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Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Ingeborg Schuldt-Britting

Band 5   Seite 195
Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«



vgl. Bd. 1 S. 188 »Marion« und Bd. 1 S. 235 »Das verwegene Fräulein«
Kommentar S. 399
Brief von Walter Höllerer an Georg Britting zu dieser Erzählung
Mohn

Die Wasenmeisterei lag auf einem Hügel vor der Stadt, dem Galgenberg. Fast jede Stadt hat ja einen Galgenberg, und so heißt er von früher her, als noch die Schandgerüste auf ihm ragten. Die Straße, die beim Römertor den schweren Panzer des Kopfsteinpflasters abwarf, wand sich staubig zu dem einsam stehenden Gehöft hinauf, das mit einem hölzernen Zaun sich umgab. Im Zaun war eine schmale Lattentür, ein paar Bäume und struppiges Dorngebüsch machten den grasigen Vorgarten, dahinter stand das verrufene Haus.
   Marion ging fast täglich hier vorbei. Nie waren die kleinen Fenster geöffnet, und als sich einmal die Haustür auftat, schnell schloß sie sich wieder hinter der Eintretenden. Die Frau war ohne Hut gewesen, nur in ein dunkles Umschlagtuch gehüllt, und sie hatte ein Bündel behutsam an die Brust gedrückt gehalten. Einmal auch sah Marion den Wasenmeister, einen mageren Mann in Schaftstiefeln, der eben eine Grube im Garten aushob, und dazu pfiff er. »Still ruht der See«, pfiff er, und Marion summte die Weise mit. Der Mann, der Wasenmeister, wenn er es war, sah sie nicht. Sein schwarzes Haar war seitlich gescheitelt. Er grub und pfiff, mit verzierenden Trillern und Schnörkeln, und seine Schaufel blitzte.
   Marion wußte nicht, wie das war: aber nur selten gelang es ihr, den Abendspaziergang so einzurichten, daß er sie nicht vorbeiführte an dem unheimlichen Ort. Unheimlich? dachte sie, und dachte: das ist doch kein böser Mensch-und pfeift so schön und nachtigallisch! und dachte: aber morgen geh ich einen andern Weg! Aber tags darauf war sie doch wieder da, legte die Stirn an den feuchtkalten Zaun, rüttelte vorsichtig und spielend daran, wie Einlaß begehrend, und roch den strengen Geruch, der aus dem Garten herwehte und der anders war als sonst aus den Gärten - aber wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein!
   Ihr Bräutigam, Otmar, der Afrikaner, war, wie stundenlang an jedem Tag, mit seinem blonden, emporgedrehten Schnurrbart beschäftigt. Die Medaillen und Kreuze, die er sich im Krieg, in Südwestafrika, erfochten hatte, klirrten
über seiner linken Brust, auch wenn er sie, wie jetzt, nicht trug. Er neigte das Ohr und horchte auf das feine Klingeln. Dann, im Wirbel der Fingerspitzen die Schnurrbart-Enden schleudernd, stellte er an seine Braut die Frage, die er, weil ihn das Ungewöhnliche wieder einmal sehr bedrückte, jetzt und sofort stellen mußte: »Muß es bei Marion bleiben?« Er hätte lieber Maria gehabt! Aber sie nickte nur ein verträumtes: »Ja!« Seine rechte Hand mit der Narbe tändelte noch immer am längsten der Barthaare, und im Zerren schien es
noch länger zu werden und immer länger, seine linke Hand jedoch lag regungslos auf dem weißen Tischtuch, wie ein Tier. Er spreizte die Finger, und sie erschrak, als er sie dann plötzlich zur Faust schloß. Sie hatte das Gefühl, eine Mücke oder blauglänzende Fliege säße jetzt gefangen im Innern.
Spielend entknüpfte sie seine Finger und war fast betrübt, als kein Insekt surrend aufflog. Und sie fiel ihm um den Hals und küßte ihn stürmisch.
    Wenn im Straßengraben unter versprengten Roggenhalmen eine hochstielige, blutrote Blume aufwächst, mit schwarzen Negerhaaren an dem Bindfadenstiel, mit papierenen, schlappen Blättern, und sie wiegt sich hochmütig, so meint einer leicht, hier zeige sich etwas Adlig-Besonderes! Und wenn des Afrikaners Braut in Stunden gelangweilter Unruhe die flache, trockene Wiese ihres Daseins überblickte, glühte der feurige Mohn des Namens Marion verwegen und prächtig über Grasbüscheln und Klee.
    Am abendlichen Septemberhimmel drehten sich runde, weiße Federwolken in einem Wind, der da droben ging, hier unten wars windstill. Wie junge, weiße Pudel, die spielen, sind sie, dachte Marion. An einen Baum gelehnt träumte sie in die Landschaft hinaus. Weidensträucher zogen sich weithin der Donau, von der untergehenden Sonne beglänzt, der Strom warf ein Blitzen herauf, blaugoldenes Feuer, in schwarzen, schrecklichen Strudeln versinkend. Es war ein schmächtiger Holzapfelbaum, daran sie lehnte. Schüttel das Bäumchen! fiel ihr ein, und gleich begann sie zu schütteln, aber nichts plumpste ins Gras. Das bißchen Obst, das der Baum getragen haben mochte, hatten längst Kinder sich gepflückt. Nur ihr vorm Gesicht, an einem tief herabhängenden Ast, so nah, daß sie es mit der Nasenspitze zum Schaukeln bringen konnte, hing ein vergessenes Äpfelchen. So schaukelte sie es, zart zuerst, dann stärker, und hoffte, daß es falle, aber es saß fest und boshaft am Stiel. Mit einem wilden Griff riß Marion die Frucht vom Baum und biß hinein: bitter war ihr Fleisch, und gerbsäurig den Gaumen ätzend, und es verzog sich ihr der Mund, aber sie aß sie hinunter, samt der Schale und dem Kerngehäuse.
    Schräg unter ihr lag die Wasenmeisterei, ein riesiges Schiff mit schwarzen Wänden, trieb sie langsam dahin, ohne Segel, und wie steuerlos. Der Mond, silberblaß und durchscheinend, war schon da, inmitten der weißen Wölkchen, sie hatte ihn zuerst gar nicht bemerkt. Nun drehte auch er sich im oberen Wind, und hüpfte und tanzte, mit den Pudelchen sein Spiel zu haben.
    Erschreckt fuhr sie herum - von der Arche herauf kam ein Ruf, und der galt ihr! O Jammer! dachte sie, und schmiegte sich an das Bäumchen, wie ist mir? Niemand hat gerufen, und schon gar nicht nach mir - aber sie zitterte dennoch! Ihre dummen, rosigen Ohren hielt sie sich zu und strebte stolpernd zur Stadt zurück, wie mit gefesselten Füßen, und spürte das Eisen der Kette um die Knöchel, und es war dann schon dämmrig, als sie zum Römertor kam.
    Aus den feuchten Gassen meinte sie Kröten und Molche im Funkelzug heranwallen zu sehen, zu ihr, der Prinzessin im Purpurmieder und in hochgeschnäbelten goldenen Schuhen. Bin ich denn krank? dachte sie, und habe Fieber?
    Und bückte sich, einen steingroßen grasgrünen Frosch aufzuheben und an die Wangen zu drücken: da war es kein Froschprinz und bloß ein froschgrüner Stein! Und abends trank sie, und verbrannte sich fast die Lippen dabei, den siedheißen Fliederblütentee, den ihr die Tante ans Bett brachte. »Das kommt von deiner Herumlauferei«, sprach die Besorgte, »die Herbstluft ist schon kühl, und du mit deinen dünnen Blusen immer!«
    Gegen Mitternacht erwachte Marion, und lief barfüßig zum Fenster, und öffnete es, und sah zum Himmel empor. Schwarz schlief die Stadt unter den weißen Sternen. Die gute Tante schläft, dachte sie, und Otmar, und jeder! Die kalte Zugluft zerrte an ihrem Achselband, und sie weinte. Weinend legte sie sich wieder ins Bett, und noch schluchzend schlief sie ein, auf tränenfeuchtem Kissen, und schlief fest und traumlos bis zum Morgen.
    Daß die Rechnungsrätin im ersten Stock ihren kranken Spitz weggeben wolle, berichtete Marion, und daß die alte Dame sie gebeten habe, ihn zur Wasenmeisterei zu bringen – selber es zu tun, bräche ihr das Herz! Marion wand die Finger ineinander, daß sie schmerzten. Otmar zögerte. »Zum Abdecker, zum Schinder?« sagte er: »Nein!« Er sah sie strafend an. »Warum soll ich es nicht?« fragte die Braut, und drückte ihren Kopf gegen sein Kinn, und unter seinen Händen spürte er ihre Brust, und da sagte er: »Meinetwegen!« Und während das Mädchen einiges, und beileibe nicht alles, dem Bräutigem erlaubte, der wie ein Schatzgräber wühlte und suchte, flog ihr leichter Sinn wie eine Flaumfeder auf und fort und wiegte sich wie ein Engelsköpfchen vor den Fenstern des Galgenhauses. Aber die Fenster waren trüb und fliegenkotbespritzt, man konnte nichts sehen, und die Flaumfeder schaukelte wieder zurück, und Marion sagte entrüstet: »Aber Otmar!« Da hielt er beschämt inne, und auch sie glaubte an ihre Jungfräulichkeit, die unbezweifelbar vorhanden war.
    Der Wasenmeister trug wieder die langschäftigen Stiefel, spiegelnd gewichst, und seine Hände waren schwarz behaart. Kurz waren seine Finger, und über seinen Backenknochen spannte sich die Haut. Breit war er um die Brust, schmal waren seine Hüften, wie bei einem Stierkämpfer. Daß er blaugrüne Augen hatte, paßte nicht zu seiner Haarfarbe. Seine Stimme war ein tiefer Baß, als er sagte: »Morgen denn Spitz!«, und den Spitz, der ihm demütig die Hand geleckt hatte mit der rosenroten Zunge, einstweilen in eine Kammer gab, neben der Wohnstube. Der Spitz bellte nicht einmal. Bratenheiß wars, bei geschlossenen Fenstern, und alles war sauber geputzt, auch die Scheiben, wie in der Kaserne die Rekrutenstube vor der Besichtigung. Ein Bild des Königs, in Lohengrinrüstung, hing hinter Glas und Rahmen über dem schwarzen Ledersofa, daneben eine Schwarzwälder Kuckucksuhr. Der Schwanenritter im Kettenhemd, auf sein Schwert gestützt, stand aufrecht und mutig in dem Boot, das der langhalsige Vogel über den See zog. Schwarz und gelockt war der kurze Vollbart des Königs. Die Berge um den See sahen aus wie aus Pappe gemacht, und der Schnee auf ihnen, und die Gletscher, waren weiß wie Rahm, und so dick und klebrig und sicher so süß auch! Blaugrün glänzte der See: wie seine Augen! dachte Marion, und so tief! Und sie suchte ihnen zu begegnen-umsonst, der Wasenmeister vermied ihren Blick. Um den Hals trug er ein Tüchlein statt eines Kragens. Gelb war das Tüchlein. Und so ging sie denn wieder.
    Der Gestiefelte lehnte sich mit hängenden Armen über den Zaun und ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen und sah dem eilig davongehenden Mädchen nach. Wie einem Kater war ihm zumute, nur schnurren konnte er nicht statt dessen pfiff er sich eins! Vom Rattenfänger von Hameln hatte er wohl nie etwas gehört, der ungebildete Mensch, und der Vergleich stimmte ja auch gar nicht: das Fräulein war nur eine kleine weiße Maus, und überdies lief
sie vor ihm davon! Er lachte, und biß zu – da hatte er einen rostigen Zaunnagel zwischen den Zähnen. Er spuckte aus und pfiff einen silbernen Triller. Dort sah noch einmal das Fräulein zurück.
    Zwischen blitzenden Spiegeln saß des Afrikaners Braut und strählte ihr Haar. Auf den Zehenspitzen trippelte sie zur Kommode, hob Otmars Bild und küßte es, und die Trübung, die auf dem Glas blieb, wischte sie hurtig weg. Zärtlich betrachtete sie den Geliebten und seine Orden und sah in der Steppe den durstmatten Mann. Pfeile umschwirrten ihn, und ein nackter Wilder schwang den Speer gegen ihn: der galt seiner Brust, aber bös und pfeifend traf er nur seine rechte Hand! Oft hatte Otmar ihr von dem Überfall erzählt, und von der afrikanischen Sonne darüber - die deutsche sei dagegen armselig und sparsam, ein Mond bloß, sozusagen! Aus dem Hinterhalt, tückisch, im Dorngebüsch versteckt, hatten die schwarzen Teufel angegriffen - tapfere Männer sind arglos und leicht zu betrügen! Wieder küßte Marion das Bild des Geliebten.
    Der ging eben durch die kühlen Gassen der kleinen Stadt, und als er unter einem Laternenpfahl einen kohlschwarzen Kater buckeln sah, blieb er stehen. »Schwarzer Teufel!« redete er ihn an, aber der Kater schlug nur einen Reif mit dem Schwanz und tigerte davon. »Schwarzer Teufel!« rief ihm Otmar nach und schritt versonnen und versponnen nach Haus, und spürte ein Zucken im Herzen, und wußte nicht, was das bedeuten sollte, aber es war Marions Kuß.
    Wo der Kater die Nacht zugebracht hatte, wer weiß es? Hinter Ratten oder Mäusen her, oder hinter Kätzinnen, gelben und roten? Aber am Morgen lief er Marion über den Weg - klein, klein ist die Stadt! Zuerst sträubte er sich unter des Mädchens Griff. Marion sah sich um. Niemand hatte sie beobachtet. Sie streichelte das schwarze Fell, und der Kater begann behaglich und unwissend zu schnurren.
   Das Gesicht des Wasenmeisters ging wie der Mond im Dämmer des Türrahmens auf. Und wie der Mond, der etwas Lustiges sieht, anfängt, die Lippen breitzuziehen, und gelb und schallend zu lachen, so wurde das Gesicht des Mannes rund und prall und pausbäckig. Wortlos dann faßte er den Kater am Genick und warf ihn in hohem Bogen von sich, daß der mit steif gehobenem Schwanz durch den Garten auf und davon sauste, die Dornbüsche vermeidend, klug, wie er war! Und ohne zu sprechen, nur einen Triller pfeifend, ging der Mann ihr voraus in die Stube, und sie folgte ihm, das gelbe Tüchlein vor Augen. Der Mann drehte sich um, sah sie starr an mit blaugrünen Blicken und pfiff nicht mehr. Dafür kuckuckte jetzt der Kuckuck über dem Ledersofa - es war gerade zwölf Uhr des Mittags. Der Vogel trat aus dem Gehäus und rief, wie er von der Arche heraufgerufen hatte, fünfmal, sechsmal rief er, und noch öfter dann, aber da zählte sie schon nicht mehr mit!
    Ziegelarbeiter sind keine feinen Leute, durchaus nicht, und nicht höflich, und schon gar nicht gegen Damen, die ihnen am hellen Tag ins Rad laufen, als seien sie blind. »Verliebtes Mensch!« schrie der Indianer, rot vom Ziegelstaub und rot auch vor Wut. Fast wär er gestürzt. Am Straßenrand, im Straßengraben wuchsen Brennesseln, lodernden Zorns. »Rote Indianer, grüne Indianer - was kümmerts euch?« murrte Marion.
    Als sie unterm Römertor war, merkte sie, daß sich die Schnüre an ihrem linken Schuh gelockert hatten. Sie stellte den Fuß auf die unterste Stufe der Tortreppe, die Bänder wieder festzuziehen. Ihre Füße waren klein, und zierlich ihre Gelenke, und lustig wippte und drehte sie sich oft auf ihnen, und gefiel sich selber sehr. »Bachstelze« nannte sie Otmar deswegen und manchmal sogar »Prinzessin Bachstelze«, wenn er zärtlich war und verliebter Laune. Die Tante, bei der Marion lebte, in dem Haus, in dem auch Otmar wohnte, hörte das ungern. »Es klingt leichtfertig«, rügte sie dann, »und bald bist du seine Frau, und vielleicht Mutter!« Marion errötete, jetzt unter dem alten Tor, und hörte die Tante reden. Und die Bachstelze stellte den linken Fuß, der noch auf der Stufe war, wieder zum andern, zum rechten, auf die feste Erde.
    Zwei junge Nonnen in schwarzen Kutten gingen eben an ihr vorbei, mit blütenweißen Gesichtern, die Hände in den Kuttenärmeln verborgen, und wisperten leise miteinander. Sie hielten die Blicke gesenkt, wie es ihre Vorschrift verlangt, und die Rosenkränze, die von ihren Hüften hingen, machten ein frommes Geräusch. Ein Ziegelsteinbrocken lag auf dem Pflaster. Marion gab ihm einen groben Fußtritt. »So ein Kerl«, sprach sie, und meinte den Indianer, »was weiß der schon? Und was wissen die Nonnen?«
    Steine sind immer genug da, mit ihnen zu werfen. Man kann auch Häuser aus ihnen bauen, mit festen Wänden, mit Zimmern, in denen Schränke sind, voll duftender Wäsche, Windeln dabei, und buntbemalte Wiegen, Rosiges darin zu schaukeln. Schön ist das Kindergeschrei, und das Zwitschern aus dem Schwalbennest unter dem Dach, und ein kleiner Garten vor dem Haus, mit Blumen und nützlichen Küchenkräutern, auch mit Salat, macht sich an Sonntagvormittagen lieblich.
    Dem Afrikaner natürlich erzählte Marion nichts. Sie zog und zerrte mit ihm an seinem Schnurrbart, und bald feinhörig wie er, hörte sie das Klingeln seiner Orden, auch wenn er sie nicht trug.
    An das Erlebnis mit dem Gestiefelten, blutrot und brennend und gleich einer Rauschnacht in Spanien nach einem Stierkampf, dachte sie nur noch selten zurück. Die heiße Pfeffersuppe noch einmal aufzukochen, fiel ihr nicht ein. Sie hatte ihren Otmar, und wenn sie beide jetzt abends aus dem Fenster schauten, und ein kohlschwarzer Kater, und deren gibt es viele, und sicher war es ein anderer, buckelnd über die Straße lief, sagte der Afrikaner: » Schwarzer Teufel!« und legte sich mit seiner Gott sei dank weißen Marion ins weiße Bett.
Und die weiße Marion aß das kräftige und nahrhafte Roggenbrot, zermalmte es knallend zwischen ihren gesunden Zähnen, und würzte es mit dem betäubenden Mohn der Erinnerung.
    Schließlich hatte sie keinen sehr weiten Gesichtskreis, und einer Frau mit mehr Ansprüchen hätte dies eine Abenteuer nicht genügt, den Abendhimmel der Ehe magischrot zu überglühen.
 
 



 

Kommentar

S. 195 Mohn
E: Akzente, 2. Jg., Heft 4,1955, S. 290-296.
Vierte Bearbeitung eines Stoffes, dessen frühere Fassungen u.d.T ›Marion‹
( in Bd. I, S. 188, und ›Die verwegene Marion‹ in Bd. I, S. 235, gedruckt sind. (Siehe auch Bd. I, S. 645, zur dritten Fassung.) Seit 1929 hatte das Sujet geruht.
D1: Jahresring 1958/59, S. 1o-16.
D2: E II, S. 163.
Zu seiner allerersten Prosa gehörte eine Erzählung »Marion«. Sie erschien im September 1919 in der Sichel und war damals nicht mehr als zwei Druckseiten lang, formal ein Wirbel unverbundener überhitzter Momentbilder und inhaltlich selbst unter gleichzeitigen Stücken von ziemlich hochgetriebener Sexualität und Blutrünstigkeit. 1924 kam diese Erzählung unter demTitel »Die verwegene Marion« in der Monatsschrift Vers und Prosa des Rowohlt-Verlages heraus. Das Schockierendste war damals schon gedämpft, wodurch sich allerdings vielleicht gegen Ende ein gewisser Bruch und Spannungsabfall bemerkbar machte. [...]
»Mohn« oder »Das verwegene Mädchen« hieß dann auch die dritte Fassung der Erzählung, die, wiederum fünf Jahre später, 1929 in der Jugend gedruckt wurde. [...]
Nach dieser [relativ wenig veränderten] Veröffentlichung von 1929 jedoch waren die Chancen für die Erzählung und vor allem, wie Britting meint, für den etwas wüsten Stoff und der épater le bourgois-Stimmung ziemlich vorüber. [...] Um 1955 aber dann, als die Muster wieder gewechselt hatten, reizte die Erzählung, durch keine Buchveröffentlichung bisher fixiert, erneut zur Bearbeitung.

(Bode S.124 in seiner Monographie über G.B.)


Am 24. Januar 1955 schickte Britting das umgearbeitete Manuskript an Jung: ich brauche ihr urteil: beiliegende erzählung stammt aus meiner expressionistischen zeit. irgendwas ist dran, was mir heut noch gefällt. ich habe die arbeit etwas überarbeitet - und weiß nicht, ob es möglich ist, sie heut noch zu publizieren. ich habe kein urteil mehr darüber. der stoff ist nicht schön. bitte, mir streng und gerecht, wie ich es von ihnen gewöhnt bin, die meinung zu sagen [...] ihrem richterspruch mich unterwerfend.
Auf Jungs Zustimmung hin antwortete Britting am 31. 1. 1955: ich bin recht froh, daß ich sie habe, beratend und helfend. die marion ist 30 jahre alt, ich hab das zu expressionistische gemildert, und einiges neu geschrieben. auch der wenig schöne stoff ist expressionistisch, frech [...], aber das ganze ist nicht ohne schwung und kraft, fand ich beim Wiederlesen. ich dachte daran, sie an die >akzente< zu schicken, aber das tu ich besser doch wohl nicht? [...] freut mich, daß sie auch der meinung sind, an der arbeit sei was dran. sie zu schreiben brauchte es den mut der jungen jahre, heut würde ich mich an den stoff nicht mehr herantrauen.


Trotz seiner Bedenken sandte Britting das Manuskript an die Zeitschrift Akzente; Walter Höllerer reagierte sofort und schrieb am 2.2.1955:

Hochverehrter Herr Britting,
über Ihre Geschichte gibt es nur eine Stimme: sie ist faszinierend. Ich habe lange nichts gelesen, was mich so gleich gepackt - und behalten hat. Dieser Raum aus teufelsschwarz und brandrot ist großartig, und kein Wörtchen fällt heraus. Ich bewundere diese Geschichte sehr, sie ist von einer Geschlossenheit, die aber nirgends verriegelt ist, sondern auf überall hin offen bleibt, so daß sie wie ein Stachel sitzen bleibt im Leser, und er muß alles weiterspinnen. Der Teufelskater, wie er dreimal durch die Geschichte hext, ist ein Vieh, Ihrem Hecht im Untergrund und dem Vogel Bienenfresser verwandt, so wie der Gestiefelte doch auch auf irgendeine Weise ein schwarzer Bruder Ihres glänzenden Achill mit dem apfelkleinen Haupt ist. Das sind Bild-und-Rhythmus-Zusammenhänge. Überhaupt, der Rhythmus trägt alles und spielt noch viel mehr herein, als da steht und als was ich hier sagen kann. Ich bin sehr begeistert, und ich bitte Sie, daß Sie uns die Geschichte auf alle Fälle drucken lassen. Sie wird Ihnen und den Akzenten Freude und immer noch mehr Freunde machen. Ich sage Ihnen herzlichsten Dank dafiir!


Zustimmung zu dieser Erzählung kam auch von Friedrich Georg Jünger.
Am 12. 9. 1955 antwortete ihm Britting: Daß Ihrem Bruder der »Mohn« gefiel, und Ihnen, und daß Sie mir das schreiben, freut mich sehr. Es ist eine etwas verwegene Geschichte, geht auf eine frühe Arbeit zurück, und mir war ein wenig bänglich sie zu publizieren - da tun Ihre Worte doppelt gut.