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Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Walter Schmitz
Band 1  Seite 267
Kommentar Seite 648

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«


Regen

Hellblau, blau wie Vergißmeinnicht, Silber darin, solche Augen hatte das Mädchen im Kopf, und ein gelbes Puppenhaar hatte es, strohgelb, das goldwolkig um den Kopf stand, und Wangen wie rotgetuscht, und war elf Jahre alt und trug ein weißes Kleid und saß auf der Veranda des Tiroler Dorfwirtshauses, und es regnete seit Tagen schon, seit vielen Tagen, und der Regen rann in runden, klaren Tropfen von dem braunen, pechgetränkten Holz des Geländers. Das Mädchen hatte eine Zeitschrift aufgeschlagen auf den Knien, auf den schmalen Knien, und sah auf das eingeregnete Tal hinaus und auf die Berge, die schmutzig schafgrau waren und wie nasse Schwämme (keine Riesenfaust drücke sie aus!) und bog nieder den mageren Kinderhals, erbärmlich und fröstelnd, und besah den Anzeigenteil der Zeitschrift und betrachtete gespannt und plötzlich erregt, und ich sah ihm zu, die Anzeige der Schaumweinkellerei Mattheus Müller, die, weil man die Anfangsbuchstaben ihres Namens, weil man M. M. zwei verschlungene M. in den Linien jeder Handfläche eingezeichnet findet, dies als einen Grund begreift zu behaupten, die Vorsehung sozusagen habe bestimmt, daß der Mensch ausschließlich MM-Sekt trinke. Und die zartblauen Augen des Mädchens wenden sich auf mich, und der kleine Zeigefinger deutet auf die Anzeige, ich sehe das rosige Oval des Nagels glänzen, und mit klingender und klagender Stimme sagt es: Dasteht, das Doppel-M in der Hand heiße Mattheus Müller. Und die blauen Augen werden noch durchsichtiger, und die Blondhaarwolke um den Kopf flammt, und die rotgetuschte Wange wird röter noch, und unser Religionslehrer sagte uns doch, das MM hieße, und nun nimmt es den Finger von der Anzeige weg und zeichnet das MM seiner Hand nach, das hieße, und das habe Gott in jede Menschenhand geschrieben: memento mori!
 Tapptapp schlug der Regen gegen das braune Holz, über der Wiese war's schleierfeucht wie Nebel, über die Straße trappelte naßhaarig eine Ziege, der das schwere Euter gegen die Beine schlug, und der blonde Haarkreis flackerte wie Strohgold. Klang ein Sektglas? Die klaren Tropfen am braunen Geländerholz waren wie Sektperlen, und das Tropfengeläut silberte zierlich wie eine Sterbeglocke. Ich betrachtete meine Hand und besah das MM und auch das Mädchen beschaute blauglasäugig das rosige Doppelzeichen. Es war elf Uhr vormittag, und jetzt schlug die Kirchturmuhr elfmal an, und der Ton ertrank fast in der Nässe, und die Berge waren wie platschvollgesaugte Schwämme, und wenn ein Riese sie jetzt ausdrückte, würde gelbes, moosgrünes, erdbraunes Waldwasser zu uns steigen und uns mitnehmen und mitschwemmen, wie der Bach hinterm Haus Hölzer und Blätter mitreißt.
 Nur Frösche und Molche waren in diesen Tagen zufrieden.

[1926]
 



Anhang:

S.267 Regen
In: Frankfurter Zeitung, Nr.596, 12.8.1926.
Ein Manuskript u.d.T. Um ein Spiel der Natur ist erhalten
(vgl. an Bode, 10.10.1958).

S.269 Auf dem Brenner
In: Frankfurter Zeitung, Nr. 346, 11.5.1926.
B.s erste Italienreise fand »im Auftrag der Frankfurter Zeitung im Mai 1926 statt; er wurde von Achmann begleitet (vgl. an Sendelbach, 19.5. 1926) und von Hans Lasser, der seine Reiseskizzen den Nachdrucken in der Magdeburgischen Zeitung beigab: »[...] italia. Ein schönes Land, wir wissens von anno dazumal, mit Lasser selig« (an Seyboth, 5.4.1961; Nachl. Seyboth).

S.271 Der Scaliger reitet
In: Frankfurter Zeitung, Nr.356, 15.5.1926.

S.273 Die Froschangler von Padua
Zusammen mit Abenteuerliches Florenz, Der Scaliger reitet, sowie dem folgenden Text u.d.T. Aus dem italienischen Skizzenbuch,
in: Magdeburgische Zeitung,
Beil. »Reiseblätter«, Nr.21, 22.5.1927.

S.274 Ferraresische Straße
Vgl. die vorhergehende Anm. - Zu der hier eingefügten Originalzeichnung Norditalienische Stadt von Hans Lasser
vgl. die Anm. zu S.277.

S.276 In der Po-Ebene
In: Frankfurter Zeitung, Nr.409, 4.6.1926.

S.277 Venedig
Zusammen mit Die Fackelhalter und Ravenna, sowie einer Originalzeichnung von Hans Lasser u.d.T. Italienische Arabesken
in: Magdeburgische Zeitung,
Beil. »Reiseblätter«, Nr.27, 3.7.1927.

S.279 Die Fackelhalter
In: Frankfurter Zeitung, Nr.372, 21.5.1926.

S.28o Ravenna
In: Frankfurter Zeitung, Nr.38o, 25.5.1926.

S.282 Gespräch
In: Frankfurter Zeitung, Nr.473, 28.6.ig26.
Die berühmte Darstellung der Schlacht bei San Romano von Paolo Uccello stammt von 1456/57.

S.284 Abenteuerliches Florenz
In: Frankfurter Zeitung, Nr.421, 9.6.1926.

S.286 Italienische Landschaft
In: Frankfurter Zeitung, Nr.433, 13.6.1926. -
Auch in: Magdeburgische Zeitung,
Beil. »Reiseblätter«, Nr.49, 8.12.1929
(mit der Originalzeichnung von Hans Lasser).

S.289 Salzburgiana
In: Vossische Zeitung, Nr.205, 2.9.1926.
Bei den Salzburger Festspielen, die vom 7. bis 29.August 1926 stattfanden, hatte Alexander Moissi die Titelrolle in Hugo von Hofmannsthals Jedermann übernommen; Max Reinhardt inszenierte die Turandot von Carlo Gozzi (in der Bearbeitung von Karl Vollmoeller). Dessen Pantomime Das Mirakel, in der die Madonna anstelle eines Ritters in den Kampf zieht, hatte im Vorjahr einen Sensationserfolg errungen - vor allem wegen des Auftritts von Diana Manners (d.i.: Lady Diana Cooper) als Madonna.

S.292 Ein bißchen Salzburg
In: Vossische Zeitung, Nr.214, 12.9.1926.
Am 21.August dirigierte Richard Strauss bei den Salzburger Festspielen seine Oper Ariadne auf Naxos.

S.293 Die Geschichte von der goldenen Frau im Lechtal
In: Die neue Linie, 193o, H.12, S.9-13 [August].-Die Passage S.302ff. »Es kam [...] surrend und schaumwerfend« u.d.T, Tiroler Dorf, in: Vossische Zeitung, Nr.238, 10.10.1926.-U.d.T. Pfingstnacht in Tirol auch in: Magdeburgische Zeitung, Nr.269, 19.5.1929. S.25.
Der deiktische Hinweis auf »die Innsbruckerin« dort läßt annehmen, daß diese Teile aus einer weitgehend ausgeführten Erzählung herausgelöst wurden; zum Erlebnishintergrund
vgl. auch S.552.
Die Passage S.307ff: u.d.T. »Dann kam [...] abgestorben und lebendig« Im Lechtal in: Vossische Zeitung, Nr.184, 9.8.1927.
Der erste Abschnitt ist wohl von D.H.Lawrences bekannter Erzählung Sun (1926/28) angeregt; daß B. Lawrence schätzte, ist bezeugt (vgl. Hohoff; S.43).