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Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Walter Schmitz
Band 1  Seite 316 bis 331
Kommentar Seite 650

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«



5 Erzählungen:
Tüchtige Diener
Anekdote (Das Pöcken)
Anekdote vom Major Xanders
Erbse
Die schöne Handschuhverkäuferin


 


Tüchtige Diener

In jenen Novembertagen neunzehnhundertundachtzehn, als die an der Front in verschlammten Löchern hockenden Soldaten der Befehl traf, das unrasierte Gesicht nach Osten zu drehen, nicht mehr nach Westen zu halten, wie sie es vier Jahre lang getan hatten, als die grauen Männer aus dem braunen Schlamm aufstanden und marschierten, marschierten, marschierten, der Heimat entgegen marschierten, immer noch unrasierten Gesichts, der Heimat entgegen, von der man erfuhr, daß sie sich auch erhoben hatte, nicht aus Schlammlöchern zwar, aber aus Trübsal und Müdigkeit und Verzweiflung, der Heimat entgegen, von der man sagen hörte, daß sie, immerhin rasiert, Freiheit und Gerechtigkeit und andere schöne Dinge zu einem so hohen Berg stapeln wolle, daß man damit bis zum Himmel käme und glattrasiert auf dem Gipfel sitzend dem lieben Gott ins bärtige Antlitz zu starren vermöchte, damals also liefen durch die Straßen der deutschen Städte viele junge Soldaten, aus den Krankenhäusern halb geheilt entlassen, aus Rekrutenlagern und Garnisonskompagnien, die trugen um den Hals ein flatterndes, meist ein buntes Tuch und die Hände in den Hosentaschen und die Mütze immer schief und verwegen auf dem Kopf. Niemand hätte gewagt, damals die Mütze gerade auf dem Kopf zu tragen, niemand.
 Ich war auch drei Jahre bei den Männern draußen gewesen, war unrasiert in Schlammlöchern gehockt wie sie, und Kugeln hatten gejault und eine hatte mich gefunden, nachdem sie sechsunddreißig Monate vergebens nach mir gesucht hatte, und so kam ich in die Heimat und war in der Heimat, als die Freiheit entbrannte. Die entbrannte hell und schön und wahrhaftig, sie wärmte auch etwas, es sah ganz so aus, als würde sie immer heftiger brennen und immer wohliger wärmen. Aber ein Flattertuch um den Kragen meines Feldrocks mochte ich doch nicht tragen, und die Mütze auch nicht schief aufsetzen, und wollte mir auch ganz und gar nicht die Achselstücke abreißen lassen von jungen Burschen, nicht von solchen, die Pulver gerochen hatten, und erst recht nicht von verdammten blassen Grünlingen. Also ging ich in bürgerlicher Kleidung und betrachtete mir die Soldaten der Freiheit, die schiefmützigen, und mancher hatte einen guten Blick, und vielleicht würde alles wieder gut werden und besser sogar noch, die Freiheit wärmte doch das Herz, ich spürte es, und ich versuchte über die schiefen Mützen hinwegzusehen und versuchte sogar nicht mißmutig, nein, wohlwollend auf die ekelhaften Kappen zu schauen. Und als ein Lastkraftwagen an mir vorbeiknatterte, der eine Fuhre von Freiheits-Soldaten geladen hatte, die rote Fahnen schwangen und schwarzbedruckte rote Zettel abwarfen und Schwung hatten und Begeisterung, waren gute Gesichter dabei, ausgezeichnete Gesichter, da freute ich mich fast. Und während ich noch recht froh war, kam mir so ein junger Kerl entgegen, zwanzig alt, zwanzigjung, schiefer die Mütze als irgendeiner, Hände tief in den Hosentaschen, und ich erkannte ihn, er war in meiner Kompagnie gewesen, war mit einem leichten Schuß davongekommen, war ein guter Soldat gewesen, ich hatte ihn sogar zum Eisernen Kreuz vorgeschlagen, und das bekam man an der Front nicht so leicht wie weiter hinten und daheim, der also kam mir entgegen, Freiheitsmann, lodernd, der gefiel mir, den mußte ich sprechen.
 Er betrug sich auch würdig und wußte nicht recht, wie er's machen sollte, seinem alten Leutnant gegenüber, und nahm für alle Fälle eine Hand aus der Hosentasche, das genügte wahrhaftig, damals, ich war ja auch in Zivil. Er ginge jetzt in eine Versammlung, sagte er mir, da müsse man hin, überhaupt müsse man auf der Hut sein, tätig sein, Schneid haben, das gefiel mir, und er lobte die hohe Löhnung und das Essen und die neugewonnenen Rechte. Ein prächtiger Kerl, dachte ich, und die Sache der Freiheit hatte es noch leichter bei mir, da solche wackeren Burschen für sie eintraten. Nun, ich fragte ihn, wie er sich denn sein weiteres Leben vorstelle, was er plane, in seinem Beruf, und so? Der Freiheitsmann steckte auch die Hand, die noch in der Luft war, wieder in die Tasche, sie kam sich zu unbehaglich vor so im Freien, ich verstand das sehr wohl und dann sagte er, am fünfzehnten Dezember müsse er in seiner Fachschule antreten, angemeldet sei er schon. Bravo, sagte ich, eine gute fachliche Ausbildung, nicht wahr, sei was wert und was für eine Schule denn das sei. Und ohne jede Verlegenheit, und verlegen war bloß ich und sah unruhig weg, klar und zuversichtlich sagte er, es sei eine Dienerfachschule in Leipzig, in die er bald eintrete, um sich zu einem tüchtigen Diener ausbilden zu lassen, bei Tisch auftragen zu lernen und dergleichen, und das sei ein Beruf, der seinen Mann gut ernähre. Und ohne Verlegenheit ging der Freiheits-Soldat in seine Versammlung und ließ mich zurück, und der Gedanke an die Freiheit wärmte auf einmal nicht mehr so recht, und als wieder ein so Schiefbemützter vorbeikam, mußte ich die Lippen fest zusammenpressen, um ihm nicht zuzuschreien, er möge gefälligst die Kopfbedeckung grad richten, ganz grad, wie sich das schicke.
 Inzwischen ist ja wieder mancher Tag und mancher Monat und manches Jahr verflossen, schlechte Tage und weniger schlechte und sogar gute, und mit der Freiheit ist das nicht so einfach, da kann man verschiedener Meinung sein, das habe ich gelernt inzwischen, und es kann wohl auch sein, daß sich Diener und Dienerschulen mit ihr vertragen, mit der wärmenden, strahlenden Freiheit, es mag wohl sein; aber damals, damals schienen mir schiefe Mützen nicht erlaubt für Lakaien, schiefe Mützen nicht und nicht flatternde Schlipse, schienen mir nicht erlaubt zu sein, mir, der doch kein lodernder Freiheits-Soldat war, mir, der immer ein bißchen rückwärts schielt, nicht nur vorwärts, vorwärts sieht, wie sich das wohl geziemte, damals und heut.

[1927]

 
 



Anekdote

Mir erzählte ein Anstaltsarzt die folgende Begebenheit, die wahr ist:
In ein Krankenhaus wurde ein vielleicht sechzigjähriger Mann eingeliefert, ein stämmiger Kerl, wie ein Baum, aber nun auch gefällt wie ein Baum, vom Schlag gerührt, blaurot, gelähmt, bewußtlos. Wenig Hoffnung, sagten die Ärzte, wenig Aussicht, ihn noch einmal, wenn auch nur für kurz, wenn auch nur für eine Viertelstunde ins Leben zurückzubringen.
 Der Mann lag still in seinem eisernen Bett, aber seine Verwandten summten durchs Zimmer, brummten auf dem Vorplatz wie ein Hummelsschwarm. Sie bestürmten den Arzt, alles aufzubieten, die entlegensten und schärfsten Mittel der Heilkunde anzuwenden, damit der Bruder, der Onkel, der Vetter noch einmal mit sehendem Auge ins Leben schaue. Und sie warteten, begierig, gierig wie Hummeln auf Honig, darauf.
 Besorgte Verwandte, sehr besorgte, wollten Abschied nehmen von ihm, ihm noch einmal die Hand drücken, wollten das?
 »Fünf Minuten noch«, sagte die dickste der Hummeln, schwarz, im Gehrock, der Wortführer der Schar, »fünf Minuten noch muß er ins Bewußtsein zurück, fünf Minuten noch, damit er das hier unterschreibt, und das ist ein Testamentsentwurf. Nur der Name fehlt, nur sein Namenszug, und der muß hier her! «
 Man gab dem Mann Kampfer, man tat, was man konnte, der Mann regte sich, der Mann schlug die Augen auf, man hielt ihm das Papier hin, das schaute er gar nicht an, winkte, denn reden konnte seine gelähmte Zunge nicht, winkte, man solle ihm die Schiefertafel geben und den Griffel, die neben ihm auf dem Tischchen lagen. Man gab sie ihm und er schrieb.
 Er schrieb: »Das Pöcken«. Vielleicht war er nie sicher in der Rechtschreibung gewesen, der Mann, vielleicht war's nur sein Zustand, er schrieb jedenfalls »Pöcken« und meinte »Becken«, wie die Krankenschwester gleich erriet, meinte damit die Bettschüssel, die jeder kennt, der einmal hilflos in einem Krankenhaus, in einer eisernen Krankenbettstelle lag.
 Sonst schrieb er nichts mehr, der Mann, auch nicht mehr seinen Namen auf den gewünschten Platz auf dem vorbereiteten Papier, denn er starb gleich darauf, aber war das, was er zu tun wünschte, und auch noch tat, nicht Antwort genug dem zudringlichen Gebrumm der Schmeißfliegen?
 Die flogen auch betäubt surrend weg und davon, und der stumme Witzbold lag nun still und unbelästigt im ewigen Schatten.

[1927]



 
 

Anekdote vom Major Xanders

Es war im Kriegsjahr 1915, in Russisch-Polen, und unsere Reiterei tat noch nicht rühmlichen Fußdienst in verschlammten Schützengräben und weniger rühmlichen in Ortskommandanturen und Bahnhofswachen, sondern saß noch stramm zu Pferde und focht gegen Kosaken und Baschkiren. Focht und hungerte und ritt, aß kaltes, fettes Büchsenfleisch und schlief auf Stroh in Scheunen, schlief auf Stroh unter freiem Himmel, schlief auf trockenem Stroh unterm klaren Himmel, schlief auf nassem Stroh unterm Regenhimmel, und focht und ritt unter jedem Himmel, und dazwischen fielen auch einmal ein paar Ruhetage, und da wurde nicht nur in Betten geschlafen und gebratenes Fleisch geschlemmt, auch geputzt und gestriegelt und gescheuert und exerziert, exerziert, exerziert, und an einem kühlen Märzmorgen, die Sonne stand rund und klar über den Wiesen, besichtigte der Herr Major und Regimentskommandeur Xanders eine Schwadron.
 Er war nicht recht zufrieden mit dem Sitz der Leute, der junge Nachschub baumelte gar zu zivilistisch auf den Gäulen. So hatte er sich schon recht in Wut geredet, sein rundes Gesicht war rot und röter als die Sonne über ihm, als eben auf der Straße, neben der die Eskadron hielt, der junge, katholische Feldgeistliche, ein brauner Kapuzinermönch, getrabt kam. Der Herr saß mit vortrefflicher Haltung im Sattel, zog grüßend sein kaffeebraunes Käppchen, und der wütige Major, dem geistlichen Reiter mit der Hand zuwinkend, brüllte die Eskadron an: »Da seht einmal hin, wie der Herr Divisionsgeistliche sitzt! Ihr könnt euch ein Beispiel dran nehmen. Tadellos!« Er musterte den Herrn in der Kutte. »Tadellos! Nur die Absätze ein bißchen weiter auswärts und abwärts! Und die Ellbogen besser an den Leib! Noch besser! Die Ellbogen an den Leib, hab' ich gesagt! Ob Sie die Ellbogen an den Leib nehmen wollen, verfluchtes Donnerwetter noch einmal!«
 Und unversehens, und er hatte wohl ganz darauf vergessen, daß da der Mönch vor ihm auf dem tänzelnden Gaul saß und nicht einer seiner Rekruten, fing der giftig gewordene Regimentschef an, nun nicht mehr rot im Gesicht wie die Sonne über ihm, nun bläulich im Gesicht wie die voreilige blaue Blume dort im Märzengras, fing an" und hörte nicht auf, den Kapuziner mit tausend Flüchen zu belegen, bis er lächelte, wieder sein Käppchen schwang, glatt und sicher wegtrabte, in den Märzmorgen hinein, in den kühlen, grünen, und die Eskadron dem Major ins Gesicht grinste, ins bläulich-puterrote. Der lachte nun auch, befahl dem Eskadronführer »Einrücken!« und galoppierte dem Kuttenträger nach. Und der Oberleutnant Wodringen sagte zum Fähnrich: »Schauen Sie, wie ihm der Alte nachprescht!«
 Sie sahen, daß der Major den braunen Kapuziner auf dem braunen Gaul erreicht hatte, aber hören konnten sie natürlich nicht, daß der Tonsurierte dem sich entschuldigenden Offizier antwortete: » Sicher ist mein Sitz nicht einwandfrei. Aber setzen Sie sich einmal in einen Beichtstuhl, dann will ich an Ihnen herumnörgeln!« Der Major erschrak sehr bei dieser Vorstellung, und in der nächsten Kantine tranken sie zusammen einen Schnaps, der mönchische Reiter und der Uniformierte.

[1927]



 


 

Erbse

An der Stimme, ja, das war im August 19 16, und von der Stimme, die ein Fluß ist, sahen wir nichts, daß sie etwas Wässeriges, Fließendes sei, das wußten wir nur von der Karte, wir sahen nur Wiesen, als wir hinkamen, grüne Wiesen, üppige, fette, feuchte (es mußte doch wohl Wasser in der Nähe sein) und später dann wurden aus den Wiesen gelbe, braune Äcker mit vielen Granatlöchern (nicht wahr, der Krieg, wie es so heißt, ackerte) an der Stimme also, im August 1916, war's heiß, heiß, heiß. Ein blauer Himmel, eine gelbe Sonne, ein gelber Lehmschützengraben, und der Krieg, wie der war, das wissen einige von uns (die aber noch nicht begonnen haben, davon zu reden) - an der Stimme also hatten wir, eingesetzt rechts neben dem Pierre-Vaast-Wald, dem Zahnstocherwald, an der Stimme, da hatten wir viele gute Burschen verloren und auch unsern Stabsarzt, einen frechen, kleinen Kerl. Tot war er nicht, der Gelbhäutige, Gottseidank, er ließ nur seine halbe Hand dort und kurierte sie in einem deutschen Lazarett, während wir zur Erholung in ein Dorf kamen, in ein friedliches Dorf, ganz wo anders, weit weg von der Stimme. Wir sprachen kaum mehr von ihr, wir hatten unsere geheimen Gründe dazu. Im Dorf, im friedlichen, unter einem friedlichen blauen Himmel und einer sanfteidottergelben Sonne (die andere, die krachend-böse, stand über der Stimme, immer noch), in dem Dorf bekamen wir Nachschub und mit dem Nachschub auch einen neuen Stabsarzt.
 Und der neue Stabsarzt, ein langaufgeschossener, wortkarger und trockener Herr aus Thüringen, hieß Erbse. Stabsarzt Erbse. Der Name kam uns jungen Leutnants sehr lustig vor, und in vorgerückter Stunde, im Kasino, versuchten wir es wohl auch, ihn damit zu frozzeln. Aber der trockene Herr aus Thüringen verstand Spaß. Er bestellte eine Runde Schnaps und sagte: »Erbse is drollig, nich?
Aber wissen Sie, was für eine Geborene meine Frau ist? Horchen Sie: Eine geborene Linse.« Wir lachten. Er, Erbse, verheiratet mit der geborenen Linse, lachte mit. Dann sprach er würdig: »Achtung! Es geht weiter! Meine Schwester ist mit einem Pastor verheiratet. Mit wem? Mit dem Pastor Bohne!« Wir grinsten. Er grinste mit, bestellte eine neue Runde Schnaps und rief. »Prost das ganze Gemiese!« »Hurrah!« schrien wir. Es war ein vergnügter Abend. Hinten, im friedlichen Dorf, im Kasino, weit weg von der Somme, die, wenn die Karte recht hatte, ein Fluß war, für uns nur ein gelber Schützengraben in einer ehemaligen Wiese, mit keiner Blume auf dieser Wiese, es sei denn, man nehme die rotgrauen Feuertulpen der explodierenden, kleinkalibrigen Granaten dafür.
 Übrigens bekam der Thüringer später einen Lungenschuß, auf eine ganz dumme Weise, aber das gehört nicht hierher, bekam einen Schuß, der ihn kriegsdienstuntauglich machte, und für ihn schickten sie uns unseren Gelbhäutigen wieder, der sich freiwillig gemeldet hatte, mit seiner verkorksten Hand, drei Finger waren weg, dort im PierreVaastWald, heut wachsen Brombeeren drüber, aber seine Frechheit war geblieben.
 Man konnte so gut mit ihm über Stendhal reden, aber zur Sache, als er eintraf, lagen wir in Flandern, doch wenn wir die Nase zum Graben hinausstreckten, wahrhaftig, da war's wie an der Somme, und keiner von uns, auch der Klügste nicht, auch der Doktor nicht, konnte einen Unterschied herauskriegen.
 Und wenn's des Nachts ruhig war, der Mond zwischen den Sternen ging wie in Afrika und Australien und überall – doch sprechen wir nicht davon, hören wir auf!

[1927]


 
 


Kommentar
 

Die schöne Handschuhverkäuferin

Die Frau, von der hier die Rede sein wird, die Frau, deren Augen kastanienrund waren, ein wenig tiefliegend und braun, braun wie ihr Haar, wie ihr dickes und üppiges und langes Haar, diese Frau trug den Namen Lina Esprester und war dreiundzwanzig Jahre alt, als sie zu dem Herrn des Hauses ging, zu dem Herrn des versteckten Hauses unten am Strom, und ihm ihre Dienste anbot. Ohne Befangenheit, und selber erstaunt, daß sie nicht befangen war, löste sie die Haken ihres Kleides, stand wie Eva einst da und sah ihr Bild in vielen Spiegeln, in trüben und glänzenden und goldgerahmten Spiegeln aufgefangen. Weil sie gefiel, und sie gefiel genügend und mehr als genügend, wurde sie in die Schar der Mädchen aufgenommen.
Die Tage, die vielen, vielen Tage, die nun kamen, verschlief sie, erhob sich erst am späten Nachmittag, und im Zimmer mit den roten Plüschmöbeln verbrachte sie die Abende. Das goldfarbene Kleid ließ ihre wirklich schön geformten Schultern frei, und wenn sie sich mit den schmalen Händen das hochgesteckte Haar zurechtschob, denn die Frauen jener Tage trugen das Haar noch nicht wie Knaben kurz geschnitten, flammte verführerisch der Flaum ihrer Achselhöhlen.
Mit Alma und den andern Mädchen kam sie gut aus. Wenn es Sekt gab, trank sie mäßig und sparte mit den Zigaretten. Mit kleiner Stimme sang sie Lieder zur Laute, schlichte und ein wenig rührselige Lieder, aber auch freche sang sie, sogar abscheuliche, wenn man es verlangte. Die schlimmen Worte sprangen von ihren Lippen, und sie lächelte kindlich.
Wenn ein Gast mit ihr nach oben zu gehen wünschte, schritt sie ihm rasch voraus. Der erste Kunde, mit dem sie den Gang antrat, war ein ruhiger Herr mit grauen Schläfenhaaren, der nicht sehr erstaunt war, als sie zwar seinen Zwanzigmarkschein mit gelassener Hand in ihr schwarzes Ledertäschchen senkte, aber ihn dann mit leiser Stimme bat, nichts zu fordern, was ihre Ehre verletzen würde. Er blieb eine halbe Stunde bei ihr, plauderte von diesem und jenem und ging wieder voll Freundlichkeit.
Der Arbeiter dann, dessen zerknitterter Schein in ihr Täschchen wanderte, brauste zuerst auf und sprach von Betrug, als sie sich ihm verweigerte. Auch ihn entwaffnete ihre Sanftmut, und er verließ sie mit dem Gefühl, an einer Ungehörigkeit verhindert worden zu sein.
So gelang es ihr mit allen. Von jedem nahm sie Geld, und keinem gewährte sie mehr als den Glanz ihrer kastanienrunden, ein wenig, ein winziges wenig tiefliegenden Augen und ein Streicheln mit leichter Hand. Nun darf man nicht sagen, daß es sonderbar um das Haus am Strom bestellt gewesen sein muß, daß der Besitzer und Herr nichts von dem seltsamen Tun Linas erfuhr. Was heißt das auch? Er bekam sein Geld, er bekam das Vereinbarte, und solange er das bekam, das Vereinbarte, kümmerte ihn anderes nicht.
Zwar, es war verwunderlich, daß die Männer sich fügten, ohne Lärm zu schlagen. Aber es war so. Und wenn sie wiederkamen, wandten sie sich freilich an andre Mädchen, aber nie verrieten sie mit einem Ton, wie es ihnen mit ihr ergangen war.
Klingt das wie eine Legende? Ist das so wie im Märchen? Aber Männer können gut sein, können anständig sein – und hier, in dieser Geschichte, waren sie gut, waren sie anständig, und wahrscheinlich billigten sie das Verhalten Linas, wahrscheinlich mißbilligten sie ihr, der Männer, eigenes Tun in dem versteckten Haus am Strom, und wahrscheinlich auch fanden sie, daß Linas Handlungsweise die beste, die gebührende Antwort war auf ihre, der Männer, schmähliche Zumutung – kurz, wie dem auch sei, es ließe sich darüber noch viel sagen, sie schwiegen unverbrüchlich.
Immer an den Samstagabenden erschien ein schwarzer, kleiner Herr, mit dem sie die Nacht verbrachte. Es war ihr Bräutigam, ein Buchdruckergehilfe, der sich mit dem Plan trug, einen Papierladen zu eröffnen. Die dazu notwendige kleine Summe rasch zu beschaffen, war Lina in das Haus eingetreten. Er glaubte ihr, daß sie sich nichts vergab, und seine Neigung half ihr, die Unannehmlichkeiten ihrer ungewöhnlichen Lage mit Anstand zu ertragen.
Einmal kam ein junger Mensch aus guter Familie, kaum siebzehn Jahre alt, ein Schüler noch, wie sich zeigte, der vor Begierde zitterte wie der Pfeil vor dem Flug. Seine Teilnahme galt unverkennbar Linas schönen Schultern. Sie gingen nach oben, Lina voran, und sie fühlte, wie sein Wille an ihren Kleidern riß. Er legte das Geld auf den Tisch, und seine heißen Augen brannten ihr Löcher in das Fleisch. Sie begann das alte Spiel und bat ihn, sie zu schonen. Die Qual des ungelöschten Verlangens warf ihn zu Boden. Er drückte das Gesicht fest gegen den Teppich, fest, als könne er es dort wie in Sand einwühlen. Ihre tröstenden Worte erreichten ihn nicht. Da zog sie sich aus und nahm ihn mütterlich an die Brust. Seine wilden Tränen näßten ihren Leib, der ihn schmerzte und beglückte. Aber sie gab sich ihm nicht, obwohl das Mitleid sie weich und unsicher gemacht hatte.
Als er gegangen war, überkam zum erstenmal und mit zwingender Heftigkeit sie das Gefühl des Unrechts, des vielfach und vorsätzlich zugefügten Unrechts, das sie an jedem Tage neu beging. Sogar zu denken wagte sie, aber sie vertrieb den Gedanken schleunig wieder, daß es, von einer anderen Seite her betrachtet, und daß jedes Ding zwei Seiten hat, sie wußte es lange, daß von dieser anderen Seite her betrachtet, daß es da menschlicher, edler schlechthin, daß es ehrlicher gewesen wäre, sich den Männern nicht zu entziehen, wenn sie schon das Geld dieser Männer nahm.
Nun, sie würde nicht mehr lange im Hause bleiben. Die Summe, die zu ersparen sie sich vorgenommen hatte, war voll. Sie würde heiraten, ihren Buchdrucker heiraten, den Papierhandel beginnen, in einer anderen Stadt, versteht sich, und in einer glücklichen Ehe bald alle Abscheulichkeiten vergessen, denen sie so lange ausgesetzt gewesen war.
Ich weiß wohl, daß das bisher Erzählte sehr unwahrscheinlich klingt. Fast wie eine Legende, fast wie im Märchen. Zu meiner Entschuldigung könnte ich anführen, daß wir es hier ja auch nur mit einer erfundenen Geschichte zu tun haben, mit einer durchaus und ganz und gar erfundenen Geschichte. Auch ich glaube nicht, daß es eine Frau gegeben hat, die aus freiem Entschluß so handelte und die Stärke hatte, so zu handeln. Auch ich glaube nicht, daß es je so eine Frau geben wird. Aber es ist angenehm, es sich vorzustellen.
Sie machten ihren Papierladen auf, Lina und ihr schwarzhaariger Buchdrucker, und hatten Glück mit ihm. Das Geschäft ging gut, und alles wäre in schönster Ordnung gewesen, wenn Lina nicht nach einiger Zeit hätte merken müssen, daß ihr Mann ein sonderbares Benehmen ihr gegenüber zur Schau trug. War er anfangs die liebevollste Zärtlichkeit selbst, wurde er bald scheu, wortkarg, ja mürrisch, geriet in Wut, wenn sie ein falsches Wort sagte, und schüttete auf den weißen Fleck einer freundlichen Stunde, die immer seltner kam, gleich wieder die Tinte seiner galligen Laune. Er quälte sie wegen jeder Kleinigkeit, mißtraute jedem ihrer Schritte und war ein zorniger Kläger, wenn ihre Unschuld klar zutage lag. Lina, die keine Ursache finden konnte für das Verhalten ihres Mannes, weinte lange Stunden und war sanftmütiger nur immer bemüht, ihn zu versöhnen, je unschuldiger sie sich fühlte. Bis sie erkannte, daß Eifersucht ihren Mann zermarterte, wilde und schreckliche Eifersucht, die durch nichts zu erlösen war, weil sie aus Vergangenem Nahrung und Triebkraft sich holte. Das halbe Jahr, das sie in jenem Haus zugebracht hatte, jeder Tag und jede Stunde dieses halben Jahres lag für ihn hinter Schleiern, die Fürchterliches verhüllten. Seine Verblendung ließ ihn Bilder sehen, die ihm die Augäpfel aus den Höhlen trieben. Er raste, wenn er an Umarmungen dachte, die ihn schändeten, an ein Lächeln ihres Mundes, das ihn zum Narren machte. Er rieb sich auf, er warf sich gegen Steinwände und zerbrach sich die Knochen. Er konnte nicht mehr Herr über sich werden. Er sah nur mehr höhnische Masken und konnte kein Gesicht darunter erkennen. Das Gift, das er sich, unbedacht und nachgiebig, selbst eingeflößt hatte, zerfraß ihn. Der Teufel ließ ihn nicht mehr los. Der Kampf war ungleich, und er mußte unterliegen.
Als er sie schlug und wieder schlug und das böse Wort »Hure« sagte, verließ sie ihn. Sie zerbrach nicht. Sie war wohl von der Art, die nicht hart genug ist, um zerbrochen werden zu können, die sich nur bückt und beugt und duldet. Der Gedanke ging ihr durch den Sinn, wie früher schon einmal, das Opfer jenes halben Jahres sei vergeblich gewesen, weil sie sich nicht selbst dargebracht hatte. Aber sie hätte sich ja gar nicht selber darbringen können, ihre Wesensart hätte das nicht erlaubt (das hätte ja alles nur noch schlimmer gemacht!), und so hatte sie andre gezwungen, zu opfern, für sie zu opfern, und nun stellte sich heraus, daß auch das keine guten Folgen hatte. So grübelte sie und sah den jungen Menschen wieder verkrampft am Boden liegen. So dachte sie, und es war so richtig gedacht, als es falsch gedacht war. Denn die Männer damals im versteckten Haus am Donauufer hatten ihr ja nichts übelgenommen. Aber hatte sie darum weniger unrecht getan? Wieder lag der junge Mensch wie ein Fisch zuckend auf dem Teppich. Der vielleicht, der hatte es übelgenommen. So grübelte sie, aber nur kurz, lange über etwas nachzugrübeln, war sie nicht geschaffen. Und was auch, sie mußte leben, essen und trinken und schlafen und also Arbeit suchen, um leben zu können, und so suchte sie Arbeit und fand eine Anstellung in der Handschuhabteilung eines Warenhauses der Landeshauptstadt.
Und als einmal, ein halbes Jahr nach ihrer Flucht, an einem braunen Septembernachmittag vor ihrem Verkaufspult eben der junge Mann stand, an dem sie damals im Haus am Strom nicht wie eine Bajadere, sondern wie eine blasse Nonne getan hatte – nun trug er eine Studentenmütze– schlug sie ihm ein Stelldichein nicht ab.
Sie ging auch zu dem Stelldichein, an einem Sonntagvormittag, und trug ein helles Kleid, ein hellvergißmeinnichtblaues Kleid, das zu bügeln und glatt und straffrauschend zu machen sie den ganzen Samstagabend verwandt hatte. Und als sie am Sonntagabend ihr kleines Zimmer wieder betrat und einen Tag hinter sich hatte, voll Sonne, mildheißer Septembersonne, und voll von Geruch von Heidekraut und Fichtenharz, und sich im Spiegel besah, und sah, daß das helle Kleid, das hellvergißmeinnichtblaue Kleid, das glatt zu bügeln sie den ganzen Samstagabend verwandt hatte, verdrückt war, verfältelt, verrunzelt und waldmüde an ihr hing, da lächelte sie nur leise, ganz leise und ging schlafen. Sie sah ihn dann, den Studenten, noch öfter und sah ihn noch oft und lehnte den braunäugigen, braunhaarigen Kopf, den Kopf einer nun Fünfundzwanzigjährigen, an seine Schulter, an die Schulter des nun Neunzehnjährigen und wurde seine Freundin und blieb ein halbes Jahr lang seine Freundin, seine zärtliche Winterfreundin.
Und als der Winter verging und das Frühjahr kam, mußte der Freund, dem Wunsch seiner Eltern sich fügend, nach Berlin übersiedeln. Sie blieb im Warenhaus und verkaufte weiterhin ihre Handschuhe, und später söhnte sie sich auch mit ihrem Mann wieder aus, der inzwischen das Papiergeschäft hatte aufgeben müssen, vielleicht weil sie ihm fehlte, vielleicht aus anderen Gründen, und nun wieder hinter einer Setzmaschine saß, hinter der Setzmaschine der hauptstädtischen Zeitung.
Sie lebten, ein gefrorenes Ehepaar, still zusammen. Ihre Stellung verließ Lina nicht mehr. Die Demut ihrer Bewegungen, der Glanz ihres braunen Haares (sie ließ es sich kurz schneiden, später, als das Sitte wurde) und der ruhige Blick ihrer kastanienrunden, ein wenig tiefliegenden Augen lockten viele Kunden an und in der ganzen Stadt war sie bekannt unter dem Namen der schönen Handschuhverkäuferin.

[1927]