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Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Walter Schmitz
Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«  -  Band 1  Seite 194
Kommentar Seite 640


Der Selbstmörder

Der Arzt hatte eine schlimme Krankheit festgestellt und es war klar, daß er sich töten würde. Wenn er schon fortmußte, geradezu aufdringlich wollte er nicht sein. Nur nicht warten, bis ihn die giftgrünen Säfte zersetzten, wie Regenwasser die Mausleiche. Wenn er sich behorchte, vernahm er ein inwendiges Brausen und Rauschen, das nichts Gutes bedeuten konnte. Gelbes Wasser, dachte er, gelbes Flutwasser, das Mauern und Balken zernagt, bis das Haus zusammenstürzt. Lieber eine schöne, runde, schwarze Mine legen und sie entzünden. Wenn die glühenden Balken rote Kurven am Himmel beschreiben, haben sie noch einen feurigen Purzelbaum geschlagen, ehe sie im kalten Kellerwasser ersaufen. Er besann sich: Sterben konnte nicht schwer sein. Ein Tag lief dem andern nach und wenn man dem letzten ein Bein stellte, daß er kräftig hinschlug, war das lächerliche Wettrennen zu Ende. Er spürte leise Schadenfreude, daß er dem regelmäßigen Verlauf der Krankheit ausbiegen und einen Schlußpunkt setzen würde, wo das ordnungliebende Schicksal noch einige überflüssige Neben? und Nachsätze zu schreiben notwendig hielt. Auf einer Ansichtspostkarte, die Hermann und Dorothea von einem Kranz Tauben umflattert darstellte, teilte er seiner Geliebten mit, daß er einen längeren Abstecher nach dem Monde unternehmen werde. Bei günstigen Ansiedelungsbedingungen werde er sich dort wohl dauernd niederlassen. Dann löste er eine Fahrkarte dritter Klasse nach einem Vorort, in dessen Nähe er den Absprung in die Milchstraße wagen würde. Das Abteil saß voll schwätzender Menschen, deren Gespräche er nicht ohne Neugierde belauschte. Sie schienen sich auf hindostanisch zu verständigen und waren ohne erkenntlichen Grund sehr erregt. Vor einem jungen Mädchen, das ihn mit spitzen Augen aufspießte, zog er knurrend die Unterlippe von den Zähnen. Das blonde Ding warf ihm noch beim Aussteigen erschrockene Blicke zu, als er schon mit langen Schritten nach dem Walde ging, der schwarz schraffiert gegen den Horizont stand.
   Die Sonne wollte untergehen und warf Feuerkugeln in die Kornfelder. Der Staub, den er in Spiralen aufwirbelte, zeigte ihm die Landschaft unter einem dünnen Schleier, den er mit dem Stock nicht zerreißen konnte. Es hatte sich jetzt seiner eine sonderbare Unruhe bemächtigt, die nichts mit Furcht gemein hatte. Es war ihm, als müsse er sich beeilen, unverzüglich zu tun, was notwendig war. Als säße er in einem Ballon, dessen Stricke schon abgeschnitten waren bis auf einen. Er spürte ungeheuren Auftrieb, Zwang in die Höhe, und die Erlösung lag bei einem raschen Axthieb. Kleine, spitzkielige Wolken segelten über ihn hinweg. Er versuchte mit ihnen zu fliegen. Die Arme warf er wie Flügel und stieß die Kniee nach oben. Aber er fiel wieder zur Erde zurück. Zorn brandete in ihm wie eine rote Welle hoch und er begann zu laufen. Aber immer war die Straße schneller als er und stets vor ihm. Am Himmel höhlte sich ein großes schwarzes Loch aus. Er zweifelte nicht, daß er da hindurch müsse und stemmte die Ellenbogen steil von sich ab um an den Wolkenrändern hoch zu klimmen. Als er es mit dem Oberkörper schon geschafft hatte und mit Befriedigung dünnere Luft atmete, zog ihn eine Faust an den Beinen zurück. Er fluchte und lief rascher, bis ihn der Wald aufnahm.
   Der Boden war mit Fichtennadeln gepolstert, die den Schritt unhörbar machten. Die Bäume krümmten sich zu verzerrten Bögen und Kreisen, wie die Zahnräder einer Uhr. Sie griffen mit Knirschen ineinander und schoben ihn vorwärts, während er jeden Augenblick glaubte, zerrissen zu werden. Ein Reh, das ihm über den Weg lief, blieb plötzlich stehen und wandelte sich zu einem Busch, der mit braunen Blättern glänzte. Holztauben flatterten vor ihm auf. Am Rande der Lichtung stand ein Ahorn, unter dem er atmend hielt. Er zog den Strick aus der Tasche und knüpfte ihn sorgfältig über den Ast, der wie ein Wegweiser vom Stamm abragte. Als er den Kopf in die Schlinge legte und schaukelnd in der Luft hing, begann er wieder zu fliegen. Diesmal gelang es. Er nahm die Richtung auf einen glühenden Stern, der wie toll um den Mond tanzte.
   Der Einsiedler warf sich auf die Kniee und betete zu seinem Gott. Sein Bart wogte wie die Wiese im Wind und aus seinen Augen strömte das unendliche Licht. Er hielt die Arme ausgebreitet, mit grünen Ketten an ein blühendes Kreuz getröstet, und seine Worte stiegen wie schimmernde Kugeln zum Himmel, wo sie der Herr mit gütigen Händen fing und seinen Engeln zuwarf. Als der Mönch die Arme senkte und sich wendete, erschrak er nicht, als der Selbstmörder wie eine müde Fahne vom Baum wehte. Er schnitt ihn ab, wie man die Kirsche vom Stengel löst. Er nahm ihn auf den Rücken, legte sich die kalten Arme des Toten brüderlich um den Hals und trug ihn zu seiner Hütte. Dort bahrte er ihn auf und begann sich die Suppe zu kochen aus Wurzeln und Pilzen. Aus den Wolken stieg der Abend nieder und hing sich schwarz in die Bäume. Das Dunkel schwoll mächtig an, aber an den Toten reichte es nicht. Denn der Mönch hatte eine Kerze entzündet, die die ganze Nacht wie ein einäugiger Vogel zu Häupten des weißen Mannes brannte.

       [1919]