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Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Walter Schmitz
Band 1  Seite 199
Kommentar Seite 640
Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«


Das Kind

Als Hermine sich Mutter fühlte, spürte sie nur geringe Bestürzung. Aus einem unbekannten Grunde war es von Anfang an als das Natürlichste erschienen, daß es so kommen würde. Aber ebenso war es ihr durchaus klar, daß das zu Erwartende niemals Ereignis werden durfte. In ihrem Leben war kein Platz für dieses Kind. Die Beziehungen zu seinem Vater hatte sie abgebrochen, als sie ihn mit ihrer besten Freundin in einer eindeutigen Lage antraf. [Der] Beruf als Verkäuferin trug knapp ihr so viel ein, daß sie bescheiden sich erhalten konnte. Das Kind würde eine Bürde für sie sein, die ihr den Nacken krümmte. Das Gerede der Leute würde sie mit Nadeln martern. Das Vorurteil der Welt sie prangern. Sie wollte heiraten. Sie würde heiraten. Später einmal. Irgendjemanden. Sie wollte nicht immer Strümpfe verkaufen. Das funkelnde Glück einer sicheren Ehe mußte zu ergreifen sein. Aber nur ohne das Kind. So traf sie ihre Vorbereitungen. Der Herr des Warenhauses gewährte ihr vierzehn Tage Urlaub. Sie fand Asyl bei einer weisen Frau und überstand den Eingriff mit wenig Beschwerden. Kein Gedanke an Schuld kam ihr. Nichts von Gewissensbissen. Nur das Gefühl einer großen und wunderbaren Erleichterung. Wenn sie mit prüfenden Händen die sanfte Wölbung ihres Leibes umspannte, in den Hüften sich bog und in beweglichen Gelenken sich wiegte überströmte sie kindliche Freude über wiedergeschenkte Unbeschwertheit des Körpers.
Nicht viel später begegnete sie eben jenem Mädchen, mit dem der Geliebte sie betrogen hatte. Sie empfand keinerlei Groll gegen die Freundin, sprach ohne Scheu mit ihr und wurde von einem Geständnis überfallen, das sie wie ein Schlag vor die Brust traf. Der Faden der Dinge, den sie eben mit fester Hand abgerissen hatte, spann sich auf gleicher Spule weiter. Sie erschrak über die wegsichere Wucht eines Geschicks, das sie wie eine schwere Kugel von sich auf eine andere abgerollt hatte. Der war der Ausweg versperrt, weil Hermine ihn durch ihre Flucht ungangbar gemacht hatte. Ihr (der Freundin) blieb das Opfer, dem sie sich entzogen.
Die folgenden Monate lebte Hermine in einer innigen Vertrautheit mit den Veränderungen, die in dem fremden Körper vor sich gingen. Sie fühlte die Last des schweren Leibes, die unruhigen Wallungen des Blutes, den schmerzlichen Segen der Reife in einer Stärke der Empfindung mit, die sie fast betäubte. Als bei der Geburt die Mutter starb, nahm sie ihr Kind an sich wie ein Geschenk, das erst verschmäht, um so tiefer beglückt.

[1919]