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Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Walter Schmitz
Band 1  Seite 293 bis 315
Kommentar Seite 650
Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«

3 Erzählungen:
Winterlich
Zwölf Raben
Indianer


Winterlich

Der Weg, den der Knecht nahm, duckte sich, als zaudere er die flache Höhe zu erklimmen. Er wand sich und schlängelte sich, machte eine lächerliche und unberechtigte Schleife, aber besann sich dann und lief schief und schnell und verwegen empor. In der Ferne war Wald. Der war wie ein dunkles Tier mit vielen schwarzen Beinen, das waren die Stämme, und einem weißen Fell, das war der Schnee, der auf den Ästen lag. Ein langgestreckter Schneefuchswald trabte eilig am Horizont, gebogen wie der. Mit dem Kopf war das Waldtier schon drüben, auf der anderen Seite, aber der Leib und der Schwanz waren noch zu sehen, geschmeidig, gekrümmt und in scharfer Gangart. Als der Knecht die Höhe erstiegen hatte - der Weg konnte nicht entkommen, alle Kniffe und Windungen halfen ihm nicht, er mußte hinauf, und nun war er droben -, drehte sich schnell von rechtsherein ein Dorf, wie auf einer Scheibe, in der Mitte der Kirchturm, um ihn Häuser, und die Drehscheibe drehte sich so schnell, daß der Schwung die Häuser dicht an die Kirche heranwarf, und da klebten sie nun zusammen. Die Drehung hörte knapp noch auf; denn noch ein Riß und ein Ruck und Dorf und Kirche und Häuser wären flach abgeschleudert wie ein Papierteller in die Luft hineingetaucht, schräg und pfeifend und vielleicht hinterm Horizont in einen Wald geplumpst, Äste brechend, schwer atmend, maßlos bestürzt. Nun, das war nicht eingetreten, das Dorf lag ruhig, und viele Rauchsäulen, weiß und zitternd, knäulten sich in die Höhe. An einem Tümpel ging der Knecht vorbei, der war am Rande dünn zugefroren, dann kam schwarzes Wasser, wie dunkler Schnaps, ölig glänzend, sicher schliefen da Frösche. Im Sommer gab es da wohl auch Schlangen und viele Stechmücken und distlige Gewächse und Gestrüpp und Brombeerstauden. Aber jetzt war Winter, die Frösche schliefen, und die graue Winterluft schwieg.

[1926]


Zwölf Raben

Die Straße war hart gefroren. Am Nachmittag, so um fünf Uhr herum, war es kalt geworden, ein scharfer Wind war gegangen, der hatte sich jetzt wieder gelegt, es war ganz ruhig, aber die Kälte war geblieben. Die Erdspuren der Wagen, der Ochsenwagen natürlich, es gab im ganzen Dorf keine Pferde, glaube ich, nur Ochsen und Kühe und Ziegen; die Radspuren der Ochsenwagen also waren kantig gekerbt und wie hartgeschnittene, länglichrunde Muscheln waren die erstarrten Fußspuren der Zugochsen. Der Himmel war schwarzblau und glänzend, alle Sterne standen daran, keiner fehlte, sie flimmerten eifrig über dem Schwung der Preglergruppe.
 Der Bach neben der Straße war gefroren, auch erst seit ein paar Stunden. Mittags und nachmittags noch war es tauig gewesen, und da war der Bach noch langweilig geflossen, grüngrauschillernd. Aber jetzt war er wahrhaftig zugefroren, eine grauweiße, blasige Eisdecke trug er, darunter floß er wahrscheinlich noch, aber das sah man nicht. Wasserpflanzen, die am Rand wuchsen, und Schilfstengel und so grünes Zeug, das aus dem Wasser emporgetaucht war, zahlreich, das erhob sich nun aus der Eisdecke, komisch genug, das Eis war fruchtbar und grünte.
 Die meisten der Fenster in den meisten der Häuser waren schon dunkel, in einigen aber sah man noch Licht. Ich ging schnell und war am Dorfrand. Die beschneiten Talwiesen lagen vor mir, auch der Schnee auf ihnen war frosterstarrt, und rechts der Straße der Wald stieg blaugrün und weißbebuscht herab und hauchte kühl her.
 Was jetzt der Bock wohl trieb, den wir gestern hinterm Haus, dicht an der Stallwand, belauscht und belauert hatten? Er lag wohl unter einer alten Schirmfichte, und sein Atem wölkte grau vor dem feuchtschwarzen Maul, und die Augen sahen ruhig vor sich hin. Wer weiß es? Oder er scharrte die leichte Schneedecke weg, um das braune Gras zu fressen, wer weiß es?
 Hinter mir lag das Dorf, der spitze Kirchturm ging hoch in den mondlosen Himmel hinauf. Auf der Wiese, zehn Meter von der Straße, stand eine zaundürre Baumgruppe. Es waren zwei Bäume mit dünnen Stämmen und mit verzweifelt gespreizten nackten Ästen. Die Bäume froren, das war ersichtlich. Ja, ja, im Frühjahr trugen sie Blüten und im Sommer Laub und im Herbst Früchte, aber jetzt war Winter, es war der einunddreißigste Dezember, und kurz vor Mitternacht, und da trugen sie schwarzes Lebendiges, Raben, die Glanzfräcke waren spitz, man sah es deutlich im Schneelicht.
 Morgen war der erste Januar, und ein neues Jahr würde da sein, schon in fünf Minuten ein neues Jahr da sein, die Sterne wußten nichts davon und flimmerten gleichmütig, der Wind hatte es vielleicht gewußt und war kalt und schneidend gekommen am Nachmittag (jetzt hatte er sich schon längst wieder gelegt) und hatte den sauberen und klaren Frost gebracht, daß das Jahr gut begänne, nicht in Dreck und Morast, obwohl das vielleicht auch richtig und richtiger gewesen wäre, denn Sumpf und Morast und Feuchte ist geburtsgut.
 Der Wind war gekommen und die Kälte, und der Wind war gegangen, und die Kälte war geblieben, und jetzt mußte bald das neue Jahr sich erheben. Die schwarzen Burschen auf den dürren Ästen rührten sich nicht, und ich rührte mich nicht, sie nicht zu verscheuchen, denn sie sind scheu, die Dunkelvögel, ich hatte es oft erfahren.
 Da, lief nicht ein Zittern über den Himmel, flimmerten nicht die vollzähligen Sterne stärker, glänzte der Spitzturm nicht klarer und eisgrüner? Das war wohl Täuschung, aber das war keine Täuschung, daß jetzt die Kirchenuhr anschlug, klingend. Der erste Schlag, und schon flog auch der erste Rabe auf, und der zweite Schlag, und der zweite rauschte auf, und so bei jedem Schlag ein Vogel, und es waren zwölf Schläge, und es waren genau zwölf Vögel, und beim zwölften Schlag war der zwölfte und letzte Vogel aufund fortgeflogen, und der Kirchturm war wieder stumm, und die beiden dürren Bäume waren leer, und die zwölf Raben hockten tiefer in der Wiese, stumm, schwarz verstreut, die Vogelschar, die scheue, und jetzt wieder regungslos.
 Das neue Jahr war da, und Raben sollen weise sein, und ich bin nicht weise, und Raben sind leicht klüger als ich. Dort hockte sie, die schwarze Gemeinschaft, und ich stand allein hier, und mir gegenüber das neue Jahr, das drängte heran, mächtig, mit erschreckenden Kaltglanzaugen, einem unmäßigen Leib und mit vielen Spinnenfüßen, mit dreihundertundfünfundsechzig Spinn[en]fußen, mit einem Dritteltausend Zappelbeinen, abscheulichen, und ich allein und die klugen Raben immerhin zu Zwölfen. Und unterm gleichmütigen Himmel und unter den flimmernden Sternen ging ich ins Dorf zurück und zum Wirtshaus zurück und in die warme Wirtsstube hinein und trank und sang mit den andern, mit den Männern und den Frauen.
 Ich zählte, es waren elf, fünf Männer und sechs Frauen, und ich war der zwölfte, und nun waren wir auch ein Dutzend und sprachen rabenklug und vogelweise. Und die hölzernen Bänke, auf denen wir vor den hölzernen Tischen saßen, waren unsere Bäume, unsere winterdürren Bäume. Deutlich sah man die Maserung der blankgehobelten Tischplatten, bräunlichrote Linien im Weißgelben, das war wie eingetrocknetes Blut, und mit unsern gekrümmten Zeigefingern hackten wir auf die Adern, wie mit Schnäbeln, und tranken doch nur roten Wein.
 Um drei Uhr rief einer: »Ein Komet!« Wir prasselten durch den Hausgang ins Freie, lärmend wie ein Vogelgeschwader, und staunten den Himmel an. Es war kein Komet, aber ein großer Stern glänzte nah und stark wie nie, und ihn staunten wir an.
 Noch später, beim Morgengrauen, da waren wir Furchtsamen schon längst nicht mehr zu Zwölfen, trauten wir uns hinaus in die junge Frische, und uns geschah nichts.

[1927]


Indianer

Als Fünfzehnjähriger schwärmte ich für die Indianer mit einer feurigen Hingabe, über die ich auch heute nicht lächeln kann. Ich schuf mir in ihnen Wesen einer höheren Art, edler, klüger und von mehr Größe als die Männer um mich, deren Erbärmlichkeit früh zu durchschauen mir nicht schwer fallen konnte. Das rothäutige Geschlecht, mit den fließenden Wassern, den ziehenden Wolken und dem Rauschen der Bäume brüderlich vertraut, schien mir höchster Verehrung würdig. Ich träumte davon, zwischen bronzenen Häuptlingen über dunkelnde Savannen in den Abend zu reiten. Ich saß unter überhängenden Felsen an Lagerfeuern, während unendlicher Regen aus niederen Wolken strömte. Über wogenden Büffelherden zuckten unsere Lassos und zwangen den Stier in die Knie. Beim Morgengrauen durchschwammen wir blaufunkelnde Flüsse und der hohe Mittag fand uns auf der Fährte des Felsenpumas. Ich liebte die roten Männer, und die Tränen, die ich vergoß, nicht als Sioux geboren zu sein, waren bitterer als jene, die ich weinte, als mich das erste falsche Mädchen verließ.
 Die Sehnsucht nach dem erdnäheren Dasein der Waldgesellen verflüchtigte sich, als ich mit zwanzig Jahren die Hände gepuderter Schauspielerinnen küssen durfte, als ich durch breite Straßen ging, über denen Bogenlampen wie falsche Monde prahlten. Die großen Worte der glattrasierten Männer auf dem Podium setzten mich in Taumel, und das Rasseln der Hochbahn klang mir gewaltiger als der Donner der Berggewitter. Ich bin nicht lange vor diesen Wundern auf gläubigen Knien gelegen. Doch als ich erkannte, daß die sieben Farben des Regenbogens glühender und milder brannten als alle Schmelzöfen der Länder, war mir die Natur nur mehr ein Schauspiel, das ich vom feindlichen Parkett aus mit bewundernden und ungerührten Augen genoß.
 Wenn ich heute taub und blind durch den Wald gehe und vor dem Schrei des Hähers und dem Rascheln des Eichhörnchens zusammenfahre, bin ich traurig bei dem Gedanken, daß Wald und Wolke und Fluß mir fremd wie fremde Sachen sind und mir im Blut bekannt sein könnten wie der Schlag meines Herzens. Die Säfte, die die glänzenden Schenkel der Pferde prall machen, die Flügel der Vögel heben, die in den Bäumen brausend nach oben steigen, müssen notwendig und innig denen verwandt sein, die durch mich rinnen, von Ufern roten Fleisches eingedämmt. Daß ich diese Verwandtschaft nur mit dem Verstande begreife, sie nicht mit Augen und Blut liebend fühle, ist ein Schmerz, der mich nicht verläßt.
 Ich habe viel in Indianerbüchern gelesen. Immer zur stärksten Erschütterung riß mich Schillers Gedicht von dem Tod des Häuptlings. Ich habe den Band nicht zur Hand und muß die Verse nach dem Gedächtnis wiedergeben. Sie beginnen so:
 

Seht, da sitzt er auf der Matte,
Aufrecht sitzt er da,
Mit dem Anstand, den er hatte,
Als ers Licht noch sah.


Der große Greis stirbt nicht. Ihn schüttelt kein schmerzlicher Krampf und splitternd bersten bei ihm keine bösen Stricke, die uns an die kalte Klippe Erde schnüren. Die kristallene Luft um ihn ist wie ein gewaltiger, blitzender Wassertropfen, in dessen Mitte er schwebt, von dem er aufgesogen wird. Lächelnd vergeht er, wie die Blume im Herbst erlöst zerfällt. Über den Bergen, im Blauen, liegt Manitou, ein riesiger, roter Krieger und stößt tanzende Wolken aus seiner Pfeife. Er wird neben ihn sich strecken und Frühling und Herbst und alle Jahreszeiten werden wie Schatten über die Täler wehn.
Ich möchte sterben wie er. Aber wir müssen einmal fliehen von
der Erde, die uns eine fremde Insel war, von seltsamen und grausamen Geschöpfen bewohnt, von Hecken durchzogen und von scharzen Waldfahnen furchtbar Und zitternd, von Fremden zum Fremden, uns fort. Von einer Woge stechender Disteln,
die uns unwillig trug, heben wir uns in ein Boot, zur Fahrt Meer, vor dessen Erahnen schon uns der Hauch dem Munde gerinnt.

[1927]



Anhang
Anmerkungen

S.308 Winterlich
In: Frankfurter Zeitung, Nr.925, 12.12.1926.

S.309 Zwölf Raben
In: Vossische Zeitung, Nr.3, 5.1.1927.

S.313 Indianer
In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 12, 8.1.1927.
B. zitiert die erste Strophe von Schillers Nadowessischer Totenklage (1798).

S.316 Tüchtige Diener
In: Frankfurter Zeitung, Nr.121, 15.2.1927.
Vgl. Schmitz/Ziegler, S.2i.

S.319 Anekdote
In: Frankfurter Zeitung, Nr.222, 24.3.1927.
Zu einem späteren Abdruck hat sich ein undatierter Begleitbrief B.s (vom Anfang der dreißiger Jahre) erhalten, der bezeichnend für seine Arbeitsweise ist: »Obwohl ich jetzt erst, für Ihren Zweck, zweimal das Wort )München( hineingesetzt habe, ist das mehr als geschickte Anpassung: Atmosphäre und Charakter der kleinen Anekdote ist von sich aus ›münchnerisch‹, scheint es mir.«

S.321 Anekdote vom Major Xanders
In: Frankfurter Zeitung, Nr.273, 12.4.1927. - Etwas erweiterte, dann häufig, auch in Rockenbachs Anthologie (vgl. Anm. zu S.25i; dort S.235£) nachgedruckte Fassung von: Reitunterricht, in: Simplicissimus, 30, 1925, S.356 [21.September].

S.323 Erbse
In: Vossische Zeitung, Nr.165, 17.7.1927. - Auch u.d.T. Anekdote von der Somme nachgedruckt, z.B. in: Magdeburgische Zeitung, Nr.626, 10.12.1927; als Stabsarzt Erbse in Rockenbachs Anthologie (vgl. Anm. zu S.251, dort S.231 f.), als Die Antwort in: Die deutsche Anekdote, hg.v. Karl Lerbs, Berlin: Th.Knaur 1943, S.489-491.

S.325 Die schöne Handschuhverkäuferin
In: Michael und das Fräulein und andere Geschichten, Frankfurt: IrisVerlag 1927, S.7-19 (vgl. S.567).-Auchin: EI, S.37-43.
Die Erzählung »war in zwei oder drei Fassungen zwischen 1920 und 1925 entstanden und läßt [...] zwei stilgeschichtliche Schichten erkennen, die sich nicht bruchlos miteinander verbunden haben. Die ältere dieser Schichten erinnert an die ironische Kälte im Expressionismus, wie sie Britting vor allem in einigen Kurzgeschichten des von ihm sehr bewunderten Gustav Sack vorfand [...]. Stofflich kommt dabei wohl Wedekinds Erzählung Das Opferlamm eine gewisse Patenschaft zu.« (Bode, S.15) Zum Stilwandel dieser frühen Erzählungen vgl. den Komm. zu Bd.III,2.

S.332 Ambros
In: Michael und das Fräulein und andere Geschichten, Frankfurt: IrisVerlag 1927, S.49-59 (vgl. S.567).
Zuerst in: Simplicissimus 29, 1924, S.222f. [7.Juli].

S.338 Auf einem Hügel über Aichach
In: Frankfurter Zeitung, Nr. 339, 6.5.1928
(mit der Originalzeichnung von Hans Lasser).
Der Text schließt an die, ebenfalls mit einer Zeichnung Lassers (Abb.), erst am 16.5.1928 in der Vossischen Zeitung erschienene Schilderung an; sie wurde später in die Erzählung Der Major (aus der Sammlung Das treue Eheweib) eingearbeitet (vgl. Bd.III,2). In einem Brief an Alex Wetzlar schilderte B. am 21.August 1951 seinen Ausflug: »Ich ging vor 25 Jahren zu Fuß von Dachau über Indersdorf nach Altomünster. Alte romanische Kirche in Indersdorf In Altomünster übernachtete ich und ging anderntags nach Aichach, wo es nach Aussage seiner Majestät Ludwig III. die besten Knackwürste Bayerns gibt. Ich finde die von Regensburg besser. Von Aichach, es war ein Pfingstmontag [...1 wandelte ich in das nahe gelegene Dorf Wittelsbach, und suchte, meines Könighauses gedenkend, die paar Trümmer auf, die noch von der Burg da sind.«