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Frankfurter Anthologie 



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Georg Britting
Sämtliche Werke  

Taschenbuchausgabe
in 23 Bänden

Band 1  "Der irdische Tag" 
Seite 12

Georg Britting
Sämtliche Werke 
- Der irdische Tag -   Band 2   Seite 17

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VORFRÜHLING

In das große, graue Himmelstuch
Ist ein blauer Streif gerissen.
Aufgeschlagen wie ein Buch
Liegt der Acker.  Die zu lesen wissen

Lesen: Frühling! in der groben Schollenschrift.
Ackerfurchen sind wie krumme Zeilen,
Pappeln Ausrufzeichen, und zuweilen
Setzen Tümpel, die ein Lichtstrahl trifft

Hinter einen Satz den Punkt.
Die Scheune mit dem grünen Dach,
Auf Bretterfüßen, morsch und schwach,
Ist von einem Lichterkranz umprunkt.

Drei Krähen, schwarz und in Talaren,
Hocken auf dem Heckenband.
Schlag in die Hand!  In Federwindfanfaren
Schaukeln sie zum nächsten Ackerrand.

Ihre schwarzen Schatten schwanken
Spukhaft überm Wasserloch,
Wo sie krächzend niedersanken,
Sich schnell die Maus in ihren Höhlengang verkroch.











FAZ 7.7.1990
Frankfurter Anthologie 



Harald Hartung

Zellen aus dem Buch der Natur
 

.....Von einem Vorfrühlingsgedicht erwartet man Zartes, Ahnungsvolles, gewissermaßen etwas Hofmannsthalisches, erfüllt von "seltsamen Dingen". Georg Brittings Gedicht ist eher von derber Art - auf merkwürdige Weise so einleuchtend wie rätselhaft, gegenständlich wie abstrakt, klar gebaut und dennoch irritierend. So fragt man sich nach dem Lesen, ob man verstanden hat, und liest aufs neue. Vom Lesen spricht auch das Gedicht selbst. Es leitet uns an, ja buchstabiert uns seinen Sinn ein Stück weit vor.
Der Text beginnt sozusagen mit Textilem, mit dem grauen Himmelstuch für seinen Prospekt. Doch erst der blaue Riß ergibt die richtige Beleuchtung. In diesem plötzlichen Licht wird die Welt lesbar: „Aufgeschlagen wie ein Buch / Liegt der Acker.“  Der Reim hat die entfernten, doch insgeheim verwandten Dinge zueinander gebracht, das „Himmelstuch" und das „Buch“. Nur existiert das Buch vorerst auf einer minderen Wirklichkeitsebene: auf der des Vergleichs. Aber ebendies reizt den Dichter zu den nun folgenden liebevoll
ausgeführten Vergleichungen; und da er ein geschickter Pädagoge ist, macht er uns zu Eingeweihten, zu denen, „die zu lesen wissen“. Da lesen wir  denn im Buch des Ackers den Text mit dem emphatischen Titel „Frühling!“. Aber was wir lesen, ist vor allern das Gesetz, die Ordnung der Lektüre. Mehr das Wie als das Was. Die Folge der aufgepflügten Ackerschollen ist wie eine gebrochene Schrift, in der Buchdruckersprache also eine Fraktur. Die Ackerfurchen, landläufig „Zeilen“ genannt, sind wie die Zeilen von Versen. Am Ende der Ackerzeilen wird der Pflug gewendet, und von diesem Wenden (lateinisch vetere) kommt der Vers.
So ackert hier der Dichter auf dem Feld bekannter Vorstellungen. Doch einmal im Zuge, erweitert er seine Landschaft um die Elemente der Zeichensetzung. Und da das vergleichende „wie“ schon fast vergessen ist, sind die Pappeln nun wirklich Ausrufzeichen und markieren „Tümpel, die ein Lichtstrahl trifft“, den Punkt. Der beendet nicht bloß einen Satz, sondern einen ganzen Abschnitt, den Buch-Vergleich. Würde das Gedicht hier enden, hätten wir ein Stück: linguistischer Poesie: Dichtungung über Wörter. Sätze, Sprache.
Doch Britting, der Dichter süddeutscher Landschaft; kann und mag hier nicht enden. Er will nicht bloß den schönen Vergleich, er will die Phänomene der Welt aufleuchten lassen. Und wie könnte er abbrechen, da er gerade eine neue Strophe angefangen hat. Auf den „Punkt“, das typographische Zeichen, reimt sich das prunkende Vorfrühlingslicht, das die armselige Scheune mit ihren „Bretterfüßen" zu einem lebendigen Wesen verzaubert. Wo soviel Glanz ist, darf der Kontrast nicht fehlen: die Krähen als grotesk-bedrohliche Geschöpfe, die Menschliches parodieren. Sie gehören in Brittings Topographie. In einem späteren Gedicht schreiben sie „ihre Hieroglyphen / In den Abendhimmel“. Und der Dichter, der nach dem Sinn ihrer „Zeichen“ fragt, gesteht: „Hilflos sind wir vor der schwarzen Schrift.“
Vielleicht ist es Hilflosigkeit, vielleicht eine etwas boshafte Laune, die zu der Aufforderung führt: „Schlag in die Hand!“ Der Effekt - der Taumelflug der Krähen und ihr spukhaft-bedrohliches Niedersinken - zeigt, was womöglich zu zeigen war. Fressen und Gefressenwerden als Gesetz der Natur, dieses Britting-Thema wird auch hier angeschlagen. Es steht in Brittings Buch der Natur.
So las man's nicht immer, seit Augustin von den Zwei Büchern sprach, der Heiligen Schrift und dem Buch der Natur. Nikolaus von Kues sagte: „Die Dinge sind die Bücher der Sinne. In ihnen steht das Wollen der göttlichen Vernunft in sinnfälligen Bildern beschrieben.“ Und Goethe, schon vorsichtiger, formulierte in seinem „Sendschreiben“ 1774: „Sieh, so ist Natur ein Buch lebendig, / Unverstanden, doch nicht unverständlich.“ Dem späteren Dichter des „Irdischen Tags“ (1935), darin „Vorfrühling“ figuriert ist sie nicht verständlicher geworden.