Zu den Gedichten
Zu "Raabe, Roß und Hahn"
Anhang
Bd.2 S.309 – 317

DER IRDISCHE TAG

Entstanden »sind die Irdischen-Tag-Gedichte«, wie B. gelegentlich Fritz Knöller (13. 10. 1939) mitteilte, »von 1923-1935«. Verdrängt wird mit dieser Angabe die ›expressionistische‹ Schaffensphase B. s, ein Prozeß, der sich in den detaillierteren Auskünften B.s an Dietrich Bode während der Vorbereitung von dessen Werkmonographie fortsetzt. Dennoch werden in den Einzelanmerkungen jeweils diese Datierungen aus der Erinnerung B.s aufgeführt, da sich in ihnen doch zumindest die für B. gültige Zeitschichtung seines Werkes abzeichnet; gelegentlich können die Drucknachweise seine Angaben präzisieren. Handschriften sind nur wenige überliefert (vgl. oben S. 235).
    Nicht anderweitig zu überprüfen ist, ob B. mit der folgenden Mitteilung, die in Eugen Roths unveröffentlichten Tagebüchern überliefert ist, den Freund nur mit einer Reminiszenz an berühmte Vorbilder - etwa Goethes Zusammenarbeit mit Marianne von Willemer am Westöstlichen Diwan - mystifizieren wollte:

G.B. ist, was Frauen anlangt, weitaus glücklicher als ich. So hat er mir in einer milden Oktobernacht '37 an unserem alten Standplatz am Friedensengel erzählt, daß in seinem Buch Der irdische Tag ein ganzes Gedicht nicht von ihm, sondern von einer Frau ist. [...] Wenn ich dagegen bedenke, daß meine Sachen oft noch kein Mensch überhaupt gelesen hat und daß, ausgenommen Else R., niemand war, der mir einen Rat oder eine Hilfe geboten hätte. [...] Und Br. führt als Beispiel Goethe an, dem ja auch die Frauen viel geholfen haben.
Im Jahr 1934 hatten die meisten Gedichte ihre Gestalt für diese erste umfassende Sammlung gefunden. Am 2. 1. 1935 übersandte B. eine Anzahl für den neuen Band bestimmter Gedichte zur Durchsicht an Fritz Knöller: »Die Jess-Gedichte und aus der ›Kleinen Welt‹ müssen, zum größeren Teil auch in den Band«; sie wurden sämtlich übernommen (vgl. oben S. 248, sowie die Hinweise zu beiden vorangehenden Bändchen in Bd 1, S. 566 u. Bd. III, 1 S. 437f.).
    Knöller beriet B. bei der »Einteilung des geplanten Bandes« (an dens., 15. 1. 1935) der sich als ein - wenn auch nicht streng durchkomponierter - Zyklus präsentiert. »Vorherrschend ist das Naturgedicht mit einer Spannweite vom pflanzlichen Bereich bis zur Großlandschaft«, etwa dem Kreislauf des Jahres folgend, mit zwei herausgehobenen Gruppen, den »Regenliedern« und den »Gedichten vom Strom«. »Daneben steht die« - jahreszeitlich passend eingeordnete - »nur kleine, motivisch zusammengeschlossene Gruppe von Legendengedichten«, ergänzt um einige mythisierte Historiengedichte (Bode, S. 44). Über die religiös getönten Gedichte schrieb der keineswegs kirchlich gesinnte B. (vgl. Bd. I, S. 585) gelegentlich an Georg jung (vgl. Anm. zu Es spricht der Hirt, Bd. IV):
Mit meinen Weihnachtsgedichten, die Sie, was mich freut, schätzen, geht es mir wie Rilke, der vom Stundenbuch sagte: In der Weise hätte ich noch lange fortdichten können! Vielleicht, weil sie mir so leicht von der Hand gingen, habe ich Neigung, gegen sie mißtrauisch zu sein.
In der ersten Jahreshälfte 1935 wurde die sichtende und gliedernde Arbeit an der geplanten Gedichtsammlung jedenfalls abgeschlossen. Am 21. 6. 1935 teilte B. dem Helfer Knöller mit: »Heut' früh, wichtiger Tag, rief aus freien Stücken, von Alverdes sanft massiert, der Langen-Müller-Verlag bei mir an, er wolle einen Gedichtband von mir, für Herbst evtl. schon. Kann er haben.«
    Anfang Juli war dann der Titel gefunden und das Einleitungsgedicht geschrieben: »Die Gedichte liegen schon beim Verlag«, meldete B. an Knöller. Dieser begrüßte noch - am B. 7. - ausdrücklich die Titelformel: »besser noch als  ›Schöner Erdentag‹ «.
    Der Band erschien gegen Ende 1935 in einer Auflage von 2000 Stück. Zu einer veränderten Einzelausgabe kam es nicht. Zwar hatte der LangenMüller Verlag offenbar Anfang der vierziger Jahre eine Neuausgabe geplant. Am 25. November 1941 schrieb B. an Korfiz Holm: »Es freut mich ja, daß vom ›Irdischen Tag‹ das 3.-5. Tausend schon ausgedruckt ist, aber noch mehr hätt's mich gefreut, wenn ich darin schon meine Änderungen hätte anbringen können. Für die nächste Auflage lege ich Ihnen nun also ein korrigiertes Exemplar bei. Ich habe dreizehn Gedichte gestrichen. « Als aber dann in der Nachkriegszeit 1948 eine Neuausgabe in B.s neuem Verlag, der Nymphenburger Verlagsbuchhandlung, erscheinen konnte, war der Text unverändert. Erst für den 1957 in der Gesamtausgabe vorgelegten Band G 1 verzichtete B. auf einige Gedichte und fügte andere hinzu.
     Der irdische Tag wurde in der literarischen Öffentlichkeit freundlich aufgenommen. Der Verlag hatte in seinem Prospekt der Neuerscheinungen dem Band einen Werbetext beigegeben, der wohl nicht ohne Zustimmung B.s gedruckt wurde:
Diese Sammlung seiner Gedichte offenbart die ganz ursprüngliche Kraft Georg Brittings, seine Sonderart, die sich in der Schärfe der Beobachtung nicht minder äußert als in seinem breiten Humor. Das ganze Buch besingt den »irdischen Tag« - den Jahreslauf und den Auf- und Untergang des Tages, die Blumen und die Tiere, die ziehen den Wolken und die Gluthitze des Mittags, den Bauerngarten, den bayerischen Sonntag, die kleine Welt am Strom, Hügel, Felder, Sümpfe und Altwässer – all das, was unsere Welt hier auf dieser Erde ausmacht, – und immer wieder blitzt aus dem Diesseitigen das Unirdische, Unheimliche auf, was wir nie gesehen und gehört, manchmal vielleicht nur von plötzlichem Schauer angerührt geahnt haben: die Untergründigkeit und Dämonie der Dinge. Wie bezaubert lauschen wir den betörenden Worten und ahnen dabei, daß hinter und über dem irdischen Tag noch ein anderer sei. Das Buch ist das form- und erlebnisträchtige Werk eines Mannes, der feiertäglich und erhaben, mitreißend und beglückend singt wie kaum einer in der gegenwärtigen deutschen Lyrik.
Die Zeitschrift Die Dame (vgl. oben S. 260f) empfahl dann in einem Artikel Neue Quellen deutscher Lyrik (63, 1936, S. 40) »dieses großartige Buch einer männlich starken Naturbeschwörung«; Heinz Diewerge zeigte den Band zustimmend in den Baltischen Monatsheften (1936, S. 687f) an; neben Fritz Knöllers Lob im Völkischen Beobachter (vgl. unten) konnte der Langen-Müller Verlag in seinem Sonderprospekt zur Verleihung des Münchner Literaturpreises (vgl. oben S. 262) noch lobende Passagen aus Besprechungen im Dresdner Anzeiger und in den Danziger Neuesten Nachrichten mitteilen, in einem weiteren Prospekt aus diesem Jahr zudem noch aus den Münchner Neuesten Nachrichten, die am 27. 10. 193 5 zur »Woche des Buches« einen Hinweis gebracht hatten; die Werbung verkürzt sich in diesem Prospekt auf das Versprechen: »Festlich und froh, zugleich voll dunklen, unheimlichen Zaubers, klingt aus diesen Gedichten die Freude an der Urkraft der irdischen Welt.« Helmut Langenbuchers Volkhafte Dichtung der Zeit (3. Aufl., Berlin: Junker u. Dünnhaupt 1937, S. 218f) sieht hier »die wesentlichen Stücke des bisherigen lyrischen Schaffens Brittings« versammelt; Franz Lennartz erhebt die Sammlung in seinem zeitgenössischen Lexikon (S. 64) bereits zum ›lyrischen Hauptwerk‹ B.s:
    Schon die 21 frühen Gedichte [...] zeigen in der Eigenwilligkeit derSprache, die überkommene Reimbindungen sprengt, und auch mit ihrer Kraft, aus Wirklichkeitsnähe in das Geheimnis der Dinge zu dringen, die Reife des lyrischen Hauptwerkes Der irdische Tag [...],dessen Gedichte aus der Schau des großen und kleinen Geschehens in der Natur deren inneres Sein erhellen.
Auffällig wird jede historisch bewußte Lesart dieser das >Sein der Natur( bannenden Gedichte ausgespart, obschon in B.s poetischem Vokabular dieser Jahre die Vorbilder der ›Moderne‹ fortwirken; wie »den Faun hat Britting auch die überdauernden Motive der Mägde und vor allem der Raben bei Rimbaud und den Deutschen [Expressionisten wie Heym und Trakl] zugleich vorgezeichnet gefunden« (Bode, S. 51); an Trakls Gedichtreihen »Im Dorf« und »Die Bauern« ist etwa zu erinnern (vgl. ebd. S. 52), aber auch Anregungen Gottfried Kölwels sind zu verzeichnen (vgl. Anm. zu S. 26). Doch selbst Hohoff (Die Lyrik Georg Brittings [Zeitungsausschnitt im Nachlaß B.s, BStb]), der sich sonst um B.s Zuordnung zur ›klassischen Moderne‹ bemüht zeigt (vgl. oben S. 270), geht auf deren Tradition nicht ein; er besteht auf einem unvermittelt schöpferischen Dichtertum: »Wo ist noch ein Dichter, dem sich so alles in Wort, Bild und Metapher ergibt, daß nichts Prosa bleibt? « Seine Rezension konzentriert sich auf die Poetik der Naturlyrik:
In Brittings Buch zieht ein Jahr in bayrischer Voralpenlandschaft vorüber: der ringende, schmerzhaft-stürmische Vorfrühling mit seinen jähen blendenden Aufschwüngen und finsteren Niederbrüchen zurück in winterliche Schneewolkenkälte, der endlich ausbrechende, traumhaft vorbeirauschende Frühling, der prangende, leidenschaftliche Sommer mit seinen Gluten, Schimmern und Gewittern, mit dem »schwelgerischen Überschwall« seiner Regengüsse, der große, gelassen-ernste, in strengen, farbenvertiefenden Stürmen hinströmende Herbst und der lautlos niedersinkende, frostweiße, kristallene und fröhliche Winter. Britting hat sich eine ungemein charakteristische und eindringliche Form geschaffen, die man wirklich barock nennen darf.
In der unmittelbaren publizistischen Reaktion wußte jedoch vor allem Fritz Knöller seine genaue Kenntnis des Bandes in mehreren Besprechungen umzusetzen (u. a. in: Deutsche Zukunft, 28. 2. 1936), die B. in die große Tradition deutscher (Natur-)Lyrik rücken:
Brittings Verskunst ist sodann Landschaft. Des Dichters Person und der Mensch spielen kaum eine Rolle in seinen Gesängen; selbst seine Legenden sind in die Landschaft hineingeschrieben. Jeder geschaffene Teil ist Britting gleich wichtig [...].
Ausführlicher führte Knöller diese Skizze zur »Lyrik eines großen Einzelgängers« in seiner Besprechung für Die Literatur l Das Literarische Echo (38, 1936, S. 187f) aus; auf das Vorbild Stifters wird ebenso verwiesen wie auf das barocke Bayern als Schöpfungsraum von B.s Dichten.
Dies sind zugleich die Leitthemen der Rezeption, die sich in den Koordinaten des zeitgenössischen Erwartungshorizontes bewegt (vgl. oben S. 267-277). So identifiziert Rudolf Bach in einer Überschau Lyrik der Gegenwart (in: Die neue Rundschau 1936, S. 750-764; gekürzt auch in: Frankfurter Zeitung, Nr. 602, 26. 11. 1937) ›Buch‹ und ›Landschaft‹:
In Brittings Buch zieht ein Jahr in bayrischer Voralpenlandschaft vor über: der ringende, schmerzhaft-stürmische Vorfrühling mit seinen jähen blendenden Aufschwüngen und finsteren Niederbrüchen zurück
in winterliche Schneewolkenkälte, der endlich ausbrechende, traumhaft vorbeirauschende Frühling, der prangende, leidenschaftliche Sommer mit seinen Gluten, Schimmern und Gewittern, mit dem »schwelgeri schen Überschwall« seiner Regengüsse, der große, gelassen-ernste, instrengen, farbenvertiefenden Stürmen hinströmende Herbst und der lautlos niedersinkende, frostweiße, kristallene und fröhliche Winter. Britting hat sich eine ungemein charakteristische und eindringliche Form geschaffen, die man wirklich barock nennen darf.
Als »charakteristisch süddeutsch-bayrische« Naturdichtung stellt Bach die Lyrik B.s neben Wilhelm Lehmanns Antwort des Schweigens als deren norddeutsches Pendant. Die Süd-/Nord-Antithese wird gelegentlich (bei Pongs wie bei Meckel, s.u.) in jenem Vergleich mit Brockes durchgeführt; das Bayrisch-Barocke drängt sich überall vor, wird aber von Pongs und vor allem von Matthies am Maßstab des volkhaft Mythischen gemessen.
    Kurt Matthies (vgl. oben S. 264) verwirft in Georg Brittings Pürschgang ins Unheimliche (Deutsches Volkstum 1936, S. 548-550) den »barocken« Britting und damit die »wunderschön volkstümlich angemalten und zugleich künstlich gefertigten Legenden und Figuren von bayrisch-katholischem Geblüt, diese über und über vergoldeten, die so prächtig aufprunken und das Gemüt mit dem alten Marionettenspiel der heiligen drei Könige erfüllen«:
Aber dieser so deutlich bestimmbare Britting, dieser nachgeborene Krippenschnitzer und Marienritter des Barock, macht doch nur eine Ausnahme mit sich selbst. Reißt man die Seiten heraus -ich hab's längst getan -, so bleibt ein ganz anderer Kerl übrig. Ein hanebüchener Heide, ja!
Indes, wie man's nimmt. Denn mit einem weiten und glücklichen Atemzuge wollen wir doch bedenken: Alles echte und generöse Heidentum unserer Zeit ist ein gewaltiges Zurücksinken in die Welt, die hinter der christlichen Glorie brodelt und brütet. Und wir fügen entschlossen hinzu: Der Weg von dort zurück führt wiederum, schmal, aber stracks, an den heiligen drei Königen vorbei.
So habe B. die ›unheimliche‹ Probe des ›Magischen‹ gewagt und ›männlich‹ bestanden. Ähnlich von einer ›völkischen‹ Poetik inspiriert zeigt sich der einflußreiche Literarhistoriker Hermann Pongs (Zur Lyrik der Zeit, in:
Das Innere Reich 2, 1935/36, S. 1155-1170), dem B.s ›Hauszeitschrift‹ Das Innere Reich die Besprechung übertragen hatte (vgl. seine Attacke, oben S. 304; ihr ähnelt der Vorbehalt in der Sammelbesprechung Neue Lyrik [in: Der Gral 30, 1935/36, S. 425-427] von Toni Weber, dem B.s Band zeigt, daß der »Durchbruch zur großen, tiefen Volksdichtung [...] noch nicht erfolgt« sei [S. 427]). Pongs verweist auf Brockes, stellt B. neben Richard Billinger und Wilhelm Lehmann, überprüft jedoch argwöhnisch den ›mythischen‹ Urgehalt dieser Naturgedichte:
Britting in einen so großen Zusammenhang zu stellen, dazu berechtigt die ganz ungewöhnliche Begabung, die in jeder Wortprägung, in jedem Bild der Dichter verrät. Kunstgewerblich ist das nur dem oberflächlichen Anschein nach. [...]
Auch der Absprung ins Groteske, den Britting manchmal nimmt, kommt aus einer Seele, der Lachen und Weinen gleich nah liegt. Man braucht nur das Gedicht: »Drei am Kreuz« zu lesen, um das zu wissen. Aber der Grundton ist ein anderer. Es ist der Dauerton einer starken Weltliebe, die sich nie genug tun kann, das Ganze in der Nußschale zu fassen, das Lebensgesamt eines einzigen Augenblicks im All. Es ist der Weltton, den sich Rilke heransehnt und herandichtet in der neunten Elegie: »Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehn?«
»Erde, du liebe, ich will. « Und um dessetwillen das siebente Orpheussonett beginnt: »Rühmen, das ist's!«. Sentimentalisch gewiß ist das Weltbild, das den einsamen Dichter zum Sänger der Dinge macht. In Britting ist eine Kraft am Werke, von den bayrischen Bauernvätern her, die unbekümmert um die verschwiegene Not des Dichters in unsrer Zeit aus dem Urrhythmus und Urtakt der Dinge selber spricht. Und nur das Sich-Genüge-Tun im Einzelding, im Einzelaugenblick verrät die Erschüttertheit des untersten Grundes.
[...] Nur eine Gefahr besteht hier, und fast jedes Gedicht streift sie, streift dicht an ihr vorbei: zwischen der mythischen Phantasie mit ihrem weiten Flügelschlag, und der Überschärfe des Blicks, der am Kleinsten haftet, ist irgendwie eine Spannung, unausgelöst, zusammengedrängt in den kurzen Takt der Gedichte. Manchmal werden die Gegenstände im Gedicht starr wie Marionetten und man spürt quälend die innere Dissonanz, die sich reimwütig doch nicht lösen kann: »Frech der rote Wirtshauskater - tatzt nach meinem Schatten, scharf, - den ich, weißer Nachthemdpater, - schwarz vor seine Krallen warf. « Und man ist erlöst, wenn plötzlich ein epischer Vorgang aus der Tiefe des Geschehens herauf das Ineinanderverweben von Mythischem und Allerwirklichstem übernimmt. Da wird dann deutlich, wie viel alte Volkskunst in diesem bayrischen Dichter noch lebt. Kann sich der Geist des Barock, jenes süddeutschen warmen lebenskühnen Barock kindlicher, gläubiger, spielender in ein Sprachgebilde umsetzen als es in der »Kapelle« gelingt? Als ein dem Grund der Legende entstiegenes, unwirklichwirkliches Geschehen, mit allem Zauber Brittingscher Sprachkunst beschworen? Oder kann sich katholische Gläubigkeit weltinniger entfalten als in dem Sang von Christi Geburt: »Mitten im Föhrenwald«? In solchen Gedichten sind wohl die Höhepunkte dieser Gedichtsammlung zu sehen. Die mythische Phantasie ist von den alten Urbildern der Volksphantasie bestimmt, und alles was der Sprachkünstler ins Werk setzt, wird hier volkstümlich echt und treuherzig-großartig. Volksglaube verwirklicht sich neu, und die unverbrauchte starke Sprache tritt in den Dienst dieser Aufgabe: die Urschicht der Volksseele, die religiöse Schicht zu erreichen und vor ihr den irdischen Tag aufleuchten zu lassen im Licht des ewigen. Je weiter sich Britting davon entfernt, um so mehr überwiegt dann das Auge, dieser kälteste Sinn, und Wortkunstgewerbe wird zur drohenden Gefahr.
Karl Rauch (Neue Gedichtbücher, in: Der Bücherwurm 21, 1935/36, S. 37-40) hingegen rettet eben diesen Befund eines nachmythischen Bruchs zwischen Menschen und Natur, indem er es wiederum als Zeichen jener - im Wertevokabular der Schrifttumsbetrachtung stets hoch gewerteten - ›männlichen‹ Haltung ausgibt, ihn zu bestehen:
Britting hat mit seinem »Irdischen Tag« der Naturlyrik ein neues Tor aufgerissen. In seinen Gedichten wird der schmerzende Zwiespalt zwischen dem Menschen und der Erde samt allen ihr näheren Geschöpfen durch einen Zugriff wirklichen Künstlertums, der geradeso hart wie liebevoll schmiegsam, geradeso tätig wie spielerisch genießend ist, nicht überwunden oder beiseite getan, sondern in sich zur lösenden Befruchtung, zur lauteren Sinndeutung gehoben. Das vielmißbrauchte Wort »männlich« bietet sich für diese Verse als zutreffendste Bezeichnung an. Es gilt hier, wo Herbes und Süßes gerecht sich mischen, auf unvergleichlich einmalige Weise.
Aus dem Kolonne-Kreis nutzte Eberhard Meckel (Das Glück des reinen Gedichts, in: Berliner Tagblatt, Nr. 533, 10. IL 1935) die entschiedene Zustimmung zu B.s Gedichten sogar zu einer sachten Polemik gegen die den Nationalsozialisten genehme, politisierte Literatur:
Der Bedarf unserer vom Politischen getragenen Zeit an Gereimtem, das man singen, in Sprechchören, Kantaten und Thingspielen bringen kann, ist sehr groß. Zwar hat das meiste davon, zum notwendigen und guten Gebrauch gemacht, nichts mit dem zu tun, was wirkliche Lyrik ist. Aber viele Leute tun seit Geraumem alles, was nicht Kampflied, Vaterlandshymne, Ackergesang ist, als »private Lyrik« ab. Weit davon entfernt, der monologischen Selbstbespiegelung im Gedicht (die nur dann fruchtbar wird, wenn sie einem, der im betrachtenden Ich gleichzeitig ein Du aussagt, gelingt), den Gefühlshaschern und bloßen Stimmungsbildnern, die Traum mit Berufung verwechseln, Vorschub leisten zu wollen, muß wieder einmal gesagt werden, daß aus der sogenannten »Privat-Lyrik« noch immer das Ewige und das Glück des reinen Wortes erwachsen sind, das unsere Dichtung trägt und weiterführt. Dies zur Einleitung, wenn es nun einen der wichtigsten Gedichtbände der letzten Jahre zu besprechen gilt. [...] Hier hat sich Britting einen völlig eigenen Gedicht-Stil geschaffen; man denkt häufig an Brockes, doch so stark das rein bildhaft Gegebene Britting und Brockes verbindet, so sehr trennt sie dieses: Brockes, dem Norddeutschen, diente das Vergnügen am Irdischen nur um Gottes willen, Britting, dem Süddeutschen, hingegen dient auch das Göttliche, besser: Religiöse nur zum götterlosen, fast panheidnischen irdischen Bild, zum bunten Abbild der Landschaft, der Jahreszeiten, des Tages und der Nacht mit Pflanzen, Getier, Regen, Schnee, Kälte. Britting ist, wie Stifter im Epischen, ein bedeutender Maler des Kleinen, aus dem sich das Große baut. Ihm stehen eine Fülle, ein Reichtum von Versformen und Worten zur Verfügung, die immer wieder in Erstaunen setzen. An Britting kann man wieder lernen, was Gedichte lieben, was Gedichte machen heißt. [...]
Dem Irdischen hingegeben liebt er die durchsichtige bayerische Barockluft, die gute Naturklarheit, aber seine Neigung geht auch zum Bösartigen, oft fast Krankhaften. Neben der eindeutigen gläsernen Kälte zum Beispiel gilt ihm typischerweise das unter Gras und Blättern Feuchte, das Giftige, im Schilf tierhaft Verborgene, die Krötenlust, das mit Schwären Behaftete. Nie jedoch gewinnt das als fremdes Element gelegentlich Spürbare über die erste Seite die Oberhand, wohl aber hilft es oft zur hintergründigen Vertiefung des Bildes, das sonst gern ein wenig zu verspielt dahingemalt bleibt. So ergänzt eine Seite die andere, und wenn die Synthese gelingt, dann gelingt Britting das vollkommene Gedicht. Von den über hundert Gedichten des Bandes werden wohl ein halbes Dutzend in den Bestand unserer Lyrik eingehen. Das ist sehr viel.
Offenbar hatte B. jedoch auf weitere Resonanz bei den Schriftstellern gehofft. So klingt noch im Brief an Georg Jung vom 30. August 1949 eine leichte Enttäuschung nach:
Als der Irdische Tag erschien, wollte Schröder einen großen Aufsatz darüber schreiben. Wollte, es kam nicht dazu. Damals kannte ich ihn persönlich nicht. Ich sprach ihn ein einziges Mal bei der Verbrennung Bindings, da kam er wieder, 3 Jahre später, auf den Aufsatz zu sprechen, und wollte es nachholen. Wollte.
In Nachlaß Rudolf Alexander Schröders (DLA. - Vgl. zu Schröder, oben S. 295) haben sich jedoch tatsächlich im Rahmen einer aus dem Jahr 1940 stammenden Sammelrezension Ausführungen zum Irdischen Tag erhalten:
Im Gegensatz zu dem Hessen Paul Appel führen uns die Gedichte des Bayern Georg Britting in eine vergleichsweise »statisch« erfaßte & wiedergegebene Welt. Es ist eine Welt der Gegenständlichkeit, eine Welt des ruhenden & genießenden Zuges und der in seinem Blick beschlossenen Bilder, in die er uns führt, so sehr, daß da, wo der Dichter versucht, aus dieser ihm eignenden & von ihm meisterhaft beherrschten Domäne hinaus in die der Erzählung oder der Parabel vorzustoßen, die Grenzen seiner Kraft sehr deutlich spürbar werden. Innerhalb seiner eigentlichen Welt ist er aber ein Meister von bewunderungswürdiger Festigkeit & Eigenheit des Wortes & der Gebärde. Es bleibt alles in allem ein zählbarer & meßbarer Reichtum, den er vor uns ausbreitet, aber er ist darum nicht minder reich. In ihren besten Stücken geht seine Wiedergabe & Verwörtlichung eines Sinnen-Erlebnisses an geschlossener Wucht weit über genaue mühsame Produkte hinaus, in denen Rainer Maria Rilke [sic!] versucht hat sich als Schreibender einer Welt zu bemächtigen, deren er als Lebender niemals habhaft zu werden vermocht hat. An der Grenze dieser Welt & fraglos unter Rilkeschem Einfluß steht das Gedicht »Die Kapelle«, das ich vorläufig als das Meisterstück Georg Brittings ansprechen möchte. Spricht es doch am deutlichsten aus, was manche hinter den Versen der Dichter mehr vermuten als deutlich spüren lassen & das doch allen Vers & Reim erst zum »Gedicht« werden läßt, das Hindurchschimmern eines »ewigen« Augenblicks durch den bloß erlebten.
Außerdem findet sich in Wilhelm Lehmanns Nachlaß ein Widmungsexemplar der Erstausgabe von Der Irdische Tag - »Wilhelm Lehmann in herzlicher Verehrung. Georg Britting. Okt. '935« (DLA); es enthält Marginalien Lehmanns, die eindrucksvoll belegen, wie gespannt dessen Verhältnis zu dem süddeutschen Konkurrenten war (vgl. dazu den Kommentar in Bd. IV).
    Der Text ist vielfach mit Fragezeichen kommentiert; es finden sich Stichworte der Empörung - wie der Ausruf »uh!« und »häßlich verdreht« (zu V 7 von Neben einer Weide liegend), »was für eine Reimerei« zu Nach langem Regen, »gräßlich« zum Schluß von Federn -, lapidare Zensuren - wie »nicht gut« zu Der Wald, »schauderhaft« zu Da hat der Wind die Bäume an den Haaren, »ganz schwach« zu Raubritter wie auch zu Waldweiher, »alles verkehrt« schließlich zu Die Stallmagd -, gelegentliche Kritik am poetischen Handwerk - wie die Stichworte »Tautologien« (zu Das rote Dach, V.3 u.8), »unklares Bild« (wiederum zu Neben einer Weide liegend, V.8), »schief« (zu Vorfrühling, V. '9f.), »Prosa« (zu Dicke, braune Tiere summen, V 8), - einmal auch die literaturhistorische Vermutung eines Anklangs an Storm am Schluß von Bauerngarten. Nur die >Legendengedichte<, die in Lehmanns Werk kein Pendant haben, bleiben von Zensuren weitgehend verschont. Dies alles summiert sich zu einer kraß abschätzigen Haltung Lehmanns B.s Gedichtband gegenüber, mit dem er sich gleichwohl gründlich beschäftigte; eine Bemerkung zu Im Tiroler Wirtshaus zieht sogar die Rezension von Pongs (vgl. oben) heran: »Herr Prof. Pongs [bessert in] zitiert >braune<«, moniert Lehmann zu dem Ausdruck »brumme Kuh« (V 5). Auf dem hinteren Schmutzblatt findet sich in Lehmanns Exemplar noch ein Gedicht B.s eingeklebt, Tomaten und Igel, ausgeschnitten aus »Die Neue Zeitung«, 10. 7. 1945, offenbar als weiterer Beleg; denn »o wie schwach« lautet hier die letzte, diesmal allerdings treffende Reaktion Lehmanns auf seine in diesem Widmungsband dokumentierte Lektüre.