das war sein Erspartes, er war geschickt und beflissen gewesen in den Geschäften, und Glück hatte er auch gehabt, das gehört dazu.
     Und dann, so ist das oft, stieg immer leuchtender das Bild der Heimat vor ihm auf. Er sah, im Schlafen und im Wachen, die Gassen Marseilles vor sich und roch ihren Geruch, der anders ist als jeder andere. Das fremde Essen, Reis und Vogelbrüste und Bambus, wollte ihm nicht mehr schmecken, und seine eingeborene Frau, klein und zwitschernd, von einem Götzenpriester ihm angetraut, mochte er nicht mehr anschauen - kurz, das Heimweh plagte ihn über die Maßen. Er löste die Verbindung mit seinem Handelshause, und dem Weibe schenkte er ein halbes Dutzend von den Goldstücken - damit mochte sie leicht einen neuen Mann gewinnen! Und lockend lag wieder das Meer vor seiner Nase, weiß schimmernd, und Schiffe fuhren darauf, mit geblähten Segeln, und eines fuhr nach Frankreich, fuhr nach Marseille, und er bestieg es, und das viele Gold nahm er mit - es klirrten die Beutel!
     Gleich nach der Ankunft in seiner Vaterstadt ging er, nur mit einem Felleisen in der Hand, zu seinem Taufpaten. Die Seemannskiste hatte er gegen Schein und gehörige Quittung einem Lagerhause zur Verwahrung gegeben. Er ging durch die Straßen und über die Plätze, und alle Leute redeten französisch, das klang ihm wie Nachtigallenschlag. Er traf den Paten auch an, der ein Gewürzkrämer war, und der erkannte ihn nicht wieder, fiel ihm aber um den Hals, als er seinen Namen nannte. Die Eltern lebten noch, Gott sei Dank!, und seien so weit gesund und wohlauf. Als ihm Pierre seinen Plan entwickelte, als ein Fremder und irgend ein Gast zu ihnen zu gehen, wie er sich das oft ausgemalt habe in schlaflosen Nächten, verwunderte sich der Pate. Warum denn die Heimlichtuerei? fragte er. Doch, beharrte der Heimkehrer, und es werde eine ungemeine Lust für ihn sein, still die unwissenden Eltern anzuschauen und eine schöne, friedsame Nacht im Vaterhause zu verbringen, in einer der Schlafkammern, und erst am Morgen darauf zu ihnen zu sagen: Seht euer Kind! Und er faßte sich an den Knebelbart und lachte sich eins in der Vorfreude.
     Es seien schlechte Zeiten jetzt, meinte der Pate, und Pierre werde es merken müssen, daß es auch mit der väterlichen Schenke bergab gegangen sei und die Eltern Sorgen hätten und Schulden; so daß sie oft nicht wüßten, wo ihnen der Kopf stehe. Aber da rüttelte Pierre an seinem Felleisen und gab zu verstehen, daß er da vielleicht ein wenig helfen könne, und auch dem Paten habe er etwas zugedacht, aber das später! - und liebevoll packten sie einander bei der Schulter.
     Eine Moritat - weiß man heute noch, was das ist? Auf den Jahrmärkten staunte das Volk sie an und gruselte sich: die aufgerollte Leinwand, auf der in heftig bunten Farben, Bild neben Bild, der Ablauf gräßlicher Untat dargestellt war und das Schlußbild gewöhnlich Galgen und Rad zeigte, daran der Bösewicht, von schwarzen Rabenvögeln umflattert, jämmerlich enden gemußt: denn es gibt eine Gerechtigkeit! Ein Ausrufer und Bänkelsänger, mit einem langen Zeigestab in der Hand, sprach deutend die Erläuterungen dazu, in schön gereimten Versen, singend mehr als sprechend, und eine Drehorgel machte die Musik. Erschüttert und recht zum Guten entschlossen, wandten sich die Zuhörer zur nächsten Bude, wo auf glühendem Eisenrost die Bratwürste zischten und knallten, und wie schmeckten die jetzt! Aber gehört das hierher und zur Geschichte des Indienfahrers? Es wird sich erweisen! - Der Indienfahrer also saß in der Wirtsstube des Hauses, in dem er geboren und aufgewachsen, und kannte jeden Tisch und jegliches Gestühl wieder, saß bei rotem Provencer Wein und scharf gewürzter Fischsuppe, auch Krebse und Muscheln waren darin, und betrachtete verstohlen die Eltern. Die Mutter war grausträhnig geworden, mit vielen Runzeln im Gesicht und gebückter, als ihren Jahren zustand; aber der Vater hatte sich wenig verändert und hatte noch den stechenden Blick, vor dem Pierre als Kind oft gezittert: ein Mann war er jetzt und zitterte nicht! Und keine heimlich raunende Stimme flüsterte dem Wirt zu, wer der fremde Gast sei, und auch das Mutterauge erkannte ihn nicht, den Knebelbärtigen, und es war ihnen nicht zu verdenken, bartlos war er und knabenhaft, wenn sie, selten genug, seiner sich erinnerten. Er hatte schon die Kammer besichtigt, in der er nächtigen würde, und trank jetzt seinen Wein, und nicht wenig, darob ihm sehr wohl wurde und warm ums Herz. Es waren nicht viele Gäste in der Wirtsstube, abgerissene Gesellen. Aber es waren seine Landsleute, und so gefielen sie ihm, sogar der Mann am Nebentisch mit der abgeschnittenen Nase, das sah abscheulich aus! Pierre trank ihm zu, und der tat ihm gemessen Bescheid, in königlicher Haltung.
     Als der Knebelbart dann seine Zeche bezahlte, mit einem Goldstück und sich nicht herausgeben ließ, mit einer großartigen Handbewegung abwehrend, wurde das Gesicht des Wirtes weiß. Und der Wirt, der sein Vater war, leuchtete ihm mit einer Kerze zur Kammer hinauf, stellte ihm die Kerze hin und noch einen Schlaftrunk dazu, wie das die Sitte verlangte, wünschte ihm eine geruhsame Nacht und ging. Pierre hörte, wie er zwei Stufen auf einmal nahm, beim Hinabsteigen, so eilig hatte ers.
     Die erste Nacht im Vaterhaus! dachte der Heimkehrer, tief und glücklich atmend, und dehnte die Brust. Das Felleisen steckte er unters Kopfkissen. In einem Zuge trank er den Schlaftrunk aus und streckte sich auf dem Bett aus und spürte nicht, wie hart es war. Er blies die Kerze aus, und im Dunkeln sah er wieder den Vater vor sich, wie sein Gesicht weiß geworden war beim Anblick des Goldstükkes, und im Einschlafen noch dachte er mitleidig: Ihm kann geholfen werden!
    Der half sich selber. Auf der Folter später gestand er die Tat, und daß er dem Schlaftrunk einen Saft beigemischt habe, auf daß der reiche Mann aus Indienland desto tiefer in den Schlummer sinke. Und so hörte der es nicht, als die Tür mit einem Nachschlüssel geöffnet wurde, und jemand leise an sein Bett trat. Und es war nicht der Mann mit der abgeschnittenen Nase, dem man es vielleicht hätte zutrauen mögen: es war der schlimme Wirt, mit einer Blendlaterne in der linken Hand. Pierre, vom Lichtschein getroffen, drehte sich träumend auf den Rücken, mohnbetäubt, dem Vater die Brust bietend für einen Stich ins Herz, und mit einem Seufzer verschied er. Daß es sein eigen Fleisch und Blut war, das er vom Leben zum Tode brachte - in den frühen und unwissenden Zeiten wäre das dem Unhold als straferschwerend angerechnet worden. Damals, in der Hafenstadt Marseille, die Aufklärung warf ihr Licht voraus, war man schon gerechter. Denn wäre er des Zusammenhangs inne gewesen, sagte sich das Gericht, hätte der Wirt Renard (das heißt Fuchs, aber hier erwies er sich als ein rechter Wolf) nicht zugebissen mit dem Messer. Die Gerichtsherren, alle Umstände bedenkend, nahmen es als einen gewöhnlichen und alltäglichen Mord, und dafür schien ihnen der Galgen die genügende Sühne. Den Täter aufs Rad zu flechten oder gar vierteilen zu lassen, davon nahmen sie Abstand. Die Mutter kam mit zehn Jahren schweren Kerkers davon, mit einem Hungertag einmal in der Woche.
     Nur die Moritat, die dann vorgeführt wurde auf den Jahrmärkten in Arles und Narbonne und vielen Zulauf hatte, war noch ganz in den alten Vorstellungen befangen und strich es recht und schaurig heraus, daß der Sohn unter des Vaters Messer hatte verbluten müssen, und den Leuten einfältigen Gemütes lief es eiskalt über den Rücken bei des Bänkelsängers Lied. Der sang und vergaß zu singen von dem viel vermögenden Golde, aus dem man des Kaisers Krone macht und die Zepter der Könige und sang nicht von den dicken, gelben Goldmünzen und ihrer verführenden Gewalt, für die alles käuflich ist auf dieser Erde oder das meiste!
     Der Wirt Renard denn also, den Bericht zu endigen, der Mann mit dem stechenden Blick, der auch mit dem Messer zu stechen verstand, und gut, sehr gut sogar, hatte seine schlafende Frau geweckt, daß sie ihm helfe, den Toten im Keller einstweilen zu verstecken, zwischen den Rotweinfässern, und ihn bei guter Gelegenheit nächstens und nächtens ins Meer zu werfen. Die entsetzte sich zuerst nicht wenig und schlug jammernd das Kreuz, und ein Grauen kam ihr an vor ihrem Eheherrn und Bettgenossen, der solches vermocht hatte; nie hätte sie es ihm zugetraut: einen Diebstahl schon oder schiefen Handel, aber dies! Sie schleppten den Sohn in den Weinkeller, zu dem nur der Wirt den Schlüssel hatte, und dann saßen sie zusammen und zählten die Goldstücke, und ihre Schuldenlast drückte sie nicht mehr, sie konnten sich wieder rühren und waren der Zuversicht, daß sich niemand um das Verschwinden eines knebelbärtigen Mannes kümmern werde, der schnurstracks aus Indien gekommen war - er hatte es sorglosverwegen selbst erzählt. Und wer weiß, wie er das viele Geld erworben hatte, mit Sklavenhandel vielleicht oder sonst dunklem Tun, so sagten sie einander, leise sich tröstend.
     Aber da war der Pate, der am Morgen kam und fragte. Zu spät dämmerte es und fürchterlich dem wölfischen Paar. Und die Wölfin heulte wild und unmenschlich, als die Büttel sie beide holten. Nie vorher, und Daumenschrauben und Streckeisen hätten es ihnen peinlich abgenötigt, hatten sie einer Bluttat sich schuldig gemacht. Das Goldstück war es gewesen!
     Galgen und Kerker taten gleichgültig das Ihre. Lieblich riechen die Gassen Marseilles für den, der es von Kind auf gewohnt ist. Und ein indisches Weib, bananenfarbig und zwitschernd, gebar ihrem zweiten Manne, einem Händler mit Töpferwaren und von niederer Kaste, einen Sohn - der erste, der weißhäutige, hatte ihr nicht dazu verhelfen können.



 
 

Kommentar

S.261 DAS GOLDSTÜCK
E:    Die Neue Zeitung, Nr. 17, 20.Januar 1951,
        u.d.T. Der Indienfahrer kam nach Hause.
Am 31.1.1951 antwortet Britting auf eine Anfrage von Jung, der die Veröffentlichung in der Neuen Zeitung gelesen hatte:
meine moritat heißt 'das goldstück', die redaktion änderte natürlich den titel. in dem brief in dem die 'neue zeitung' die arbeit annahm, schrieb sie schon: "es wird sie vielleicht interessieren, daß ein ähnlicher fall neulich durch die presse lief. da ist ein rußlandheimkehrer von seinen bäuerlichen eltern, ahnungslos, daß es der sohn sei, erschlagen worden". nun schreiben sie, axel lübbe, ein gar nicht schlechter mann, heut völlig verschollen, habe den stoff auch benutzt. und ein drama, schreiben sie, gibt es darüber auch – und ein pensionierter major aus dem badischen schrieb mir, der '24.februar' von zacharias werner, dem schicksalsdramatiger, die gleiche fabel, im gebirge spielend, in einer almhütte, und der major winkte von fern mit dem wort: plagiat! woher ich den stoff habe?
wetzlar aus London schickte mir vier [sic!] bände, im alten langen verlag erschienen, das "neue von gestern" oder so ähnlich.[ ... ] da stand von dem korrespondenten der vossischen zeitung, 1760 etwa, die Geschichte, mit namen und details, als eine meldung aus marseille, nicht als novelle, als 'vermischte nachricht'. so wandern die stoffe.
Bei der von Britting genannten fünfbändigen Sammlung handelt es sich um :»Das Neueste von gestern«.  Kulturgeschichtlich interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen.
Hg.  Eberhard Buchner, München: Albert Langen, 1911.
D1: Süddeutsche Zeitung, Nr. 125, 26.5.1957,
      u.d.T. Das holländische Goldstück.
D2:Die Zeit. 21.9.1962, mit Zeichnungen von Wilhelm M.Busch.
D3:Anfang und Ende, S.41.
Britting hat diese Erzählung mehrfach verändert.  Seine Bemühungen um stilistische Verbesserungen nachzuvollziehen, gelingt am ehesten durch einen Vergleich des Erstdrucks mit der autorisierten Fassung.  Um dies zu ermöglichen, wird anschließend an die Quelle bei 'Buchner' die Erstfassung von 1951 abgedruckt.

Aus Buchner:
Vossische Zeitung.  Berlin 1727.  Nr.86.

Paris, den 7.Juli

Ein gewisser Mensch, so von Corbeil gebürtig und 18 Jahre in Indien gewesen, ohne jemals an seine Eltern geschrieben zu haben, kam die verwichene Woche unverhofft nach Corbeil zurück, und begab sich zu einem von seinen Paten, welchem er sich zu erkennen gab und dabey sagte, daß er unbekannter Weise bey seinen Eltern, so Wirtschafft trieben, logiren, und folgenden Tages erst sich zu erkennen geben wollte.  Solches geschahe auch, weil aber die Eltern dieses Menschen vermercketen, daß er viel Geld bey sich hatte, so schlugen sie ihn des Nachts im Schlaffe todt und begruben ihn auf den Hof Der Pate kam den andern Morgen in die Herberge und als er den Sohn vom Hause nicht fand. auch bey den Eltern eine grosse Alteration verspührete, so argwohnete er gleich was Böses, gab solches bey der Obrigkeit an, welche denn sogleich dazu kam und beym Haußsuchen den todten Cörper fand, worauf die Eltern, nebst einer Tochter, beim Kopff genommen, und wol verwahret allhier eingebracht worden.



 


DER INDIENFAHRER KAM NACH HAUSE

Den Vierzehnjährigen hatte es nicht mehr länger zu Hause gelitten. Dieses Zuhause war eine Hafenschenke in Marseille, die seinem Vater gehörte und seine Mutter kochte den Gästen auf und hielt die drei Schlafkammern im ersten Stock sauber, ohne darin zu übertreiben – sie wurden an Durchreisende billig vermietet. Es waren nicht gerade vornehme Leute, die hier nächtigten, Matrosen oder Miesmuschelnhändler. Der rote Provencer Wein, den es gab, war gut und stark und die Fischsuppe, mit Safran und Pfeffer höllisch gewürzt, schärfte die Lust nach ihm. Messerstechereien, nun, die ereigneten sich, es wurde nicht viel Aufhebens gemacht davon oder gar die Obrigkeit bemüht – die hielt man sich lieber vom Hals. Die Eltern, die sich nicht mehr und weniger als üblich um ihren Pierre gekümmert hatten, waren keineswegs untröstlich, als der eines Tages verschwunden war, zur See gegangen, die vor seiner Nase lag und lockte, und die Erzählungen der Matrosen hatten ein übriges getan. Auf einem Zettel hatte er einen Gruß hinterlassen, denn er konnte schreiben, und nicht jeder konnte das, damals, 1760. "Daß dich!" hatte der Vater Renard geflucht, als er den Wisch seiner Frau vorlas – und fort war das Söhnchen!
   Und das Söhnchen ward Schiffsjunge, und Leicht-und Vollmatrose, und fuhr um die halbe und dreiviertel Welt, und blieb dann in Indien, als ein Kriegsmann zuerst, und später als ein Handelsangestellter. Er sah Affen und Elefanten und Götzentempel, und nackte Heiden, und war nach zwanzig Jahren, es ist leicht nachzurechnen, vierunddreißig geworden, trug einen schwarzer Knebelbart, und hatte drei Lederbeutel voll von Goldstücken in seiner Seemannskiste. Das war sein Erspartes, er war beflissen gewesen in den Geschäften, und Glück hatte er auch gehabt.
   Und dann, so ist das oft, stieg immer leuchtender das Bild der Heimat vor ihm auf. Er sah, im Schlafen und im Wachen, die Gassen Marseilles vor sich und roch ihren Geruch, der anders ist als jeder andere. Das indische Essen schmeckte ihm nicht mehr, und seine mandeläugige Frau, von einem Götzenpriester ihm angetraut, mochte er nicht mehr anschauen - kurz, das Heimweh plagte ihn über die Maßen! Er löste seine Verbindung mit dem Handelshaus, und dem Weib schenkte er ein halbes Dutzend von den Goldstücken – dafür konnte es sich leicht einen neuen Mann erwerben. Und lockend lag wieder das Meer vor seiner Nase, weiß schimmernd, und Schiffe fuhren darauf mit geblähten Segeln, und eins fuhr nach Marseille, und er bestieg es, und das viele Gold nahm er mit – es klirrten die Beutel!
   Gleich nach der Ankunft ging er, nur mit einem Felleisen in der Hand, zu seinem Paten. Er ging durch die Straßen und über die Plätze, und alle Leute redeten französisch, das klang ihm wie Nachtigallenschlag. Er traf den Paten auch an, der ein Gewürzkrämer war. Der erkannte ihn nicht wieder, fiel ihm aber um den Hals, als er seinen Namen nannte, der gutherzige Mann. Die Eltern lebten noch, sagte er, und seien gesund. Als ihm aber Pierre seinen Plan entwickelte, als ein Fremder und irgendein Gast zu ihnen zu gehen, gefiel ihm das wenig, und warum denn das –  fragte er. Doch! beharrte der Heimkehrer, und es werde eine große Lust für ihn sein, still die unwissenden Eltern anzuschauen, und eine schöne, gute Nacht im Vaterhaus zu verbringen, in einer der Kammern, um erst am Morgen drauf zu ihnen zu sagen: Seht euer Kind! Und er faßte sich an den Knebelbart, und lachte sich eins, in der Vorfreude.
   Es seien keine guten Zeiten jetzt, meinte der Pate, und das Patenkind werde merken müssen, daß es auch mit der väterlichen Schenke übel stehe, und die Eltern Sorge hätten und Schulden, und überhaupt, die Heimlichtuerei sei nicht nach seinem Geschmack. Aber da rüttelte der Pierre an seinem Felleisen und gab zu verstehen, daß er da vielleicht ein wenig helfen könne, und auch dem Paten habe er etwas zugedacht – aber das später!
   Eine Moritat, weiß man noch was das ist? Auf dem Jahrmarkt staunte das Volk sie an und gruselte sich: die Leinwand, auf der in bunten Farben, Bild neben Bild, die Stationen einer greulichen Untat sich folgten, und das Schlußbild gewöhnlich zeigte Galgen und Rad, daran der Verbrecher enden gemußt: denn es gibt eine Gerechtigkeit! Ein Ausrufer, mit einem Stock in der Hand, sprach die Erläuterungen in schön gereimten Versen, und eine Drehorgel machte die Musik. Erschüttert und recht zum Guten entschlossen wandten die Zuschauer sich dann zur nächsten Bude, wo auf glühendem Eisenrost die Bratwürste zischten und knallten. Gehört das zur Geschichte des Indienfahrers? Man wird es sehen!
   Der Indienfahrer also saß in dem Haus, in dem er geboren worden, bei Provencer Wein und Fischsuppe, und betrachtete verstohlen die Eltern. Die Mutter war grausträhnig geworden, mit viel Runzeln im Gesicht, aber der Vater hatte sich wenig verändert, und hatte noch den scharfen Blick vor dem er als Kind oft gezittert. Ein Mann war er jetzt und zitterte nicht! Er hatte schon die Kammer besichtigt, in der er nächtigen würde, und trank sein gehörig Teil, darob es ihm so wohl wurde, daß ihm die wenigen Gäste gefielen, und sogar der. Mann am Nebentisch mit der abgeschnittenen Nase. Er trank ihm zu, und der tat ihm Bescheid.
   Als er dann seine Zeche bezahlt hatte, mit einem Goldstück, und sich nicht herausgeben ließ, mit einer großartigen Handbewegung abwehrend, wurde das Gesicht des Wirtes weiß. Und der Wirt leuchtete ihm zur Kammer hinauf, und stellte ihm noch einen Schlaftrunk hin¸ und wünschte eine gute Nacht, und ging. Pierre hörte wie er zwei Stufen auf einmal nahm¸ so eilig hatte ers.
   Die erste Nacht im Vaterhaus¸ dachte der Heimkehrer und dehnte die Brust. Er steckte das Felleisen unters Kopfkissen und nahm den Schlaftrunk und streckte sich auf dem Bett lang aus und spürte nicht, wie hart es war. Er sah den Vater wieder vor sich¸ und wie sein Gesicht weiß geworden war beim Anblick des Goldstücks¸ und im Einschlafen noch dachte er: ihm kann geholfen werden!
   Der half sich selber. Auf der Folter dann gestand er die Tat, und daß er dem Schlaftrunk einen Saft beigemischt, daß der reiche Mann aus Indienland desto tiefer in den Schlummer sinke. Und so hörte der es nicht, als die Tür mit einem Nachschlüssel geöffnet wurde¸ und drehte sich nur auf den Rücken¸ mohnbetäubt, dem Vater die Brust bietend für den Stich ins Herz, und mit einem friedlichen Seufzer verschied er.
   Daß es sein eigen Fleisch und Blut war¸ das er vom Leben zum Tode brachte¸ in den frühen unwissenden Zeiten wär das dem Unhold als straferschwerend angerechnet worden. Damals war man schon klüger. Denn wär er des Zusammenhangs inne gewesenen¸ sagte sich das Gericht¸ hätte der Vater Renard (das heißt Fuchs¸ aber hier erwies er sich als ein richtiger Wolf) nicht zugebissen mit dem Fischmesser. Die Gerichtsherren nahmen es als einen gewöhnlichen und alltäglichen Mord¸ und dafür schien ihnen der Galgen die angemessene Sühne. Die Täter rädern oder vierteilen zu lassen¸ davon nahmen sie Abstand. Die Mutter kam mit zehn Jahren schweren Kerkers davon. Nur die Moritat, die vorgeführt wurde in Arles und Narbonne¸ war in den alten Vorstellungen befangen und strich es recht heraus¸ daß es der Sohn war¸ der unter des Vaters Messer verbluten mußte.
   Der scharfblickende Renard denn also¸ den Bericht zu endigen¸ hatte die Frau geholt ihm zu helfen¸ den Toten im Hof zu verscharren. Dann saßen sie und zählten die Goldstücke¸ und fürchteten ihre Schulden nicht mehr¸ und waren der berechtigten Hoffnung¸ daß niemand sich um das Verschwinden eines Mannes kümmern würde¸ der geradewegs aus Indien gekommen war mit seinem Gelde ? und wer wei߸ wie er es erworben hatte¸ mit Sklavenhandel vielleicht!
   Aber da war der Pate¸ der am Morgen kam und fragte. Zu spät dämmerte es und fürchterlich dem wölfischen Paar. Und die Wölfin weinte noch¸ als die Büttel sie beide holten. Nie vorher¸ und die Folter war scharf, hatten sie einer Bluttat sich schuldig gemacht. Das Goldstück war es gewesen!
Galgen und Kerker taten das Ihre. Lieblich riechen die Gassen Marseilles für den¸ der es von Kind auf gewohnt. Und eine indische Wittib gebar ihrem zweiten Mann einen Sohn - der erste hatte ihr nicht dazu verhelfen können.





Ende





Fritz Jörns Beitäge in der FAZ – Technik und Motor – sind mit fj. gezeichnet.
Am 7.November 2000 erschien sein Beitrag „Zeitloses Internet“, in welchem geschildert wird,
wie es zu unserer Bekanntschaft kam, die mit einem „Brudermord“ begann!.
Wer nun neugierig geworden ist, der besuche  www.Joern.de/britting.htm ,dort erfahren Sie mehr!
Inzwischen ist aus der Bekanntschaft eine Freundschaft geworden. Ohne Fritz Jörn
könnten wir die www.Britting.com nicht so präsentieren, wie es jetzt, dank seiner unermüdlichen Hilfe, möglich ist.
Und weil er gerade nach Indien "gefahren" ist und er diese Seite erst lesen kann, wenn der Titel (und nur dieser!) von Brittings „Der Indienfahrer kam nach Hause“ auch für ihn zutrifft, wollen wir ihm mit dieser Moritat danken, für alles was er bisher für uns, und für Britting, getan hat und zeigen, wie aus einem „Indienfahrer“,nicht nur bei Britting, ein „Goldstück“ wurde!
Das Ende der Moritat freilich steht in keinerlei Beziehung zum „Brudermord“, denn einen besseren hätte es nicht geben können und wird es auch nie mehr geben!

   Georg-Britting-Stiftung und Hans-Joachim Schuldt

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

einfügen (Galgen)
 

Zeichnung von Henry Müller-Brockmann