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© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung

Band 5  Seite 50
Kommentar Seite 372

Aus: »Der Schneckenweg«


Der Eisläufer

Ich war dreizehn Jahre alt, als es sich so fügte, daß ich meinen Vater auf einer Winterreise durch eine Reihe von Städten im Westen Deutschlands begleiten durfte. Meine zwei jüngeren Brüder waren von einer zwar nicht gefährlichen, aber lästigen und ansteckenden Krankheit befallen worden, und um mich davor zu bewahren, daß mir das gleiche geschähe, suchten meine Eltern nach einer Möglichkeit, mich irgendwohin in Sicherheit zu bringen. Aber es lebten uns keine Verwandten in der Nähe, die mich hilfreich hätten aufnehmen können, und der Absicht, mich für eine Weile einer klösterlichen Erziehungsanstalt anzuvertrauen, war von mir mit so viel unerwartet heftiger, ja störrischer Abwehr begegnet worden, daß man endlich verzichtete, darauf zu beharren. So kam es, daß man zuletzt auf einen Ausweg verfiel, der von mir begierig willkommen geheißen wurde, den aber meine Eltern nur ungern beschritten: mich meinem Vater mitzugeben, der gerade jetzt eine längere Geschäftsreise anzutreten hatte, die nicht hinausgeschoben werden konnte. Obwohl die wunderbare Winterfahrt, die mir nun bevorstand, als durch die Umstände erzwungen sich erwies, versuchte man nun doch, und das hielt man wohl aus erzieherischen Gründen für notwendig, so zu tun, als würde mir eine große, aus freien Stücken gnädig gewährte Auszeichnung zuteil, deren ich mich durch besonderes Wohlverhalten als würdig zu zeigen hätte. Ich durchschaute natürlich diese elterliche List, hütete mich aber, mir das anmerken zu lassen, doch mächtig regte sich in meiner Brust das Gefühl, den Brüdern dankbar sein zu müssen, so, als hätten sie sich nur deshalb mit fiebrig roten Köpfen ins Bett gelegt, um mir das Abenteuer des unerwarteten Ausflugs zu verschaffen.
 Nun war noch zu überlegen, wie man mich während der Reise, besonders an den Vormittagen, deren keiner meinem Vater zur freien Verfügung stehen würde, beschäftigen sollte. Ich selbst war es, der da einen Vorschlag zu machen hatte. Seit vierzehn Tagen war ich ein begeisterter Anhänger der Eislaufkunst, und warum sollte ich nicht die vielen Stunden, die ich allein zu verbringen haben würde, dazu nützen, mich in dieser gesunden und kräftigenden Übung zu vervollkommnen? Aber die mir längst versprochenen neuen Schlittschuhe müßte ich dann jetzt bekommen, darauf bestand ich mit Festigkeit, mit den alten, rostigen, die ich von einem Freund gegen einige Briefmarken aus meiner Sammlung eingetauscht hatte, konnte ich mich unmöglich auf den Eislaufplätzen der fremden Städte sehen lassen. Man willigte ein, und noch am selben Nachmittag durfte ich mit unserem Dienstmädchen in die Stadt gehen und mir, vor Freude zitternd, die neuen Schlittschuhe aussuchen.
 Am andern Tag, in aller Frühe, von der Mutter vorher noch mit vielen Ermahnungen bedacht, ging ich mit meinem Vater zur Bahn. Die Schlittschuhe hatte ich nicht in den Koffer packen lassen, ich trug sie an einem hellbraunen, noch etwas steifen Lederriemen über der Schulter, und im Zug hing ich sie über meinem Kopf an einem der Messinghaken des Gepäcknetzes auf. So oft sie dann aneinander stießen, die glänzenden, erinnerte mich ihr leises Klirren an ihr glückverheißendes Vorhandensein.
 Wir waren bei völliger Dunkelheit abgefahren, im Abteil brannte noch Licht, und ich schlief immer wieder einmal ein wenig ein, wachte aber auf, so oft der Zug am Bahnhof einer kleinen Ortschaft hielt, und sah dann draußen die trüb erleuchteten Fensterscheiben der Häuser, und schwarze Gestalten im tiefen Schnee, die sich durch Aufstampfen warm zu machen versuchten, oder ihre frierenden Hände behauchten. Dann kam die Dämmerung, das Zwielicht wich einer blendenden Schneehelle, der Tag war da, der erste Tag unserer Reise, und der Schlaf war mir nun gänzlich vergangen.
 Ich nahm, und spähte heimlich zu meinem Vater hinüber, ob er es wohl auch bemerke, mein Schullesebuch hervor und begann, wie uns das gestern der Lehrer zu tun aufgebürdet hatte, ein langes Gedicht zu lernen. Aber ich kam nur mühsam voran, die gereimten Zeilen purzelten mir immer wieder durcheinander, und als ich erkennen mußte, daß mein Vater gar nicht auf mich achtete, meinen mit Bedeutung zur Schau getragenen Fleiß nicht zu würdigen schien, und es ihm nicht im mindesten einfiel, mich Heuchler zu loben, weil er mit seinen Gedanken abwesend war, und mich nur hin und wieder freundlich, aber offenbar mit anderem sehr beschäftigt wie aus einem Traum heraus anlächelte, legte ich das Buch still und erleichtert und auch ein wenig gekränkt zur Seite. Ich stellte meine Füße auf die Heizung, faltete die Hände zwischen den Knien und sah zum Fenster hinaus. Es war schön, so warm und behaglich durchgerüttelt im Zug zu sitzen, während draußen die weiße Landschaft vorbeiflog, mit Dörfern und Kirchen und einsamen Gehöften. Hin und wieder stand ich einmal auf, um meine Schlittschuhe, mit einem zärtlichen Blick sie betrachtend, an einen besseren Platz zu hängen, wohl auch in der Hoffnung, es möchte einer der Mitreisenden ein bewunderndes Wort über sie sagen, aber keiner tat es der stumpf Gleichgültigen, die ihre Zeitungen lasen oder in die Ecke gedrückt zu schlafen versuchten. Nach vielen Stunden dann, als mir die Lust, aus dem Fenster zu schauen, schon recht schal geworden war, nimmer hätte ich das zuerst für möglich gehalten, und die Langeweile anfing, mich unruhig und verdrossen zu machen, stiegen wir am Nachmittag endlich aus: unser erstes Reiseziel war erreicht.
 Und am andern Morgen führte mich mein Vater auf den Eislaufplatz der fremden Stadt. Bebend vor Eifer schraubte und schnallte ich die neuen, blitzenden Eisen an die Stiefel und wagte mich auf die spiegelnde Fläche. Es waren fast ausschließlich Kinder, die an diesem Vormittag auf dem Eis sich tummelten. Lustig brannte die Sonne herab, die Stunden verflogen, während ich, süß berauscht von der neuen Freiheit, lernte und übte, und als mein Vater um die Mittagszeit kam, mich abzuholen, lief ich ihm lachend, mit roten Backen, und in meinem zu warmen Mantel glühend, im kecken Bogen entgegen, stolz über die Gewandtheit, die ich mir nun schon erworben hatte in der klirrenden Kunst.
 Tag um Tag ging das nun so. Wir fuhren von Stadt zu Stadt, in keiner verbrachten wir mehr als eine Nacht. Mein Vater verwandte die Vormittagsstunden für seine Geschäfte, ich lief indessen auf immer einem andern Eisplatz meine Bogen, vorwärts und rückwärts, mit immer größerer Gewandtheit, und hatte schon den großen Achter zu fahren gelernt, mit dem ich, heimgekehrt, mächtigen Eindruck zu machen gedachte. Nachmittags, während mein Vater im Gasthofzimmer seine schriftlichen Arbeiten erledigte, saß ich neben ihm, der seine Pfeife rauchte, Mann bei Mann, fühlte ich mit Stolz, wenn sichs auch mühsam atmete in dem Qualm, rechnete und trieb ein wenig Latein, und das schwer zu behaltende Gedicht konnte ich längst ohne Anstoß herunterschnurren. Es war eine herrliche Zeit, die sich aber nun bald ihrem Ende neigte.
 Von daheim waren gute Nachrichten eingetroffen, den Brüdern ging es viel besser, in ein paar Tagen schon, schrieb die Mutter, würden sie das Bett verlassen dürfen. Wir waren am späten Nachmittag in einer kleinen, alten Stadt angekommen, die nahe der holländischen Grenze lag, und übermorgen würden wir die Heimfahrt antreten, hatte mir der Vater froh verkündet, mir tats leid. Es war inzwischen wärmer geworden, und man erwartete neuen Schnee. Der Himmel zeigte eine gleichmäßig grüngrau schimmernde Färbung, wie man sie manchmal an Muscheln sieht. Ich erinnere mich der schönen Stadt noch genau und ihrer gewinkelten, dunklen Gassen. Eine uralte Kirche mit zwei mächtigen viereckigen Türmen, auf eine schroffe Anhöhe gebaut, überragte weithin sichtbar den Ort und war den Besuchern zugänglich nur über eine Steintreppe mit unzählig vielen Stufen. Und weil mein Vater es für nötig hielt, sich die Haare schneiden zu lassen, in einem kleinen Laden am Fuß des Kirchbergs, so erlaubte er mir, inzwischen allein zur Kirche hinaufzugehen - in einer halben Stunde dann sollte ich ihn im Laden wieder abholen. Bald war ich droben, und vom Kirchplatz aus in die Ferne spähend, konnte ich Himmel und Erde in dem eintönigen Grau kaum unterscheiden, und mir war, wie ich so stand, mit dem Rücken an die kühle Wand der Kirche gelehnt, als blicke ich in das Innere einer ungeheuren Höhle, in die nur vom Eingang her ein wenig gedämpftes Licht fiel. Eine breite Straße, die, von weither kommend, sich in einer riesenhaften Schleife um den Fuß des Kirchbergs legte und dann gegen Westen in das fast ebene Land hinaus lief, schien mir die in der Höhle hausende verzauberte Schlange zu sein.
 Es begann dunkler zu werden, auf den Schnee des Kirchplatzes warf eine Lampe einen runden, rötlichen Fleck, und die Türme; wenn ich nach oben schaute, verschwanden mit ihren Hauben in dem tief herabsinkenden Himmel. Auch läuteten nun die Glocken. Danach bevölkerte sich die große Landstraße tief unten, die sich in der Dämmerung nur noch undeutlich erkennen ließ, mit schwarzen Gestalten, mit Männern, die breitrandige Hüte auf den Köpfen hatten, und mit Frauen in wehenden Röcken. Sie hatten fast alle größere oder kleinere Bündel im Arm, oder trugen zu zweien an einer Last, die zwischen ihnen an Schnüren hing. Und da und dort gehörte zu einer Gruppe Erwachsener auch ein Kind, dessen rote Mütze wie ein Irrlicht schwach leuchtend dahinwanderte. Die Stelle, wo die vielen Leute aus den engen Stadtgassen hinaus auf die freie Landstraße treten mochten, war meinem Blick verborgen. Ich sah die Gestalten alle unter einem Felsvorsprung hervortauchen und dann in merkwürdigen Bewegungen, weit und ruhig ausholend und wie schwankend in der Dunkelheit dahinziehen, und ich brauchte lange, bis ich begriff, daß sie nicht gingen, sondern auf  Schlittschuhen fuhren: Bauern und Bäuerinnen aus den Dörfern der Umgebung, die den Markt besucht hatten und nun auf der vereisten Straße, den flinken Stahl unter den Schuhen, wie beflügelt nach Hause eilten.
 Da wußte ich nun also, wo ich morgen früh mich tummeln würde, auf der Straße natürlich, unter der Kirche, und stieg, es war nun fast die Nacht hereingebrochen, die vielen Stufen des Kirchbergs herab, den Vater zu treffen, der schon vor der Ladentür auf mich wartete. Ich hätte nun schon einen Eisplatz erspäht für morgen, sagte ich ihm, der schon zu seinen Geschäften gerüstet stand, er solle mich um zwölf Uhr des Mittags an der Brücke, die zu Füßen des Kirchbergs über die Straße sich spannte, abholen, zum letztenmal auf unserer Reise, und ich fände allein hin, und er horchte nicht recht auf mich und sagte nur: gut also, um zwölft
 Ich machte mich dann auf, durch die dunklen und krummen Gassen, in die wenig Licht drang und in denen es wie in einem Keller feucht und modrig roch, und geriet erst ein wenig außerhalb der Mauern der Stadt an die Landstraße, die mir nun in der Nähe und von der Sonne beglänzt wie eine alte Heerstraße erschien, wie sie, so hatte man uns in der Schule gesagt, die Römer gebaut hatten: so breit und gewaltig war sie, und breiter noch, als iah es gestern abend vom Kirchberg aus hatte erkennen können. Die Straße war überschneit, Schneehügel lagen auf ihr da und dort, die der Wind zusammengeweht hatte, und völlig blankes Eis zeigte sich nur in der Mitte. Es war kein hoher Baum zu sehen und auch fast kein Buschwerk, nur einige kurzstämmige Weiden, die ihre Arme spreizten, saßen am Straßenrand, so daß mir die Vorstellung kam, wie heiß es hier zu wandern sein mußte im Sommerstaub, wenn die Sonne ohne Gnade auf die schattenlose Ebene herab blitzte. Ich hockte mich auf der Straßenböschung in den Schnee und schnallte mir die Schlittschuhe an. Am dünn verhangenen Himmel stand die Sonne wie ein feuriges Rad, und weithin, blendend, in weißen Flächen, erstreckte sich das Land. Es war warm heute und wärmer als an den Tagen vorher, das merkte ich, als ich den Hang hinabgeklettert war und nun in der Mitte der Straße mich auf dem leise knisternden Eis zu schwingen begann: bald war mir die Stirn tropfenbenäßt.
 Und hier war endlich die oft herbeigewünschte Gelegenheit, zu tun, was man auf den Eisplätzen, die meist klein und eng zwischen den Häusern eingeklemmt lagen, nicht tun konnte: frei und ungehindert größere Strecken geradeaus zu fahren, und so klirrte ich denn, und ließ die Stadt im Rücken, auf der langen Straße sausend dahin, die Lust der Schnelligkeit genießend, und der Wind pfiff mir um die Ohren, und es begegnete mir niemand. In den Ästen der Weidenstümpfe am Straßenrand hockten Krähen, stets war es eine ganze Gesellschaft der schwarzen Vögel, und bei meinem Nahen stoben sie schreiend auf und flogen auf das Land hinaus, und ich konnte beobachten, daß es immer die gleiche Entfernung war, auf die sie mich herankommen ließen: einen Schritt nur weiter, und sie warfen sich, die mißtrauischen, flügelnd in die Luft. Wohl eine Viertelstunde war ich so gefahren, mit Aufbietung aller Kraft, mit zusammengebissenen Zähnen, weit vornüber gebeugt, als gelte es vor einem hinter mir her jagenden Gegner ein Rennen zu gewinnen, und es sprengte mir fast die Brust. Dann verminderte ich die Geschwindigkeit und glitt allmählich nun, und langsam wieder zu Atem kommend, dahin.
 Die Straße machte jetzt einen großen Bogen, und die Böschung stieg auf beiden Seiten so an, daß ich mich wie auf dem Grund eines Hohlwegs befand. Heiß stach die Sonne vom nun fast gänzlich blauen Himmel hernieder. Ich blieb stehen, neben einem struppigen Binsengebüsch, das seine Stengel wie zerbrochene Lanzen hob, und wendete mein Gesicht dem flammenden Gestirn entgegen, und die Wärme überrieselte mich wohlig. Weil an meinem linken Schlittschuh der Riemen sich gelockert hatte, kniete ich nieder, ihn wieder straff zu ziehen. Und da sah ich, dicht unter der Eisdecke, ins Eis eingefroren, einen kleinen Fisch. Den mochte jemand auf dem Heimweg vom Markt weggeworfen haben, sagte ich mir, als zu kümmerlich und nicht wert gebraten zu werden, oder er war aus einem Korb verloren worden, und niemand hatte sich die Mühe genommen, ihn wieder aufzuheben, und es hatte dann geschneit und geregnet, und der Regen war zu Eis erstarrt später, und das war blank geschliffen worden von Schuhsohlen und Schlittenkufen, und da lag der Beflosste nun wie in einem gläsernen Sarg. Deutlich waren die zierlichen Schuppen zu erkennen und die Kiemen und die still glänzenden Augen. Ich sah ihn lange an, und er rührte sich nicht, und ich klopfte mit dem Knöchel gegen sein Grab, daß es klang wie ein silbernes Totenglöcklein, und da erfaßte mich eine unerklärliche Angst, und ich stand auf und fuhr den Weg zurück, den ich gekommen war, ohne mich einmal umzusehen, und war froh, als ich dann fern, und hoch auf dem Felsen, die Kirche mit den beiden Türmen erblickte, mächtig im Licht blinkend, und darunter die Dächer der Stadt.
 Bald hatte ich den Fuß des Kirchbergs erreicht und übte nun dort meine Schleifen und Kehren, und auch andere Kinder trieben sich spielend und schreiend und einander jagend auf der vereisten Fläche hemm, die meisten auf Schlittschuhen, aber nicht alle. Es wurde, je höher die Sonne stieg, um so wärmer, und auch das Eis bekam das zu spüren, das, vom scharfen Stahl zerkratzt und aufgerauht, längst nicht mehr blank wie ein Spiegel schimmerte, sondern wie von nassem, körnigem Schnee überstreut sich zeigte. Ich hielt mich seit einiger Zeit in der Nähe der steinernen Brücke auf, an der mich um Mittag der Vater abholen sollte, und lang war es nun nicht mehr hin. Ich begann, mich schon recht zu langweilen, aber die andern Kinder anzusprechen war ich zu schüchtern und zu hochmütig zugleich, und ich lächelte sie nur an, wenn ich an ihnen vorbeizog, und verlegen lächelten sie zurück.
 Übrigens wurden es ihrer immer weniger, das Eis war ihnen wohl nicht mehr glatt und schön genug, einzelne zogen ab, und dann erschienen auch oben auf der Straßenböschung, zu der kleine schmale Steintreppen emporführten, erwachsene Leute, die Eltern wahrscheinlich der Kinder, und forderten sie mit Winken und Zurufen auf, zu ihnen hinaufzukommen. Ob sie denn blind seien und nicht sähen, daß das Eis nicht mehr viel tauge? schrie eine alte Frau mit zornrotem Kopf, und eine andere und jüngere redete laut und aufgeregt von den Sorgen, die einem die Kinder eben immer machten. Und die Eisläufer schnallten widerwillig und nicht ohne Murren ihre Schlittschuhe ab und gingen, beschämt zu Boden blickend, wenn sie an mir vorbei mußten, über die Treppen zu den Rufenden und mit ihnen fort und stadteinwärts.
 Ich allein war dann nur noch auf der Straße, die Sonne glühte herab, und hoch oben stand die doppeltürmige Kirche in lauter Licht. Ich hatte den Mantel ausgezogen und trug ihn über dem Arm. Es hatten sich auf dem Eis nun schon Wasserlachen gebildet, die schwärzlich glänzten, und es war schön und belustigend, stürmisch durch sie hinzufahren, und zu sehen, wie das Nasse unter den Schlittschuhen aufspritzte und in der Luft regenbogenfarbig zersprang.
 Gerade sauste ich näher an die Brücke heran, da, und ich wollte meinen Augen nicht trauen, stand im Schatten der gewaltigen Pfeilerwölbung ein Boot, stand da ein Boot auf der Straße, und war mit einer eisernen Kette an einem verrosteten Ring befestigt, der in der grauen Steinwand eingemauert war, und auch zwei Ruder lagen in dem Boot, und eine lange, rot angestrichene Rettungsstange mit einem großen, gebogenen Eisenhaken an der Spitze war griffbereit daneben angebracht. Wie kommt das Boot auf die Straße? dachte ich, immer noch unbegreifend. Und was soll hier eine Rettungsstange? fragte etwas tief in mir, und ich schüttelte verstört den Kopf, aber dann wurde es mir mit einem Schlag klar, und das Herz stand mir still, daß ich, seit Stunden schon, nicht auf einer festen Straße gefahrlos mich tummelte, sondern, den Tod auf den Fersen, mitten auf einem Fluß, der unsichtbar unter der brüchigen Eisdecke dahinrauschte. Ich sah, was ich, unfaßlich verblendet und töricht, bisher nicht gesehen hatte, die Brücke, und wozu sie diente: die Leute über das Strömende zu bringen, und erkannte, daß die Treppen, die von der Böschung herabstiegen, Treppen ins Wasser waren, auf denen wohl, wie bei mir zu Haus auch, sommers die Wäscherinnen knieten und klatschend ihre Tücher schwenkten. Ich war wie erstarrt und wagte keine Bewegung mehr. Unter meinen Füßen schien das Eis zu schwanken, und mir war, ich hörte darunter das schwarze Wasser begehrlich gurgeln, und lodernd brannte die Sonne herab, alles Weiße zu zerschmelzen. Und der Fisch bei den Binsen kam mir in den Sinn, den ich im Eis begraben vorhin gesehen hatte, und er war von niemand verloren oder schnöde weggeworfen worden, der Frost nur hatte ihn überwältigt, als er zu hoch an die Oberfläche heraufgestiegen war, und er war wohl gar nicht tot, und die Sonne befreite ihn jetzt aus seinem Gefängnis, und er würde bald flossenbeweglich wieder dahinschießen, mit seinen Genossen spielend in der Flut.
 Das Ufer war nah, und ich machte einen Schritt hin, aber nur einen, und hielt dann entsetzt still und sah einen schwarzen gezackten Strich, der wie ein Blitz durch das Eis lief, das Eis war gesprungen, das Wasser sprudelte aus dem Riß hervor, gleich würde sich ein klaffender Schlund auftun, mich zu verschlingen. Ich hatte gelesen, und das schoß mir jetzt durch den Kopf, daß es gut sei, in solcher Gefahr, wie sie mir drohte, sich flach ausgestreckt auf das Eis zu legen, um das Gewicht besser zu verteilen, und so warf ich den Mantel vor mich hin und ließ mich zitternd, zuerst kniend und dann auf dem Bauch liegend, darauf nieder, das Gesicht gegen das Ufer gerichtet. Von der Brücke her kam eine Krähe geflogen und setzte sich auf die Böschung, mir gegenüber, und äugte unverwandt zu mir her, was ich da wohl triebe auf dem Eis? und die Federn des Vogels erstrahlten in einem schwärzlichen Blau. Die Nässe des schmelzenden Eises drang kalt und fürchterlich durch den Mantel, ich erschauerte in der prallen Sonne, wie ich so lag und mich nicht zu rühren getraute. Das Wasser unter mir floß schnell und kalt, ich glaubte es zu sehen, und Fische waren in dem Wasser, sie konnten leben und atmen da unten, die Beflossten, wie wunderbar war das! Und vielleicht hatten sie mich erspäht, hatten durchs Eis hindurch mich gesehen, und sogleich schwammen sie neugierig herbei. Von überallher kamen sie, aus der Tiefe herauf und aus ihren Schlupfwinkeln in den Uferlöchern, große und kleine Fische, spitznasige und solche mit stumpfen Mäulern, weißgeschuppte und bräunlichgrüne und rotgetupfte, und lange Aale dazwischen, wie schwarze Schlangen, und alle standen schräg aufwärts in der Flut und glotzten mit kalten Augen zu mir herauf, mit den Schwänzen schlagend, um sich auf der Stelle zu halten. Und der Fluß schickte alle seine Fische, von weither, mit der Strömung kamen sie geschwommen, und gegen die Strömung, und alle sammelten sich unter mir, und so viele waren es, daß ihre glänzenden Leiber sich berührten, und alle starrten sie nach oben, Raubfische, Hechte und Bürstlinge, und die sanften Weißfische. Und nun begannen sie mit den Nasen gegen das Eis zu stoßen, einzelne zuerst, dann alle, immer wieder, das gab einen sanften schnalzenden Laut, den ich zu hören vermeinte, und so sanft die Stöße waren, mir war, das Eis beginne davon zu beben, und wenn es jetzt brach, so würde ich mitten zwischen die Tiere fallen, und die würden, dicht aneinandergedrängt, mich auf den Rücken nehmen, und sich langsam sinken lassen, und mich davontragen durchs nasse Dunkel, die Aale voran, wie um den Weg zu weisen dem Zug, schwarz jubelnd, und Weißfische würden ihn umblitzen und Rotaugen.
 So sah ich den Zug, und mich von den Fischen getragen, nicht anders, wie ich manchen Leichenzug schon hatte durch die Straßen ziehen sehen, und ich fürchtete mich auf einmal nicht mehr so sehr. Plötzlich schrie die Krähe drüben auf der Böschung mißvergnügt auf und hob sich empor, und flog flußabwärts. Ich sah eine Gestalt eilig am Ufer entlang laufen, mit flatternden Mantelschößen, es war mein Vater, und vor ihm war der schwarze Vogel geflüchtet. Und als hätten auch die Fische unter mir die nahenden Schritte gehört, so stoben sie auseinander, zuckend, und nach allen Richtungen davon, die Betrogenen, ich spürte es. Der Vater rannte auf die Treppe zu, die zum Fluß herabführte, und begann sie herabzusteigen, und ich konnte sehen, daß sein Gesicht trotz der Anstrengung des Laufens kreidebleich war. Ich schrie ihm zu: gleich da vorn, unter dem Brückenbogen, sei die rote Rettungsstange, die solle er holen und mich mit ihr ans Ufer ziehen! und war in aller Verwirrung noch stolz auf meinen männlich-klugen Rat. Aber der Vater hörte gar nicht auf mich, er trat auf das Eis, erprobte aufstampfend dessen Festigkeit, und ging dann entschlossen und mit schnellen Schritten auf mich zu. Da bekam ich auch Mut und wollte aufstehen, ihm entgegenzugehen, aber das Eis hielt mich fest, wie mit saugender Gewalt, und es gelang mir nicht, in die Höhe zu kommen.
Dann war der Vater auch schon bei mir, und bückte sich, ich spürte seinen warmen Atem im Genick, und er packte meinen Mantel, und ich preßte meinen Mund auf seine Hand, die dicht vor meinem Gesicht war, und so zog er mich, als läge ich auf einem Schlitten, über das Eis und den sanft knirschenden Schnee ans Ufer.
 Dort hob er mich auf und stellte mich auf die Beine, die mich zitternd trugen, und schüttelte mich lachend, und ich lachte mit, lang und laut und schallend, und konnte so bald nicht aufhören, immer neues, stoßendes Gelächter kam aus meiner Brust, aber die Augen hatte ich voll Tränen. Er half mir dann, die Schlittschuhe abzuschnallen, allein hätte ichs nicht gekonnt, so flogen mir die Hände, und ich sah auf den Strom hinaus, der unschuldig und weiß glänzte, und auf den glatt gefegten Streifen, den meine Mantelfahrt auf dem Eis hinterlassen hatte.
 An den vielen Weidenstümpfen hätte ichs erkennen müssen, und an den Binsen, sagte ich dann, daran wenigstens! und schwieg von dem Fisch. Und mein Vater erzählte, er habe, als er die letzte Verhandlung an diesem Vormittag zu einem guten Ende gebracht hatte, so nebenbei dann seinem Geschäftsfreund gesagt, er ginge nun, seinen Sohn abzuholen, der auf dem Eisplatz unter der Kirche Schlittschuh liefe. Auf dem Fluß? habe der bedenklich gefragt, und da sei er, Schlimmes ahnend, wild losgerannt, und da habe er mich nun, sagte er, und Unkraut verderbe nicht, und er lachte, und schüttelte mich wieder, daß es mir fast weh tat, und sein Gesicht war rot und gesund wie sonst immer auch.
 Er hing mir den nassen Mantel um die Schultern, und wir gingen die Böschung entlang auf die Stadt zu, und eben schlug es zwölf Uhr von allen Türmen, und am mächtigsten dröhnte die Glocke der Kirche hoch auf dem Felsen. Unter dem Brückenbogen kam ein Mann hervor, auf  Schlittschuhen, und fuhr gemächlich flußabwärts. Wir winkten ihm zu, er winkte zurück, wir sahen ihm lang nach, und jäh und wild erfaßte mich der mörderische Wunsch, daß er einbrechen möchte auf dem tückischen Eis, jetzt und jetzt. Ich wehrte mich voll Scham, aber das abscheuliche Verlangen ließ sich nicht vertreiben, in die Tiefe sollte er sausen, der Eisläufer, so begehrte ich inbrünstig, zu den Fischen und Aalen, und mir und dem Vater zeigen, in welcher Gefahr ich mich befunden hatte. Aber der schwarze Mann auf dem weißen Eis glitt sicher dahin, immer kleiner wurde er, und auch vor ihm flogen die Krähen auf und landeinwärts, wie sie es vor mir getan hatten, und vielleicht war auch sie darunter, die auf der Böschung hockend mich neugierig belauert hatte.
 Ich sah meinen Vater an und wurde blutrot. Plötzlich lief er ein paar Schritte zurück, bückte sich, machte sich Schneebälle, zielte und schleuderte den ersten Ball gegen mich, der mich aber verfehlte. Ich warf Mantel und Schlittschuhe hin und nahm den Kampf auf. Die Bälle sausten hin und her, wir trafen einander, und schossen vorbei, das dauerte so eine Weile, und dann wurden die Würfe meines Vaters heftiger, mir war, Wut und strafender Zorn zucke wie eine Flamme ihm übers Gesicht, aber das verging, ehe ichs noch recht gewahr geworden war, im ruhigen Flug durchmaßen die weißen Kugeln dann wieder ihre Bahn, bis wir atemlos, in der Sonne glühend, und Schnee auf den Kleidern und in den Haaren, Frieden schlossen. Und am andern Tag fuhren wir nach Haus.