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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Wilhelm Haefs

Band 3/2   Seite 347
Kommentar Seite 495

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Aus: »Das gerettete Bild«

Das Liebespaar und die Greisin

Der Wind wehte, es war Januar, Schnee fiel, es war Abend, es war schon Nacht, Schnee fiel schon seit Stunden, dicht und unaufhörlich, so war es ein lautloses Gehen. Es waren ihnen Leute begegnet, die schwarze Larven vorm Gesicht trugen, Fasching war ja, die Menschen erbebten vor Lust des verliebten Mummenschanzes, und es war jetzt in jeder Nacht ein großes Fest, heute wie morgen, so war es alljährlich um diese Zeit in dieser Stadt. Ein Mann hatte vor ihnen die Straße gekreuzt, der eilig dahinstrebte, ein großer dürrer Mann, dem die rotweißgewürfelten Hosen unten aus dem zu kurzen braunen Mantel lustig hervorsahen. Seine runden, schwarzen Augen im weißbemalten Gesicht unter dem schief gesetzten Hut hatten sie im Licht der Bogenlampe frech und verwegen angeglotzt, dann wallte der Vorhang aus drehenden Flocken und der stangendünne Mensch war schon wieder vorbei. Eine Zigeunerin war aufgetaucht, mitten im Schneewirbel, große, gelbe, schaukelnde Ringe in den Ohren, hatte ihnen etwas zugerufen, etwas Zigeunerisches, und hatte Karl eine Kußhand zugeworfen, und im Wirbel war sie mit dem Schnee um eine Ecke entschwunden.
   Karl sah Maria an, Maria sah Karl an, beide lachten, und warum sollten sie nicht lachen, laut und schallend? Es war ihnen warm, es war ihnen sogar heiß, sie gingen ja Arm in Arm, daher kam es. Maria errötete, sie tat, als merke sie es nicht, daß Karl ihren Arm drückte, sie tat, als sei das ganz und gar zufällig geschehen, und auch Karl tat scheinheilig so, der schlaue Verliebte. Wie sollte ihnen da nicht heiß sein, wie sollten sie da nicht glühen und feuerrot brennen, die beiden?
   Karl und Maria kannten sich erst seit gestern. War es wirklich erst seit gestern? Karl sah sie an. Er kannte jeden Zug ihres Gesichtes, das Kinn, fest und rund, die Stirn, fest und nicht hoch, die Lippen, die er noch nicht geküßt hatte und wie trieb es ihn, es zu tun, und er hatte einen süßen Schauder zugleich vor seiner vermessenen Begier. Wie waren ihm ihre Augen bekannt, und wie vertraut die kleine Nase, nicht zu klein, gerade so war sie schön, fand er, unruhig verlangend wie sie war im Schatten des schwarzen Hutes!
   Sie bogen wieder um eine Ecke, um wieviele Ecken waren sie heut schon gebogen! Überall sah die Welt gleich aus, überall waren Häuser, nur bis zum ersten Stock zu erkennen im Licht der Bogenlampen, überall wirbelte der Schnee, waren ihre Schritte lautlos, immer hatten sie ihre Arme ineinander, und ihre Schultern berührten sich, da waren sie überall glücklich, in jeder hellen Straße, in jeder dunklen Gasse, bei Windpfiff und schwirrendem Flockengedreh. Der Wind war nicht kalt, so schien es ihnen, es war wohl gar Föhn, so katzenpfotig war er, der aus dem Süden kam, meinten sie, aber er kam aus dem Norden, eisnadelbewehrt, sie merkten es nur nicht, er kühlte sie nicht, sie glühten, und sie gingen rascher, als hätten sie ein Ziel, das sie aber nicht hatten, und bogen nur wieder um eine Ecke und wieder in eine Straße voll Schneegestöber.
   In der gleichen Hochschule saßen sie auf den gleichen Bänken, Karl und Maria, seit Wochen schon, aber sie hatten sich nie gesehen, unbegreiflich fanden sie das jetzt. Und erst gestern abend hatten sie sich kennengelernt, waren nebeneinander zu sitzen gekommen in einer Vorlesung, und waren miteinander ins Gespräch geraten, und erst nach langem Zögern hatte Karl es gewagt, das Wort an sie zu richten, und nur einsilbig hatte sie geantwortet zuerst, fast abweisenden Gesichts. Dann waren sie zusammen weggegangen, und er hatte gebeten, sie heimbegleiten zu dürfen, und sie hatte es erlaubt, und sie hatte ihm unter der Türe, als er anders sich nicht verabschieden wollte, für morgen, also für heute, einen abendlichen Spaziergang zugesagt, und er hatte nicht gewußt, wie er die Zeit hinbringen sollte, die ewig lange Zeit, bis es so weit sein würde. Und nun war es so weit, und nun machten sie ihren Spaziergang im wirbelnden Schnee, bei Wind, durch viele Straßen, im Licht der Bogenlampen.
   Da standen die Häuser, hohe und niedere, und aus manchen Fenstern schimmerte Licht, und die meisten der Fenster waren dunkel, und an den Häusern der Vornehmen und Reichen kamen sie vorbei und an den Häusern der Armen und Gedrückten, aber der Schnee fiel gleich wirbelnd über sie alle her. Und auch an den Häusern kamen sie vorbei, in denen die Feste gefeiert wurden, und viele Wagen standen davor, und alle Fenster waren erleuchtet in diesen Häusern, und Schatten drehten sich an den erleuchteten Fenstern, wirbelnd und schwankend wie der wirbelnde und schwankende Schnee, und Musik wehte aus diesen Häusern her zu ihnen, und sie blieben stehen und drückten sich gegeneinander und schauten hinauf zu den Schatten der Glücklichen, aber wer war so glücklich wie sie selber?
   Und sie lachten und gingen weiter und wieder durch stillere Gassen, aber Häuser waren überall um sie, und Treppen liefen innen in den Häusern empor, mit vielen Windungen, wie eilige, hölzerne Schlangen, und die Schlangentreppen stießen mit neugierigen Köpfen immer wieder gegen Türen. Die waren die Eingänge in die Wohnungen der Menschen, in große und kleine Zimmer, in Stuben und Kammern: Denn so ist es im Innern der Häuser, jeder weiß es, und über jedem Haus ist ein Dach aufgerichtet, dem Regen zu wehren und dem Schnee, so leben die Menschen im schützenden Bau, ameisengleich im künstlich erleuchteten Finstern, aber Leid und Lust und Tod, die finden überall hin, so verborgen ist nicht das verborgenste Gemach. Und es stand in dieser Stadt, in der Stube eines Hauses, und in einer Ecke dieser Stube ein großes, schweres, hölzernes Bett, und in den Kissen des Bettes lag eine alte Frau, im Halbschlaf, im Halbtraum.
   Es war eine weißhaarige Frau, eine kranke, sehr kranke Frau, es war eine Frau, die schon weit weg war vom Leben, die schon auf einen Ruf von drüben horchte, von droben, von drunten, von weither, von weit woanders her. Sie war schwach, sie war müde, sie dämmerte dahin und horchte ins dunkle Zimmer, dessen Beleuchtung abgedreht war, in dem nur ein wenig Licht war von draußen, von der Bogenlampe über der Straße. Sie war allein, schon seit vielen Jahren allein, ihr Mann war tot, ein Sohn war ihr irgendwo, in einer andern Stadt, eine Tochter war ihr irgendwo, weit in der Welt. Sie hatte gelebt, und hatte das getan und dies, hatte dies versäumt und sich zu jenem gedrängt, und hatte gelacht und geweint, und hatte seit langem schon zu beidem nicht mehr Ursache, weder zu lachen noch zu weinen, hatte nun nichts mehr zu tun als zu warten und zu horchen.
   So lag sie und lauschte mit bleichem Gesicht. Eine Frau war sie, aber wie ein Mann sah sie aus, wie ein alter Soldat, das Kinn vorgeschoben, tiefliegend die Augen, die welken Lippen fest geschlossen über den zahnlosen Kiefern. Sie horchte, wie ein Soldat horcht auf einsamem Posten, der zurückgelassen worden ist, als Nachhut, und weit voraus sind die Kameraden, und ihren Marschtritt hört er nicht mehr. Sie lauschte, auf einen Befehl vielleicht sich aufzumachen, sich in Bewegung zu setzen, irgendwohin vorzurücken, wartete auf einen Trommelwirbel etwa oder einen Trompetenstoß, so war ihr, der Alten.
   Es wirbelte der Schnee, unaufhörlich, immer noch, und es ging das Paar durch die Straßen, immer noch, Karl und Maria, die Häuser entlang im Licht der Bogenlampen. Sie kamen an ein Haus, über dessen Tür war ein Dach, darunter traten sie, und standen nun im Trockenen, und sie schüttelten sich, und klopften sich den Schnee von Schultern und Ärmeln, und lachten, und der Schnee draußen wirbelte nur immer heftiger. Karl sah von der Seite, er war ein wenig größer als Maria, auf sie hin, sah auf ihren Mund, der rot und feucht war von der Frische, und wußte, daß er ihn nun bald küssen würde. Seit einer Stunde wußte er das schon, und sie wußte es wohl auch schon ebensolang, aber es zu tun, war nicht so leicht. Doch jetzt, unter dem Türdach, es war klar, daran zweifelten sie nun nicht mehr, daß es hier geschehen würde, wovor sie sich fürchteten und wonach sie sich sehnten.
   Maria sah noch immer in das Schneetreiben hinaus. Bebten nicht ihre Lippen? Wurde ihr Gesicht jetzt nicht dunkler und nun wieder blasser? Karl nahm seinen Arm aus dem ihren, und beide Arme ließ sie nun wie hilflos hängen, und er legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie leicht an sich, und das Mädchen gab dem Druck nach, neigte sich zu ihm, und so nun standen sie also eine Weile, aber sich zu küssen, fanden sie immer noch nicht den Mut.
   Es war so schwer es zu tun, fast unmöglich schien es. Der Schnee wirbelte, Maria sah ihm zu, mit andächtiger Aufmerksamkeit, wie einem Schauspiel, das ihr neu war, als habe es eben erst begonnen zu schneien, aber ihr Gesicht war nun näher bei ihm, ihren Atem spürte er, warm und süß, und das leise Zittern ihrer Schultern.
   Aber nun mußte es sein, und: Feigling! schalt er sich, nun mußte er es tun, und die Augen schloß er, sonst hätte ers nicht gewagt, aber mit geschlossenen Augen, da ging es vielleicht. Er zog sie dicht an sich jetzt, die sich nicht sträubte, sie taumelte ein wenig, dann lag sie an seiner Brust, lag ihr Kopf an seiner Schulter, und die Augen schloß auch sie nun, und daß sie ihm ihr Gesicht ein wenig entgegenhob, konnte er nicht sehen, weil er die Augen nicht auftat, der törichte Mensch.
   Da legte er, im Finstern, auch den andern Arm um sie, und nahm sie ganz zu sich her, und schwankte, und sank mit ihr gegen die Mauer, und fühlte den kalten, rauhen Stein am Rücken, und gab Maria den ersten Kuß! Sie riß sich zurück, wie erschrocken fliehend, riß ihn mit, sein Rücken verließ
den kalten Stein, dann ließ er sich wieder gegen die Wand fallen und nahm das Mädchen mit, und hob es dabei ein wenig, und küßte es zum zweitenmal, und heftiger diesmal. Und zum drittenmal geschah es, daß er mit dem Rücken Halt suchte an der Wand, das Mädchen leidenschaftlich an sich pressend, und diesmal war es willig ihm hingegeben, auf den Fußspitzen sich hebend drängte es zu ihm, und zum drittenmal küßte er Maria. Sie hatten nichts gesprochen, während sie, sich küssend, so hin und her schwankten, hatten kein Wort geredet, wie auf einer Schaukel stehend war ihnen, als hätten sie keinen festen Boden mehr unter den Füßen, so schwangen sie hin und her, hoch in Lüften, meinten sie, in einer zauberischen Liebesschaukel, hatten die Augen geschlossen, vor denen es ihnen purpurn wogte, wußten nichts von der Welt, wußten nur von ihrem Kuß.
   In ihren Polstern die Greisin, bleich in dem weißen Federbett, das sich vor ihr türmte wie ein Gebirge im schwachen Licht, das von der Bogenlampe draußen kam, wie ein Gebirge, das sie zu durchwandern hatte, Hügel hinauf, Hügel hinab, sie wanderte nun schon nächtelang, in ihren Kissen die Greisin hörte den schrillen Ruf, die Klingel tönte kurz und scharf. Man rief sie schon? Man rief sie endlich? Sie hob den Kopf, mühsam, und sah zum Fenster hin, aber da war nichts zu sehen, und sah zur Decke hinauf dann, als erwarte sie, daß die sich auftue. War es das Zeichen gewesen, das lang erhoffte, auf das sie wartete, seit Wochen schon, der Trompetenstoß, der ihr zu kommen befahl? Da klingelte es zum zweitenmal, und länger diesmal, viel länger. »Ja«, murmelte sie, und versuchte sich aufzurichten, »ja, ja, ist schon recht«, und sie stützte sich mit zitternden Armen hoch und sah über das Bettgebirge hin, wo ein Paß sei, ein Höhenweg oder ein Hirtensteig, es zu überschreiten, und drüben, jenseits der Berge, war das gelobte Land. Und zum drittenmal schrillte durch die Stube der Klingelruf, fordernd und mächtig. Nun war es ihr gelungen sich aufzustemmen, der Alten, und sie saß nun im Bett, nach oben den Blick, und die weiß gekalkte Stubendecke schien sich nun wirklich aufzutun, und die Arme streckte sie hinauf zu ihr und sagte gehorsam: »Ja, ja, ich komme ja schon, brauchst nicht noch einmal zu blasen, Erzengel, schimmernder!« Und nun kam viel Licht von oben, und sie deckte die Augen mit der Hand, das viele Licht war nicht zu ertragen, und: »Ich komme ja«, sagte sie, » ungeduldiger, himmlischer Bote!« und lächelte mit trockenen Lippen und die Hand noch vor den Augen sank sie zurück.
Gebe Gott jedem von uns einen so sanften Tod!
   Durch den Schneewirbel, Arm in Arm, liefen Karl und Maria, die der Alten das Zeichen gegeben hatten, von unten, von unten unter dem Türdach, im Kuß sich dreimal gegen den Klingelknopf drückend. Lief ins Leben, das himmlische Botenpaar, das Mörderpaar, ins wirbelnde, aus dem die Greisin sanft und ruhig herausgetreten war, dem Rufe von oben gehorsam. Und er muß nicht, der Ruf, oder was sich so deuten läßt, und es hört ihn und deutet ihn immer nur der, dessen Herz schon bereitet ist, er muß nicht aus Wolken gewaltig tönen oder sprechen mit dem Krächzen von Raben ums Haupt des Gezeichneten. Es kann, was sich ankündigen soll, sich auch des Drahts und des eiligen Funken bedienen, unserem Tage gemäß, und er ist doch der uralte und selbe.
   Und der Schnee fiel weiter, unaufhörlich, und Karl hatte Maria nach Hause begleitet, und von ihrem Fenster aus hatte sie ihm noch einmal zugewinkt, hatte das Fenster aufgestoßen, daß die kühle Nachtluft in ihr Zimmer drang, und hatte sich weit aus dem Fenster gebeugt und ihm abschiednehmend zugewinkt, und hatte das Fenster geschlossen dann und die Vorhänge zugezogen, damit er nicht stehen bliebe noch länger unten und endlich ginge, der Unersättliche, es war doch schon fast Mitternacht.
   Er hatte sich auf den Heimweg gemacht, und als er in die kleine Seitengasse einbog, in der er wohnte, glänzte ihm der Schnee weiß und unberührt entgegen, als sei niemals hier jemand gegangen. Er hatte die Haustüre schon aufgesperrt, als er sich nochmals umwandte. Er sah, wie die Spur seiner Schritte auf ihn zulief, und er sah aber auch, wie die wirbelnden Flocken sich mühten seine Spuren einzuebnen und daß sie es bald so weit gebracht haben würden. Da trat er nochmals auf die Straße zurück und trappelte und stampfte im Schnee herum, in einem weiten Kreis, daß es war, als hätten spielende Kinder hier sich gebalgt, und die Spuren dieser Verwüstung zuzudecken, würde dem Schnee sobald nicht gelingen. Das befriedigte ihn auf eine seltsame Weise, und er ging ins Haus und sagte: »Morgen! Morgen!« vor sich hin und stieg die Treppen zu seinem Zimmer empor.
   Und der Schnee fiel weiter, die ganze Nacht hindurch, sanft wirbelnd über die Dächer her, aus unendlichen Räumen kommend, und häufte sich hoch in den Straßen, und als die letzten Gäste die Festsäle verließen, schwankend und
von Tanz und Wein erhitzt, gegen den Morgen schon zu, schrien sie verzückt, da sie das viele Weiße sahen, und immer noch von oben kam neues Weißes nach, unermeßlich. Vor dem Fenster der Greisin aber hatte sich der Schnee,
vom Wind gegen die Scheiben geblasen, so getürmt, daß es das Morgenlicht schwer hatte, in die Stube zu dringen, und die Rufwärterin, die wie jeden Morgen kam, im Dämmer als erstes das Fenster vom Schnee säuberte. Dann sah sie erst, daß die alte Frau tot war, und bekreuzte sich erschrocken, obwohl da nichts zu erschrecken war, denn der Arzt hatte sie oft beiseite genommen und ihr gesagt, daß sie darauf jeden Tag gefaßt sein müsse.



 


 

Drucknachweise und Kommentar:
 
 

S.347 Das Liebespaar und die Greisin
Zuerst erschienen mit einigen kleinen Auslassungen (sowie einer größeren: 5.353. Z.17-Z5: dem Rufe [...] und selbe) u.d. T. Das Botenpaar in: Münchner Illustrierte Presse, Nr.5, 1936, S.5of u. 154. - Eine gekürzte Fassung vorher in: Die Propyläen (Wochenschrift zur Münchener Zeitung), 34 1934, S.124f:
Eine etwas stärker abweichende, erheblich kürzere erste Fassung zuerst in: Frankfurter Zeitung, Nr.65, 25.1.1928 [E], und in Hannoverscher Kurier, Nr. 65, 8.2.1928. - Danach eine wiederum nur leicht überarbeitete Fassung in: Der Kunstwart, 43, 1929/3o, 1"1.4, S.24ofi.
Zu dieser Vielfalt an Fassungen äußerte sich B. in einem Brief an Jung vom 9. Mai 1946: »Was Sie vom Liebespaar und der Greisin schreiben: ja, ich habe viel, vielleicht manchmal zu viel, an meinen Prosaarbeiten herumgebastelt. Es ist der alte Streit um die ›Fassungen‹, und aus Ungenügen, dem ewigen Ungenügen, tut man leicht des Guten zuviel.«
Die erste Fassung weist u.a. folgende Abweichungen auf:
S.347, Z.3-15: Es waren [...] stangendünne Mensch E: Es waren ihnen wieder Maskierte begegnet, ein Harlekin, Harlekinhosen, rotweißgewürfelte, sahen unten aus dem schwarzen, bürgerlichen Mantel hervor. Ja, ein Harlekin mit dickweißbemaltem Gesicht war an ihnen vorbeigeglitten. Seine schwarzen Brombeeraugen hatten sie im Licht der Bogenlampe frech, negerisch, fröhlich angeglotzt, er
S.347, Z. 25-28: Arm, daher kam es [...] der schlaue Verliebte. E: Arm, sie drückten Arm gegen Arm, Karl drückte seinen Arm gegen ihren Körper, er spürte, wie etwas Rundes sich von ihren Rippen wegwölbte, er spürte den Ansatz ihrer Brust, er ließ den Arm dort, er sah Maria dabei an. Sie errötete, sie tat, als merke sie nichts, als sei es eine ganz zufällige Berührung.
S.348, Z.23 - S.349, Z.35: In der gleichen Hochschule [...] hölzernes Bett E: Karl war Student, Maria war Studentin, sie hatten sich gestern Abend kennengelernt, in einem Vortrag, waren nebeneinander gesessen, waren miteinander ins Gespräch geraten. Dann waren sie zusammen weggegangen, er hatte sie heimbegleitet und sie hatte ihm für morgen, also für heute, einen abendlichen Spaziergang zugesagt, und der wurde nun durchgeführt im wirbelnden Schnee, bei Wind, durch viele Straßen, im Licht der Bogenlampen. [/] So wirbelte der Schnee, so ging das Paar. Da waren die stummen Häuser, da führten Türen und Tore in die Häuser, da liefen Treppen innen in den Häusern empor, mit vielen Windungen, und von da führten wieder Türen, braunlackierte und weißlackierte in die Zimmer, und in einem Zimmer stand in einem Eck ein Bett
S.35o, Z.16-26: So lag sie [...] der Alten. [/] Es E: Sie lag und horchte mit bleichem Gesicht, wie ein Mann sah sie aus, wie ein alter General, das Kinn vorgedrückt, tiefliegend die Augen, die welken Lippen über zahnlosen Kiefern, horchte wie ein General auf ein Signal, irgendwohin vorzurücken, auf ein munteres Signal, auf einen Trompetenstoß etwa. [/] So
S.351, Z.8-Io: Maria sah [...] wieder blasser? E: Vorläufig aber sah Maria noch in den Schnee hinaus und er sah sie an, sah ihren Mund an. Wie die roten Lippen aufeinander lagen! Schwellend lagen sie, und es war falsch zu sagen: sie lagen aufeinander. Sie waren, jede Lippe für sich, schwebend getragen und berührten sich schwebend, jeden Augenblick bereit, sich von einander zu lösen. Bebte nicht ihre Oberlippe? Wurde sie nicht röter und jetzt wieder blasser?
S.351, Z.22 - S.352, Z. 15: Die beiden Abschnitte lauten in E: Und jetzt wagte
er es. Er zog sie dicht an sich, jetzt mußte sie auch einen Fuß vom Boden heben, sie taumelte ein wenig, dann lag sie an seiner Brust, lag ihr Kopf an seiner Schulter, hob sie das Gesicht ihm ein wenig entgegen, hob ihm die Lippen entgegen. [/] Er behielt sie im Arm, lehnte sich zurück, an die Wand, blieb an die Wand gelehnt, fühlte den kalten Stein, gab ihr den ersten Kuß. [/] Sie riß sich zurück, sein Rücken verließ den kalten Stein, dann ließ er sich wieder gegen die Wand sinken und nahm das Mädchen mit und küßte es zum zweitenmal. [/] Und zum drittenmal schmiegte er sich gegen die Mauer, schmiegte sie sich an ihn, und zum drittenmal küßte er sie. [/] Sie hatten nichts gesprochen, hatten die Augen geschlossen, wußten nichts von der Welt, wußten nur von ihrem Kuß.
S.353, Z.17 - S.354, Z.31: Fehlt in E.