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Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Walter Schmitz

Band 1  Seite 188
Kommentar Seite 640 | Kommentar aus Band 5
vgl: »Die verwegene Marion« S.235 und Bd.5 S.195 »Mohn«

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«



Marion

Die Wasenmeisterei lag auf einem Hügel vor der Stadt, dem Galgenberg. Die Straße, die beim Tor den schweren Panzer des Pflasters abwarf, erklomm in kurzen Sprüngen die runde Kuppe, wo ein schwarzer Zaun aus Eisenlanzen das Gehöft feindselig verstachelte. Verwachsene Bäume und von ekelhafter Blattkrankheit zernagte, niedere Büsche umkreisten wie lauernde Hunde das Haus. Marion ging fast täglich diesen Weg. Nie waren die kleinen Fenster geöffnet und als sich einmal die dunkle Tür knarrend drehte, schnell schloß sie sich wieder mit dem Geräusch eines zuspringenden Taschenmessers hinter der Frau, die ein Kind (oder war es irgend ein Tier?) an die Brust drückte. Marion konnte nicht an dem Haus vorübergehen, ohne daß eine fremde Hand sie in die Kniekehlen schlug. Der Versuch mißlang, dem Abendspaziergang eine Richtung zu geben, daß er sie nicht vorbeiführe an dem verpesteten Garten. Ein dunkler Wille, dem sie sich mit geringem Sträuben unterwarf, trieb sie verschlungene Wege, die alle wieder einbogen in die große Straße. Dann legte sie die Stirn an die kalten Eisenstangen, klammerte sich mit kleinen Händen fest und roch lange den süßen und faden Geruch, vor dem sie sich ekelte.
   Otmar küßte ihr die Hand. »Wie befindest du dich, Marion?« Sie schlug die großen Augen zu ihm auf. »Recht gut!« In die Tasse schenkte sie ihm Tee, der wolkig durch die dünne Wand schimmerte. Auf dem weißen Tischtuch lag seine Hand, regungslos wie ein häßliches Tier. Er spreizte die Finger und sie erschrak, als er sie zur Faust schloß. Sie hatte das bestimmte Gefühl, eine Fliege oder blauglänzende Mücke säße gefangen im Innern des fleischweißen Klumpens. Spielend entknüpfte sie seine Fingergelenke und war fast betrübt, als surrend kein Insekt aufflog und die Fläche seines Handtellers sie ansah wie rosige Gummiplatte. Otmar glättete sich den Schnurrbart. Komisch runzelte er dabei die Augenbrauen, daß sie auflachte. »Mein Liebling!« Sie fiel ihm um den Hals und küßte ihn stürmisch. Die Mutter raschelte betont mit der Zeitung, vertieft und taktvoll.
   Der Herbstabend stand breitbeinig am Horizont, ballspielend mit den runden weißen Federwolken. An einem Baum gelehnt träumte Marion in die Landschaft. Die versank um sie und nur die Wasenmeisterei blieb, ein riesiges Schiff mit schwarzen Wänden, Arche, auf nacktem Felsen gestrandet. Ein Schrei, dünn wie siebenmal geschärftes Messer, sprang wütend empor und pfeilte steil gegen die Himmel, die unter seinem Anprall leise erbebten. Der Schrei des guten Tieres, vom Metzger blind gemeuchelt, raste um die Erde. Alles, was in Ketten lag, spürte Verzweiflung, jeder Halm neigte sich zitternd und die Sichel des jungen Mondes blutete auf im Rot des Rubins. Marion, süß gepeinigt von dem Schrei, warf die Arme in die Luft und hetzte hinunter in die Stadt, die sich schon im Dunkel verkroch.
   »Die Rechnungsrätin im ersten Stock will den kranken Spitz weggeben« und sie erzählte, daß die weißhaarige Dame sie gebeten habe, das Tier zur Wasenmeisterei zu bringen. Marion wand die Finger ineinander, daß sie schmerzten. Ihre Fußsohlen brannten und im Nacken spürte sie einen scharfen Dorn. Otmar zögerte. »Es paßt mir nicht.« Steil schob sie das Kinn vor. »Warum nicht?« Und an seinem Hals: »Das arme Tier!«
   Mit verschrumpften Händen zerrten die aussätzigen Büsche Marions Haar. Die blecherne Glocke grölte versoffen. Der Kerl blitzte mit einem lilienweißen Gesicht, das wie ein Löschblatt war, leicht aufgefasert. Den Hund hob er hoch am Genick. Der hing wie ein leerer Sack, zusammengetröpfelt im lächerlichen Zipfel der Rest der Körner. Marion fühlte ihr Blut in Stößen durch den Körper jagen. In das Taschentuch preßt sie die Finger, aus denen Blut spritzen wollte. Der Hund hatte schläfrige Augen, als ihn der Henker wie einen nassen Lappen schwang. Die Tür zur Mörderstube war nur angelehnt. Eine Faust dröhnte. Ein Winseln kroch durch die Spalte. Marion schloß die Augen. Auf feuerfarbenem Grund sah sie schwarzen Stern aufblühen, der silbern verbrannte. Der Wasenmeister riß die Tür auf. Der Hund lag am Boden wie trübe Lache, die versickern will.
   Marion saß zwischen blitzenden Spiegeln und bürstete ihr Haar. Auf Fußspitzen trippelte sie zur Kommode, hob Otmars Bild und küßte es. Zärtlich betrachtete sie seinen schönen, weichen Mund. Dann schlüpfte sie ins Bett. »Gute Nacht, Schatz!«
Der Hundehändler bestand auf seinem Preis: »Dreißig Mark, Fräulein.« Er schwor: »Er ist gut gezogen und sehr wachsam.« An der Leine riß, mißtrauisch, das Tier. Die Glocke schrie. Ein milchweißes Gesicht glänzte madig. Hände waren ganz weiß, nur die Nägel gelb wie getrübte Opale. Mit einer tiefen, schwingenden Stimme: »Er ist krank?« Marion nickte und wie er sich bückend den Hund am Halsband faßte, rührte sie an seinen schmierigen Rock mit der Neugier des Kindes und mit der bösen Lust des ungehorsamen Fleisches. Sie zitterte und ihr Wille war ein Raubvogel, der frei jagte. Sie trat schmal aus sich heraus. Er schlug die Tür auseinander. Ihre Spiegelung trat neben ihn. Ein Messer flog in seine Hand und blitzte in den Hals des Tieres. Ein Schrei stieg aus der zerfleischten Kehle, donnernd gegen die Wände. Blutgefüllter, platzender Ball, hin und her, im taumelnden Spiel, bis er in einer Ecke zerknallte. Wie eine Schweinsblase unter dem Tritt des Knaben. Marion hielt die Kniee stramm durchgedrückt. Sie legte Markstücke in die Hand des Wasenmeisters. Auf der Straße lief auf einmal der Hund neben ihr, mit kurzen hastigen Sprüngen. Sie stieß mit dem Schirm nach ihm.
   Die Katze sträubte sich unter ihrem Griff. Marion sah sich um. Niemand hatte den Diebstahl bemerkt. Sie streichelte den grauen Rücken. Argwohn verging unter der sanften Hand. Einen tiefen, summenden Ton geigte das zärtliche Herz. Der Wasenmeister funkelte mit entblößter Brust, auf der dünne Haare sich krümmten wie schwarze Sicheln. Marions Hand hob sich in seine, während sie sich mühte die Achsel mit Gewalt zurückzudrehen. Die Wachsmaske seines Gesichts verzerrte sich nicht, als er dem Tier mit einer fürchterlichen Bewegung das Rückgrat zerbrach. Marions Augen flatterten wie Vögel vor dem heißen Wind. Die Wände standen plötzlich schief. Die Decke wölbte sich wie ein Palmblatt. Als sie, liegend, seine Hände an ihren Schenkeln spürte, schlug sie ihm die Zähne in den Hals, bis sie Blut schmeckte, süß. Später gab sie ihm Geld und ging.
   Die Türe schnappte nach ihr. Die Büsche bogen die Arme zu schamlosen Gebärden. Die Straße lief, flog und schwang sich sausend in die Stadt. Wirbelnd wurde Marion mitgerissen.
Otmar hatte, schon auf sie gewartet. Mit strahlender Stimme: »Die Papiere sind da!« Er legte den Arm um sie: »In vier Wochen, Marion …«

[1919]

 

Erstdruck in »Die Sichel« 1, 1919, S.39-40 [September]