zurück zum Inhaltsverzeichnnis
© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung

Band 5  Seite 64
Kommentar Seite 372

Aus: »Der Schneckenweg«


Ulrich unter der Weide

Ulrich, unser Mann, der Mann dieser Geschichte, fünfunddreißig Jahre alt und unverheiratet, konnte auch sonst frei und unabhängig sich nennen, weil er, unverletzt aus den Schützengräben des Weltkriegs zurückgekommen, mit seiner zeichnerischen Tätigkeit mühelos so viel verdiente, daß es zu einem einfachen Dasein in zwei Zimmern eines großstädtischen Mietshauses reichte, und er, in Unterständen und Betonklötzen zu hausen jahrelang gewohnt, vorläufig mehr auch nicht begehrte an Wohlstand und Behaglichkeit und festem Lebensglück. Dieser Mann Ulrich also saß an einem klaren Januarvormittag am abgeräumten Frühstückstisch, über dem eine weiße, frisch gewaschene Decke lag, und sah durchs Fenster die beschneiten Dächer, und die Arbeit wartete auf ihn, aber er war ganz und gar unlustig jetzt, mit Schnörkeln und schwarzem Rankenwerk sich zu beschäftigen.
 Er hatte schon die ganze Zeit her sich vorgenommen gehabt, für eine Woche oder auch zwei zur Erholung in das nahe Gebirge zu fahren, und hatte es zögernd immer wieder hinausgeschoben. Aber nun, in dieser Stunde, vor der schneeweißen Decke, die wie ein winterliches Feld sich vor ihm breitete, war ihm auf einmal, am besten sei es, morgen zu der kleinen Unternehmung aufzubrechen. Während er die geringen Vorbereitungen bedachte, die er zu treffen hatte, zog er die Tischschublade auf, seinen dort verwahrten Geldvorrat zu überprüfen, und sah eine Orange, die er gestern in die Schublade getan hatte, holte sie heraus und legte sie auf den Tisch. Spielend, und in Gedanken schon unterwegs in die Berge, stieß er mit den kleinen Finger gegen die Frucht, und sie rollte dahin, und ihr Schatten war wie eine blasse, rötliche Scheibe auf dem Tuch. Ulrich ließ die glänzende Kugel zwischen seinen beiden Händen hin und her wandern. Weich prallte sie gegen seinen Handteller, sprang, als sei sie lebendig, davon ab, lief die Bahn zurück, und hin und her, bis er, des dummen Spiels müde, plötzlich eine Hand hochhob, daß die Genarrte unter ihr wegglitt, weiter lief, das Tischende erreichte und abstürzte, mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fiel, dort weiter rollte, und erst an der Zimmerwand haltmachte. Da hob Ulrich die Frucht auf und legte sie achtlos wieder in die Schublade, und begann sein Geld nachzuzählen.
 Am andern Tag saß er im Zug, und sah, wie die Berge immer näher heranrückten und wie sie immer größer wurden, und die Häuser immer kleiner, und wie der Schnee sich immer höher häufte neben den Bahngeleisen, und nach zwei Stunden schon war er in Eichhausen am Aprersee. In dem Wirtshaus, das ihm von Bekannten empfohlen worden war, nahm er ein Zimmer im ersten Stock, das zwar klein war, aber desto besser zu heizen, wie ihm die Wirtin versicherte, und dessen Fenster überdies den Blick über den See und zu den Bergen freigab. Er räumte seine Wäsche ein und ein paar Bücher, und weil es inzwischen schon fast fünf Uhr geworden war und es bald dunkeln würde, wollte er, sich noch bei Tageslicht etwas vertraut zu machen mit der neuen Umgebung, durchs Dorf gehen und hinunter zum See.
 Das Wirtshaus hieß »Zum Florian« und hatte seinen Namen davon, daß auf der Stirnwand in bunten Farben ein Bild des Heiligen gemalt war, der in Feuer und Feuersnot sich oft schon gnädig bewährte. Er war wie ein Kriegsmann dargestellt, mit Brustpanzer und Beinschienen, und um die Hüften trug er ein kurzes Gewand, das wie ein Kinderröckchen aussah, und auf dem Kopf einen großen Helm mit wallendem Federbusch. Aus einer Schöpfkelle goß er einen Wasserstrahl auf ein Haus, das klein zu seinen Füßen war und aus dessen Dach blutrote Flammen züngelten, während die aufgescheuchten Bewohner es jammernd umstanden. Auf seinem Gang durch das Dorf sah Ulrich noch mehr Häuser, die mit buntfarbigen Schilderungen kräftig ausgeschmückt waren, Gottvater im Bart zeigend, und die himmlische Taube, und Engel und Blutzeugen. Der Tag war nicht sehr kalt, und als Ulrich vorm See stand, war der auch gar nicht gefroren, schwarzblau war das Wasser und ohne Bewegung, groß und traurig glänzend lag die weite Fläche vor ihm, und dicht vor ihm stieg trockenes Schilf aus der Flut, gelblichbraun und stachlig.
 So stand er, und langsam kam der Abend über den See, mit leichten Nebeln, es wurde kälter, und Ulrich ging ins Dorf zurück, wo die ersten Lichter dumpfrötlich durch die kleinen Scheiben auf die Straße sahen, und ging ins Wirtshaus und in die dämmrige Wirtsstube, und setzte sich in die Ecke neben den großen, grünen Ofen, und legte die Hände an die gebuckelten, warmen Kacheln. Es war still in der Stube, und er der einzige Gast, und eine Kuckucksuhr tickte im braun verräucherten Holzgehäus. Es trat jemand ein, durch die Tür hinter dem Schanktisch, und eine Stimme sagte: Guten Abend! und fragte, was er bestellen wolle, und er bestellte roten Wein. Den brachte das Mädchen und wünschte: Zum Wohlsein! und drehte das Licht an. Das Mädchen trug die dunklen Haare in einem Knoten im Nacken und hatte einen gelassenen Blick, mit dem sie ihn jetzt unbefangen musterte, und fragte, ohne Neugierde, aber mit einer ruhigen Höflichkeit, wie lange er bleiben wolle? und riet ihm, wohin von Eichhausen aus sich schöne Ausflüge machen ließen, und ließ ihn dann allein, weil andere Gäste eingetreten waren, Leute aus dem Dorf, die sie zu bedienen hatte.
 Ulrich, mit dem Rücken am warmen Ofen, trank von seinem Wein und genoß das Behagen der Stunde. Die Männer drüben spielten Karten, und das klatschende Geräusch, mit dem sie das As und den König auf den blank gescheuerten Tisch warfen, und das Klingeln der Münzen in den kleinen Blechtellern drang friedlich zu ihm. Anna, so sagten die Spieler zu dem Mädchen, ging ab und zu, ihre Arbeit zu verrichten. Sie mochte Mitte der Zwanzig sein und trug nach Landessitte das helle, gewürfelte Miederkleid, das den Frauen so gut ansteht, mit der weißen Zierschürze darüber, und auch weiße Strümpfe zu den schwarzen, festen Schuhen. Später verlangte Ulrich zu essen, und es schmeckte ihm wie schon lange nicht mehr, und auch der rote Wein gefiel ihm, und er bestellte ein zweites Glas und ein drittes. Es hätte langweilig sein können für ihn, so allein in der Ofenecke, aber so war es gar nicht. Er sah Anna zu, wie sie kam und ging mit rauschendem Rock, und sie hatte es wohl bemerkt, daß er sie nicht aus den Augen ließ, und auch sie sah ihn manchmal an, aber es war gar nicht leichtfertig, wie sie das taten, und sie wurden auch gar nicht verlegen dabei. Und auch als er zahlte, versuchte er es nicht mit einem scherzenden Wort, und sie schien auch keins zu erwarten, mit Gewissenhaftigkeit rechnete sie mit ihm ab, und ohne den Kopf dabei zu erheben, und dann ging er auf sein Zimmer.
 Oben trat er ans Fenster. Der See blinkte dunkel her, und der fast schon volle Mond war da und gab sein Licht, aber die entfernten Berge waren nicht zu sehen, weil weiter hinaus der Himmel mit weißlich schimmerndem Gewölk bedeckt war. Als er ausgestreckt im Bett lag und sich wohlig dehnte, und das glatte Leinen angenehm empfand, war ihm frei und heiter zumut, wie einem Kind wohl, dem Feiertage bevorstehen, und so schlief er ein.
 Als er erwachte am andern Morgen, und nicht gleich wußte, wo er sich befand, aber dann Zimmer und Schrank erkannte, und ihm die Erinnerung zurückkehrte, setzte er sich glücklich im Bett auf. Es schneite, er sah es durchs Fenster, nicht in dicken, großen Flocken, ein schöner frostiger Schnee war es, einer der liegen bleiben und nicht am Boden gleich zu Wasser zergehen würde, das sah man ihm an. Ulrich zog sich eilig an, obwohl er es doch gar nicht eilig hatte, und er blieb ja auch noch eine Weile stehen am Fenster. Der See war nicht zu sehen, und nicht die Berge, vom wehenden Schnee eingehüllt, aber eine große Helligkeit lag draußen, die anzeigte, daß der Schneefall bald aufhören würde.
 Dann ging er in die Wirtsstube hinab. Die sah freundlich und aufgeräumt her, und er setzte sich an seinen Platz am grünen Ofen, und Anna brachte ihm das Frühstück. Es hielt ihn nicht lang, mächtig trieb es ihn in den Winter hinaus. Wirklich hatte es fast aufgehört zu schneien, nur vereinzelt noch und wie verflogen legten sich ihm zarte Flöckchen ins Gesicht. Der Himmel war grau, aber er hatte schon Stellen, wo ein hell glänzendes Blau durchbrach. Ulrich ging durch das Dorf, aber nicht zum See hinab diesmal, er ging landeinwärts, den Bergen entgegen, die sich mächtig vor ihm aufstellten.
 Er war noch keine Stunde gegangen, zuerst noch zwischen Plankenzäunen dahin, dann auf der freien Straße, die in vielen Windungen sich krümmte, und der Schnee knirschte lustig unter seinen Schuhen, als er an ein einsames Haus kam, das hinter einem festen, hölzernen Zaun an der Straße stand. Es war kein Bauernhaus, wenn es auch mit geschindeltem Dach und einem eisernen Wetterhahn darauf und kleinen Fenstern so tat, es war ein Landhaus, wie Städter es sich bauen lassen, zu kurzem Aufenthalt dann und wann, und es war nicht zu erkennen, ob es jetzt bewohnt war. Zwar an den Fenstern waren Vorhänge angebracht, sauber gefältelt, und die Scheiben blitzten frisch geputzt, aber aus dem Kamin stieg kein Rauch, still und frierend lag das Haus da. Ulrich war vor dem Haus stehen geblieben, und obwohl es peinlich für ihn sein mußte, wenn daraufhin sich jemand zeigte, klatschte er schallend in die Hände, daß er selbst erschrak über den frechen Lärm. Aber nichts rührte sich in dem Haus, der Wetterhahn flog nicht auf, und niemand trat neugierig ans Fenster, nach dem Störenfried Ausschau zu halten, der nun schnell und beschämt weiterging. Nach einiger Zeit verließ er die Straße, die ihn an die Berge herangebracht hätte, wohin er nicht wollte, die Riesen nur von fern zu schauen war er diesmal gekommen, und ein Nebenweg führte ihn auf einem Steg über einen tief verschneiten Bach und in einem großen Bogen hinunter zum See, der in der prallen Sonne glänzte, und dem Seeufer entlang wieder ins Dorf zurück und ins Wirtshaus.
 Auf dem Tisch vorm grünen Ofen war gedeckt, für ihn gedeckt, er sah es gleich, als er in die Wirtsstube eintrat. Und kaum saß er, brachte Anna den dampfenden Suppenteller und Fleisch und Gemüse, und er aß, und es war ihm zumut, als sei er schon oft, schon seit Tagen, hier essend gesessen, und er war doch gestern erst angekommen. Anna bediente ihn mit unaufdringlicher Sorgfalt. Sie erriet an seinem suchenden Blick, daß er Salz wolle, und brachte es herbei, und in das Brotkörbchen hatte sie Scheiben schwarzen Brotes gelegt, und weiße Hörnchen und Kipfeln und Brezeln zur Auswahl, und im Glas funkelte ihm der rote Wein. Am abgeräumten Tisch blieb er noch ein wenig sitzen und ließ sich von Anna erzählen, daß der Wirt, ihr Onkel, vor einem halben Jahr gestorben sei, und sie nun hier, der Tante beizustehen in der ersten schweren Zeit, und dabei zu lernen, sich in Haus und Küche umzutun, und das sei nützlich für sie und sie würde das Gelernte auch anwenden können, weil ihre Eltern selber einen Gasthof besäßen in einer benachbarten Ortschaft. So schwatzte sie, und der Kuckuck fuhr aus der Uhr heraus und schrie gellend die Zeit.
 Als Ulrich zu zahlen verlangte, und sie, neben ihm sitzend, auf einem Zettel mit ihm abrechnete, kamen ihrer beiden Hände aneinander zu liegen, und eine Röte stieg in ihr Gesicht, aber ihre Hand zog sie nicht zurück, und er seine auch nicht. Und sie blieb sitzen am Tisch, als er aufstand und ging, und als er unter der Türe sich umblickte, sah er mit Verwunderung, daß sie ihre Hand auf dem Zettel hatte liegen lassen, als scheue sie sich, ihre Lage zu verändern, und mit großen Augen sie betrachtete, ihre feste Mädchenhand.
 Später, nach einem kurzen Schlaf, machte Ulrich sich auf zu einem Spaziergang, und er schlug den Weg ein, den er heut schon einmal gegangen war. Es war ein strahlender Wintertag nun geworden, mit einem blauen Himmel ohne jede Wolke, und der Schnee ringsum blendete die Augen. Er kam an das einsame Landhaus wieder, und blieb stehen am Zaun, gerade vor der Tür, und kein Täfelchen daran zeigte den Namen des Besitzers an, und er sah auf das Haus hin, das stumm da lag. Lange blieb er so stehen, in der Sonne, und spürte ihre Wärme, und sah zu dem Wetterhahn auf dem Dach hinauf, der in der Sonne blitzte, und sah von Fenster zu Fenster, und dann drückte er mit einem festen Ruck die Klinke an der Tür nieder. Das gab einen kreischenden Ton, aber die Tür war versperrt und ließ sich nicht öffnen. Dem das Haus gehört, der ist in der Stadt, sagte er sich, aber er sagte es sich ein wenig ungläubig, und voll Mißtrauen war ihm, er würde beobachtet, was er denn da triebe, wo er doch nichts zu suchen hatte, und die Fenster schienen ihm wie Augen zu sein, die ihn belustigt betrachteten. So wandte er den Blick von ihnen und sah den Wetterhahn an, der den Schnabel keck in die Lüfte hielt, als wolle er gleich zu krähen beginnen, und ärgerlich über sich setzte er seinen Weg fort, zum See hinunter.
 Auf einem dürren Baum am Ufer saßen ein paar Krähen, die aufflogen, als er ihnen zu nahe kam, und sie waren das einzige Lebendige weit und breit, wenn man nicht den See als etwas Lebendiges nehmen wollte, der spielend kleine Wellen ans Land warf. Ulrich ging den schmalen Uferweg dahin, und ließ sich Zeit dazu, und er blieb stehen, und bückte sich, und begann aus dem Schnee eine Kugel zu formen, und dabei kniete er nieder im Eifer der Arbeit. Der Schnee ließ sich willig kneten und pressen, und wurde zu einem Menschenkopf, und der nahm die Züge des Mädchens Anna an, und das Gesicht war zuletzt sogar sehr ähnlich geraten. Aber Ulrich brauchte nur die Nase ein wenig spitzer zu machen, und den Mund voller, und da einen Griff zu tun und hier einen, und schon war es eine fremde Frau, die ihn ansah, und daß es so leicht war, ein Gesicht in ein anderes zu verwandeln, das verdroß ihn wie oft schon. Aber ebenso rasch, und er lachte, war ja das frühere Gesicht wieder hergestellt! Er machte eine Grube in den Schnee, und legte den Kopf hinein, und schaufelte mit den Händen die Grube wieder zu, und es freute ihn, daß, von niemand zu sehen, Annas Bild da unten nun war, wie ein verlorenes Goldstück im Schnee. Er erhob sich wieder, und ging ins Dorf zurück, wo die bemalten Häuser standen, und ging in den »Florian« und in sein Zimmer. Er las ein wenig, aber ohne Aufmerksamkeit, und es begann zu dämmern, und er drehte das Licht nicht an, und blieb im Dämmern sitzen, und sah durchs Fenster die schwarze Nacht kommen. Und als in der schwarzen Nacht der Mond herauf kam, und viele Sterne herauf kamen, verließ er das Zimmer, und ging hinunter in die Wirtsstube, den nun schon gewohnten Gang, zu der gewohnten Stunde.
 Die spielenden Männer saßen schon auf ihrem Platz, und hoben die Köpfe von den Karten, als Ulrich eintrat, und grüßten ihn vertraulich. Und Anna brachte ihm das Essen, und das Essen war gut, und der rote Wein schmeckte ihm, und er brachte es auf vier Gläser im Laufe des Abends. Und der dehnte sich lange, aber ihm schien er kurz, Ulrich in seiner Ecke am grünen Ofen, obwohl er nichts tat als sitzen und schauen und trinken, und sich des stillen Einverständnisses freuen, das zwischen ihm und Anna war. Die war geschäftig in ihrem Dienst, heiter jeden Zurufs gewärtig der Gäste, und Scherz mit Scherz schlagfertig erwidernd, fröhlicher, als er sie je gesehen, und es wohl auch ihre Art war sonst. Und auch der Wirtin hinter dem Schanktisch fiel das veränderte Wesen der Nichte auf, und als sie fragte, was ihr denn geschehen, und ob sie das große Los gewonnen habe vielleicht, fuhr das Mädchen zusammen, und warf einen schnellen Blick auf Ulrich, ob er die Frage wohl vernommen, aber der tat, als habe er nichts gehört, und trank andächtig von seinem Wein.
 Plötzlich war es finster in der Stube, das Licht war ausgegangen, und aus dem Dunkel schrie einer, das Kraftwerk habe wieder einmal eine schwache Stunde, wie oft in der letzten Zeit. Es kamen die Wirtin und Anna mit brennenden Kerzen, die sie auf die Tische stellten, und weil es schon auf Mitternacht ging, begann ein allgemeiner Aufbruch, und bald saß Ulrich allein noch in der Stube, und war der letzte, der zahlte.
 Und dann stand Anna vor ihm, in jeder Hand einen Leuchter, und sagte, sie wolle ihn auf sein Zimmer geleiten, über die dunkle Treppe. Sie ging ihm voran, und ihre schwarzen Schatten gingen an der weiß gekalkten Wand mit. In seinem Zimmer blieb sie stehen und sah sich um, die still brennenden Lichter in den Händen, und ihr beleuchtetes Gesicht trug einen solchen Ausdruck reiner Empfindung, daß er erschrak. Sie stellte einen der Leuchter auf den Tisch, und gab ihm die Hand, und ging, und ließ ihn allein im Zimmer, das nun, im gelben Kerzenschein, das alle Ecken im Dämmern verschwimmen ließ, größer aussah als sonst. Als er im Bett lag, und im Entschlummern schon, war ihm, die Leuchterträgerin stünde noch vor ihm, und ihr Gesicht war traurig jetzt, und sie hob die eine Kerze an den Mund, und blies sie aus, und die andere, und nun versank ihr Gesicht im Schwarzen, und er schlief ein.
 Am andern Morgen, nach dem Frühstück, das ihm die Wirtin gebracht hatte, und Anna war nicht zu sehen gewesen, trat er ins Freie. Nachts mußte es wieder geschneit haben, man sah es, und er ging langsam durchs Dorf, und überlegte am Dorfausgang, ob er nicht einen andern Weg nehmen sollte als gestern. Aber die Wiederkehr alles dessen, was er tat, hatte ihm so wohl getan bisher, und dabei sollte es auch bleiben, und so schlug er die alte Richtung ein, den Bergen zu, und zu dem Landhaus. Friedlich lag es da, die Fenster spiegelten in der Sonne, das schillerte und glänzte wie närrisch, und der Wetterhahn auf dem Dach krähte sein stummes Lied. Ulrich blieb diesmal nicht stehen vor dem Haus, obwohl ihm das schwer fiel, er ging seinen Weg weiter, und schneller, und sah sich nicht um, obwohl er das gern getan hätte, und ging wieder hinab zum See, wo die Krähen schrien und die Wellen zu tun hatten, den Schnee am Ufer in Eis zu verwandeln. Hoch am Himmel stand die Sonne, und er versuchte sie anzusehen und hielt die Hand vor die Augen, und spähte. durch die geöffneten Finger hindurch, wie ein Kind durchs Schlüsselloch nach Verbotenem. Ein Strudel von Gold und Feuer kochte da oben, steigend und fallend, und spritzte Funken um sich, und die tropften herab auf den See, ein glühender Regen, daß er meinte das Zischen zu hören, mit dem das Wasser den feindlichen Bruder empfing. Er mußte die Augen schließen, so taten sie ihm weh, und ein Stück des Weges im Dunkeln tappen, bis er sie wieder brauchen konnte, die beleidigten, zu ihrem gewöhnlichen Dienst.
 Und als er zu Mittag in der Wirtsstube sich einfand und auf seinen Ofenplatz sich setzte, kam Anna aus der Schenke eilig auf ihn zu, und daß sie heute früh von der Tante zu Besorgungen in den Ort geschickt worden sei, erklärte sie ihm eifrig, und ihm deshalb das Frühstück nicht habe bringen können wie sonst, und ob es denn die Tante an nichts habe fehlen lassen? Aber was sie denn da alles zusammen rede! sagte sie und lachte, und als ob die Tante das Geschäft nicht ebenso gut und besser verstünde, und gleich hole sie ihm jetzt die Suppe statt zu schwatzen! Und sie lief in die Küche, und nach der Suppe brachte sie ihm einen Schweinebraten, der war braun und knusprig, und Ulrich trank einen Roten dazu, und war vergnügt, und als er nach dem Essen in sein Zimmer hinauf ging, ein wenig zu schlafen, nahm er seine gute Laune noch in den Schlaf hinein mit, und so schlief es sich gut.
 Am Nachmittag, das war nun schon nicht anders, ging er den gewohnten Weg, durchs Dorf hindurch, und die Sonne blitzte am blauen Himmel, und das war nun also erst der dritte Tag, daß er hier in Eichhausen war, und er freute sich auf die kommenden, und er schritt rascher aus, als ginge er ihnen entgegen, und so sah er bald das Landhaus vor sich liegen, und vor der Tür im Gartenzaun blieb er stehen. Er legte die Hand auf die Klinke, und drückte die Klinke nieder, und die Tür ließ sich öffnen diesmal, und erschrocken sah er zu dem Wetterhahn hinauf. Kurz entschlossen ging er durch den Vorgarten auf das Haus zu, und versuchte die Haustüre zu öffnen, aber sie war versperrt. Er bog um die Hausecke, und an der Rückseite des Hauses war wieder eine Tür, und die tat sich auf, als er die Klinke niederdrückte. Er trat in einen halbdunklen Flur, und sah wieder eine Tür vor sich, und während er schon die Hand hob, zu versuchen, ob sie sich öffnen ließe, sagte er sich, daß er, wenn er jemanden anträfe in dem Haus, sagen könne, daß er ein Zimmer zu mieten suche.
 So drückte er den Türgriff nieder, und stand in einem Zimmer, das hell von der Sonne beleuchtet war. Eine junge Frau saß auf einem Stuhl vor einem Tisch, und auf dem Tisch war Teegeschirr, Kanne und Zuckerschale und Tasse, und die Tasse war gefüllt mit dem goldgelben Getränk, das dampfte und duftete, und ein Löffel war in der Tasse, und die junge Frau hielt einen Hund am Halsband fest, und der Hund knurrte leise, aber die Frauenhand drückte seinen Kopf beschwichtigend gegen den Boden.
Die junge Frau war zierlich gewachsen, sie hatte helle Augen, mit Brauen darüber, die sich nur wenig abhoben von der weißen Haut des Gesichtes und ihm so etwas Flaches gaben, wie es Masken haben. Mit diesen hellen Augen sah die Frau Ulrich entgegen, gar nicht überrascht, gar nicht erschreckt, die Augen sahen so, als seien sie eben in einem Gebiet der Einbildungskraft geschweift, wo nichts unmöglich ist, da konnten sie nicht erschrecken vor dem Anblick eines gewöhnlichen Mannes, wenn der auch etwas unerwartet gekommen war, und mit einer hohen, singenden Stimme sagte sie jetzt: »Bitte?« Der Hund knurrte, und Ulrich stand verlegen an der Tür, und die Frau hatte:
»Bitte?« gesagt, und so nahm er sich zusammen und fragte, was zu fragen er sich vorgenommen für den Fall, daß er das Haus bewohnt fände, und fragte also, ob hier nicht ein Zimmer zu vermieten sei? »Das ganze Haus«, schrie aber die junge Frau, »das ganze Haus, vom Keller bis zum Dachboden!« und sie lachte laut, und hörte auch nicht auf zu lachen, als ihr schon die Tränen übers Gesicht liefen. Sie schob Kanne und Tasse zurück, und legte das Gesicht auf die Tischplatte, daß man die Tränen nicht mehr sehen konnte, und war ganz still nun, nur die Hand zitterte, die immer noch dem Hund den Kopf gegen den Boden drückte, aber das wäre nicht mehr notwendig gewesen, denn der Hund knurrte nicht mehr.
 An den Wetterhahn auf dem Dach, an ihn mußte Ulrich jetzt denken, der frei und allein in den Lüften war, weit spähend über den Schnee hin, und er wäre am liebsten gleich wieder gegangen, um draußen zu sein, noch ehe die Frau den Kopf wieder hob, aber da richtete sie sich schon wieder auf, und sie weinte nun schon nicht mehr, als sie sagte: »Nun müssen Sie schon bleiben!« Und sie ließ den Hund los, der Ulrichs Schuhe beschnupperte, und zum Ofen trottete und dort sich niederlagerte in der Wärme.
 Daß sie ein schönes Zimmer frei habe, sagte die Frau dann ganz ruhig, im ersten Stock, auch mehrere, und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und er könne sich eines aussuchen davon, ganz nach seiner Wahl. Da drin, und sie nahm ein Glasröhrchen auf, das neben der Teekanne lag, und wies es ihm auf der flachen Hand vor, da drin sei genug von dem weißen Zeug, das rasch und schmerzlos aus dem Leben forthelfe, mehr als genug, und wenn er nur etwas später gekommen wäre, sie sagte es mit einer schrecklichen Vertraulichkeit, und der Ausdruck ihres Gesichtes veränderte sich nicht dabei, so hätte er wohl einen lebenden Hund hier im Zimmer vorgefunden, aber eine tote Frau. Sie schwieg, und die Stille war drückend, und wie im Märchen gelüstete es Ulrich, sich an der Nase zu zupfen, ob er auch wache, und nicht schliefe und träume. Nun, es habe sich anders gefügt, fuhr die Helläugige fort zu reden, und sie sagte es kopfschüttelnd, und als könne sie es noch nicht recht glauben, und wog das Röhrchen in der Hand, und schwer war es nicht, das todbergende, denn es drehte sich beweglich hin und her. Und nun sei er wohl selber der Meinung, sprach sie, daß es kein Zufall gewesen sein könne, der ihn zu ihr geführt, und daß er nun auch bleiben müsse. Sie sagte es mit einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch duldete, und wo er seine Sachen habe, im Dorf oder noch auf der Bahn? - bald käme ihre Zugehfrau, die Kreszenz, und die werde gern vor Nacht noch sein Gepäck holen.
 Die Sonne schien in das Zimmer, die weißen Bodenbretter glänzten, und der Hund vorm Ofen legte sich, behaglich schnaufend, auf die andere Seite. Die Frau vor ihm war nicht aufgestanden und saß immer noch auf dem Stuhl vorm Tisch, das Glasröhrchen nun fest in der Faust, auf seine Antwort wartend und zuversichtlich zu ihm aufblickend, als habe sie ihm den alltäglichsten Vorschlag von der Welt gemacht, und er stand immer noch an der Tür, die er nicht hinter sich geschlossen hatte, aber nun tat er es. Er wußte nicht, was er denken sollte von dem allen, und noch weniger, was er nun sagen sollte. Denn daß hier nicht frech gescherzt wurde mit ihm, das fühlte er, und daß, wenn er nun schon gekommen war, wie vom Himmel gefallen, und gerade zu dieser Stunde, er nicht einfach wieder gehen konnte, mit ein paar tröstenden und aufrichtenden Worten vielleicht, billig dargereicht, und sie nicht allein lassen durfte jetzt, und vielleicht blieb ihm wirklich nichts übrig, als vorläufig gute Miene zu machen zu dem absonderlichen Spiel, das doch keins war, sondern bitterer Ernst, für sie wenigstens.
 Die Frau war aufgestanden, und als habe sie in seinem Gesicht gelesen, sagte sie mit erlöster Stimme, und deutete auf den Schreibtisch, der am Fenster stand, er möge doch gleich das Nötige veranlassen, daß man der Kreszenz sein Gepäck übergebe. Es sei im »Florian«, sagte Ulrich, und setzte sich, und sah sich undeutlich gespiegelt auf der glänzenden Tischplatte, und tauchte die Feder ins Tintenfaß, eine gläserne Kugel war es. Er habe ein anderes Zimmer gemietet, schrieb er gehorsam, dessen Aussicht zu zeichnen oder mit Wasserfarben zu malen ihm am Herzen liege, so log er, und nach Beendigung dieser Arbeit, in zwei oder drei Tagen vielleicht schon, werde er wieder in den »Floriane zurückkehren, wo er zu seiner größten Zufriedenheit untergebracht gewesen sei, und der beiliegende Geldschein sei für die Begleichung seiner Zimmerschuld.
 Die Kreszenz war gekommen, eine stämmige Frau von fünfzig Jahren, mit einem roten Gesicht, und hatte erfahren, daß der Herr hier ein Zimmer im ersten Stock gemietet habe, und nachdem sie den Ofen angeheizt im Zimmer des Gastes und ihre Einkäufe in der Küche verwahrt, war sie gleich wieder aufgebrochen, ins Dorf, um nicht allzu spät wieder zurück zu sein, vor Einbruch der Dunkelheit noch, wenn es möglich war. Und wirklich, und sie mußte rasch ausgeschritten sein – als es dämmerte, war sie schon wieder da, die Rüstige, und Ulrichs kleiner Koffer war ja auch nicht allzu mühsam zu tragen gewesen.
 Ulrich, allein in seinem neuen Zimmer, das größer war als seines im »Florian«, drehte am Schalter, und das Licht ging an, und die Leitung war also wieder in Ordnung, und er packte seine Sachen aus, und der Ofen gab eine angenehme Wärme, und er rückte sich einen Stuhl in die Nähe des Ofens und überlegte. Sie mußte doch Angehörige haben, die Frau da unten, die ihn so überrumpelt, Verwandte oder nahe Freunde, und heute abend würde er versuchen, das Gespräch so zu drehen, daß sie von ihrem Leben berichtete, um zu erfahren, wen er verständigen könne, die Schwermütige in sichere Obhut zu nehmen. Denn daß gerade er es tun solle, war doch ein wenig abgeschmackt, dachte er unmutig, und horchte auf das Feuer, das im Ofen rüttelte und brummte, und sich lustig machte über ihn.
 Er war noch nicht lange gesessen, als es an seiner Tür klopfte, und die Bedienerin ihn nach unten zu kommen bat, zum Abendessen. Der Hund, ein grauhaariger, struppiger Schnauzer, kam wedelnd vom Ofen herbei, ihn zu begrüßen, und wollte gestreichelt sein, und die helläugige Gastgeberin tat ganz unbefangen, während sie ihm vorlegte, und nur, daß ihre Hand dabei zitterte, strafte sie Lügen. Dann war es für die Kreszenz an der Zeit, nach Hause zu gehen, die nicht in Eichhausen wohnte, in einer kleinen Ortschaft in der Nähe, um morgen wieder zu kommen, wie allabendlich.
 Und nun waren die beiden allein, Ulrich und die junge Frau. Rotwein stand auf dem Tisch, aber sie trank fast nicht und er desto mehr, und sie sprachen von Gott und der Welt und allen auf ihr möglichen Dingen, nur nicht davon, warum sie wohl zu dem blitzenden Glasröhrchen gegriffen. Und wenn es nur von fern den Anschein hatte, als wolle er davon wissen, sah sie ihn mit ihren hellen Augen traurig und abweisend an, als empfinde sie es ungehörig, daß er in ein Geheimnis eindringen wolle, und so mußte er es vorläufig aufgeben.
 Es war noch nicht sehr spät, als sie aufstand, und ihm die Hand reichte mit einem: »Auf Wiedersehen morgen früh! «, und plötzlich sich bückte auf seine Hand, und sie küßte, und: »Danke!« sagte, und ging, und ihn verwirrt zurückließ. Und er blieb noch beim Wein, und redete noch ein weniges mit dem Hund am Ofen, und was er denn meine, und wie er, Ulrich, sich verhalten solle, der Eindringling und Gast wider Willen, dem man die Hand geküßt hatte eben. Aber der Hund rührte sich nicht. » Schweig du nur! « sagte da Ulrich zornig zu ihm, »bist stumm wie der Eisenvogel auf dem Dach! Aber das sag ich dir, ich tu, was ich kann, möglichst bald wieder fortzukommen von hier!« Und jetzt sah ihn der Hund an, und klopfte mit dem Schwanz zustimmend auf den Boden, Ulrich wenigstens nahm es als Zustimmung, und so hob er sein Glas und trank ihm zu, und dann ging er auch schlafen, zum erstenmal in diesem Hause, aber nicht zum letztenmal, fürchtete er.
 Als er gefrühstückt hatte am andern Morgen, mit der Gastgeberin im Wohnzimmer, und ihm jetzt, am nüchternen Tag, seine Lage abenteuerlicher schien und auch lächerlicher als je, war er entschlossen, keine Zeit zu verlieren und gleich nach Eichhausen zu gehen, um dort beim Bürgermeister oder auf der Post durch unauffälliges; oder seinetwegen auch auffälliges Fragen herauszubringen, wen er, durch einen Fernspruch vielleicht, eilig herbeirufen könne, ihn abzulösen in seinem unfreiwilligen Wächteramt.
 Als er aber vom Tisch aufstand und so nebenhin sagte, er wolle nun ein wenig in die frische Winterluft hinaus, und vielleicht hinunter zum See, wurde das blasse Gesicht der fremden Frau noch einen Schein blasser, und ihre Lippen zuckten, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie stellte sich vor die Tür mit ausgebreiteten Armen, und tat es wie im Spiel, ein wenig übertreibend, aber dahinter verbarg sich der schrecklichste Ernst. Hilflos lächelnd stand sie, wie ein Kind, das man ins Dunkel schicken will, davor es sich fürchtet, und nun fand sie auch Worte, und flehte ihn an, sie nicht zu verlassen. Und sie ließ die Arme sinken und trat auf ihn zu, ganz nahe, und sagte mit leiser Stimme, als dürfe nur er es hören, und es war doch sonst niemand im Zimmer, er sei ihr geschickt worden, als ein Zeichen, noch auszuharren, so nehme sie es, und es stünde fest für sie, gleich zu tun, was zu tun sie vorgehabt, sobald er nur einen Fuß vor die Tür des Hauses setze. Seit vierzehn Tagen sei sie geschieden, nach einer fünfjährigen Ehe, und vielleicht liebe sie den ungetreuen Mann noch, das wisse sie nicht, und ein Schauder lief über ihre Gestalt. Er, Ulrich, habe ihr eine Gnadenfrist verschafft, und sie wolle weiter leben, so lang und so kurz er bliebe, und so sei sie ganz in seiner Gewalt, und er solle es halten ganz wie er wolle, und damit ging sie aus dem Zimmer, und ließ ihn allein, den Ratlosen.
 Und nun brachen die Tage der Gefangenschaft für ihn an. Er saß am Fenster im Wohnzimmer und betrachtete die Hirschgeweihe, die an den Wänden hingen, und den großen, ausgestopften Auerhahn, und sah draußen den Zaun, wie ein schwarzes Käfiggitter, und sah die Gartentür, an der er gerüttelt, und sie war verschlossen gewesen zuerst und hatte sich dann aufgetan vor ihm, und er war durch sie hindurch und hinein in das Haus, wie die Maus in die Falle. Und der Vormittag lief hin mit Nichtstun und Aus-demFenster-Schauen, und zu Mittag gab es ein kaltes Essen, und dem folgte ein kurzer Schlaf und dann spielte er mit dem Hund und begann später zu zeichnen, die Aussicht von seinem Fenster im ersten Stock, mit den beschneiten Berghäuptern im Hintergrund, die Lüge, die er den Leuten im »Florian« geschrieben, in Wahrheit verwandelnd. Und als er, gegen den Abend schon, sein Zimmer wieder verließ, in den Wohnraum hinab zu gehen, trat eben die rotgesichtige Kreszenz, die inzwischen gekommen sein mußte, aus dem Zimmer seiner Gastgeberin, und durch den Türspalt konnte er sehen, daß die auf dem Tisch, vor dem sie saß, und über dem die Lampe hell brannte, im Halbkreis viele Bilder vor sich aufgebaut hatte, große und kleine, in einem silbernen Rahmen alle und hinter Glas, und sie stellten alle den gleichen Mann dar, glaubte er zu erkennen, aber da schloß die Kreszenz die Tür. Beim Abendessen, das die Kreszenz gekocht hatte, saß er der Helläugigen dann wieder gegenüber, und sie redeten miteinander und waren wie Reiter, die bei einem Hindernisrennen Hürden nehmen und Gräben, so übersprangen sie Heikles und was allzu vertraulich gewesen wäre. Und die Kreszenz ging wieder, für heute, und morgen würde sie wieder kommen, und die Helläugige ging schlafen, oder vielleicht saß sie vor den Bildern des Ungetreuen noch eine Weile vorher, und später ging auch er schlafen und wußte nicht, wie lang das sollte so währen, und ob er lachen sollte, oder sich ärgern, oder stolz sein wie auf eine gute Tat, oder einfach davonlaufen?
 Und der andere Tag verging nicht viel anders. Ulrich sah in den Winter hinaus, und weil er nicht hinaus durfte, machte er sich wieder an seine Zeichnung, ihn wenigstens auf dem Papier zu haben, und machte die Zeichnung fertig. Und nach einem langen Nachmittag, der sich unerträglich dehnte, und es hatte stundenlang geschneit draußen, und in ihrem Zimmer mochte die Helläugige sitzen, die Bilder des Geliebten vor sich, kam mit dem Abend die Kreszenz, die rotgesichtige Helferin, aber da schneite es schon wieder nicht mehr. Und während sie kochte und aus der Küche die Deckel klapperten, deckte die Frau, deren Namen er nicht einmal wußte, und sie nicht den seinen, den Tisch im Wohnzimmer mit schönerem Geschirr als gewöhnlich, das sie aus einem Glasschrank nahm. Und zum Abendessen erschien sie in einem Kleid, das ihren weißen Hals und ihre Arme freigab, und wie zu einem Fest saßen sie am Tisch, die beiden, die Frau und ihr Gefangener, und es war doch gar kein Grund zu irgendeinem Fest, fand er erbittert, und daß nun einmal Schluß gemacht werden mußte mit ihrem unnatürlichen Zusammensein. Denn wenn einer, in den Bergen, im Fels, einen Verstiegenen getroffen hat, der nicht mehr weiter kann, und er hat ihm Griff und Tritt gezeigt, und ihn gestützt, und ihm hinweg geholfen über die halsbrecherische Stelle, so kommt auch die Zeit, wo der wieder allein muß weiter seinen Weg, wie alle andern, denen auch niemand hilft auf die Dauer. Und bei dem Wort »verstiegen« fiel ihm der Doppelsinn dieses Ausdrucks ein, mit dem man wohl auch jemand bezeichnet, der über das allen gesetzte Maß hinaus seinen Gefühlen nachgibt, bis sie zum Lächerlichen umschlagen, und so eine Verstiegene schien sie ihm nun zu sein, die ihm hier gegenüber saß und von ihm Hilfe verlangte auch jetzt noch, da es an ihr war, sich selbst nun zu helfen, wenn ihr noch irgend zu helfen war, und er hatte genug getan und übergenug.
 Und auch dieser Abend ging vorbei, und die helläugige Frau hatte sich wieder früh zurückgezogen, wie jeden Abend noch, das wenigstens, Gott sei Dank, und er war auch auf sein Zimmer gegangen, voller Mißmut und ohne schon schläfrig zu sein und darüber grübelnd, wie er am raschesten nun ausbrechen könne aus seinem Gefängnis. Als er das Licht andrehte, sah er auf dem Tisch einen Brief liegen mit dem Aufdruck »Gasthof zum Florian«, und den mußte die Kreszenz ihrn hingelegt haben. Er betrachtete die klaren Züge, mit denen sein Name hingeschrieben war, die genau gesetzten U-Häubchen und I-Punkte, und erwartete, als er den Umschlag aufriß, ein paar seine Zahlung bestätigende Worte zu finden. Aber was er in der Hand hielt, war der Wunsch Annas nach einem Stelldichein, die Bitte, sich heute noch, um zwölf Uhr, mit ihr zu treffen, unten am See, da, wo die Straße vom »Florian« her auf ihn stieß, und kein Wort der Begründung war hinzugefügt.
 Ulrich sah auf die Uhr: es war eine Viertelstunde vor elf, und er las den Brief noch einmal. Es waren nur ein paar Zeilen, die ihm das Mädchen schrieb, aber eine unterdrückte Wildheit spürte er darin, heftig fordernd, die im Gegensatz stand zu der ordentlichen, kindlich sauberen Schrift. Und eine dunkle Drohung las er heraus, aber da spielte ihm wohl nur seine gereizte Einbildungskraft einen Streich, und er sah Gespenster, und es war eine Nachwirkung dessen, was er hier im Hause erlebt hatte, daß, weil sie am See ihn treffen wollte, ihm der Gedanke durch den Kopf schoß, das hieße, und das solle er wissen: Du oder das schwarze Wasser!
 Argerlich verwarf er den Gedanken gleich wieder, und: Unter Narren wird man närrisch! dachte er, da sieht man es. Und der Esel zwischen beiden Heubündeln fiel ihm ein, der sich nicht hatte entscheiden können, welches er fressen sollte, und so fast verhungert wäre im süßen Überfluß. Aber war er in einer solchen Lage auch, spann er den Vergleich fort, so war es anders doch bei ihm, als bei jenem Langohr, denn ihn gelüstete es zu wenig danach, meinte er, darin er die Wahl hatte - und seine zwei schönen, stillen Zimmer hoch über der Stadt standen auf einmal vor seinen Augen, und sein verlassener Arbeitstisch, und schon holte er seinen Koffer hervor, ihn zu packen. Und während er in wilder Hast seine paar Sachen hineinwarf und dabei leise vor sich hinfluchte, spürte er, wie es ihm doch auch wohl tat, daß Anna sich nun so preisgegeben hatte mit ihrem Verlangen nach einem Stelldichein, wie es, das wußte er nun plötzlich, ihm auch geschmeichelt hatte, daß die Helläugige in ihm einen vom Himmel geschickten Boten gesehen - er müßte kein Mann gewesen sein, wenn er anders gefühlt hätte, tief noch unter seinem Zorn. Der Koffer war voll, und die Zeichnung legte er noch sorgsam oben auf die Unordnung, und er schloß den Deckel und war fertig zum Gehen.
 Wie ein Dieb schlich er die Treppe hinab und streichelte den Hund, der im Flur in seinem Korb lag und behaglich schnaufte, als er die freundliche Hand spürte, und öffnete die Haustür, und ging durch den Vorgarten, und durch die Gartentür trat er auf die Straße. Der Mond, nun schon im Abnehmen, aber noch groß und glänzend, stand hoch am Himmel und warf sein Licht herab, und der Wetterhahn auf dem Dache reckte stolz den Kopf. Es war kalt, das helle Singen des Schnees unter seinen Schuhen zeigte es Ulrich an, der nun rasch auf der Straße nach Eichhausen dahin ging. Die scharfe Winterluft tat ihm wohl, nach den Tagen der Gefangenschaft, und die war nun zu Ende, und er würde sich so bald nicht wieder einkerkern lassen, dachte er belustigt, von niemand, und auch nicht von der Unbesonnenen, zu der er jetzt auf dem Weg war, um ihr zu sagen, daß er abreisen müsse, morgen schon, nach einer letzten Nacht noch im »Florian«. Er hatte keine Lust, mit ihr zu spielen, dafür taugte sie nicht. Und vielleicht war es gut, so schwer es ihm auch fallen mochte, der anders fühlte ihr gegenüber, kalt und erstaunt abweisend sich zu zeigen, und wie der behelmte Heilige an der Hauswand zu tun, und Wasser auf einen Brand zu schütten, der im Erglimmen war, und es zu einem halben Zank kommen zu lassen und zu einer raschen Trennung von der Erzürnten und Beschämten, sofort, noch unten am Seeufer, und bevor er wieder wankend wurde, das konnte ihm geschehen, und ihr Zorn war ein Panzer, der am besten sie schützte. Dann sollte es ihm auch nichts ausmachen, eine Nacht einmal nicht zu schlafen und ein paar Stunden durch die Mondhelle zu gehen, bis er an irgendeiner Ortschaft an der Straße einen Frühzug erreichte, der ihn nach Hause brachte, endlich.
 Er war noch keine Viertelstunde gegangen, seines guten Vorsatzes sich freuend, und zweifelnd doch auch an seiner Kraft ihn durchzuführen, als er zögerte und stehen blieb, und zum Mond hinauf sah, der bleich und weiß auf ihn herabblickte mit grämlichem Gesicht. Noch war es Zeit, umzukehren, und wieder in dem Landhaus zu sein, ehe die Helläugige, vielleicht emporgetrieben von einem ahnungsvollen Traum, sich erhoben hatte, an seine Tür zu klopfen, ob er noch da war, in dessen Händen ihr Leben lag, und wenn sie es auch nur so meinte. Er setzte den Koffer ab und stellte ihn auf die Schmalseite und setzte sich darauf, und als höre er das schreckliche Pochen, und der Schall käme zürnend und an seinem Gewissen rüttelnd, zu ihm durch die Winternacht, steckte er die Finger abwehrend in die Ohren. So saß er eine Weile, unentschlossen vor sich hin brütend, und dann stand er müde auf, den Weg zurück zu gehen, als ein Besiegter. Aber nach wenigen Schritten schon hielt er wieder an. Er sah Anna, das Mädchen, frierend am See und wartend auf ihn, unter den Sternen. Da strömte das Blut ihm zum Herzen, mit einem jähen Stoß, der ihm weh tat und ihm sagte, wie es ihn zu ihr drängte, mehr, als er es sich eingestanden hatte bisher. Er sah auf die Uhr, und der Mond schien hell genug, daß er die Zeit ablesen konnte, und er mußte länger dort auf der Straße gesessen haben, als es ihm bewußt geworden war, denn es war nur noch eine halbe Stunde bis Mitternacht, und er mußte sich beeilen, wenn er noch rechtzeitig unten am See sein wollte, und das wollte er jetzt wieder, mit einer heftigen Begierde sogar.
 So kehrte er abermals um und beschleunigte seine Schritte, der Mann im Mondschein, auf seinem Weg von einer Frau zur andern, und jede glaubte, ihn zu brauchen, und der Schnee sang unter seinen Füßen, und sein Schatten wanderte mit ihm, und die Sterne blitzten herab vom schwarzblauen Himmel. Er hatte den Hut fest in die Stirn gerückt, und den Koffer wechselte er von Hand zu Hand, aber so rasch er auch ging, er würde doch zu spät kommen,
sagte ihm die Uhr – die Straße lief allmählich dahin in vielen Windungen. Zwar sah er nun schon das Dorf vor sich liegen, dunkel zusammengedrängt im Mondlicht, und sah den spitzen Kirchturm in den Himmel ragen, schwarz und scharf wie ein Storchenschnabel, aber da schlug es auch schon Mitternacht, und die zwölf Schläge dröhnten gewaltig her zu ihm, und jetzt glaubte er auch schon den See zu erkennen, eine matt schimmernde Fläche.
 Da ging er, die letzte große Wegschleife sich zu ersparen und den Gang durch das Dorf, querfeldein auf ihn zu. Der Schnee war nicht sehr hoch, er lag auf einer tieferen Schicht, die gefroren war, aber bei jedem Schritt sank Ulrich doch bis zu den Knöcheln ein, und es kamen auch Stellen, wo der Wind den Schnee zus4mmengeweht hatte und es schwierig war, voranzukommen. Und dann stürzte er. Er war mit dem Fuß in einem vereisten Loch hängen geblieben, und, den Koffer fest in der Hand behaltend, war er vornüber auf das Gesicht gefallen. Als er aufzustehen versuchte, spürte er einen scharfen Stich im linken Knöchel. Es gelang ihm aber doch, wieder in die Höhe zu kommen, als er aber den schmerzenden Fuß aufsetzen wollte, trug ihn der nicht. So blieb ihm nichts übrig, als sich wieder in den Schnee zu legen, und kriechend und mit den Armen sich vorwärts stemmend zu einer alten Weide sich zu schleppen, die mit gespreizten Ästen in seiner Nähe stand. Mit dem Rücken an ihrem Stamm saß er, und hatte den Koffer neben sich gestellt, und verschnaufte sich, und betastete den verletzten Fuß, und, wenn er ihn zu bewegen versuchte, ließ er es gleich wieder, so weh tat es. Und als er, nach einer Viertelstunde etwa, sich doch noch einmal aufrichten wollte, indem er, einen niederen Ast der Weide fassend, sich an ihm hochzuziehen bemühte, wurde es ihm schwarz vor den Augen, und er mußte sich erschöpft wieder in die sitzende Stellung zurücksinken lassen.
 Er schlug den Kragen seiner kurzen, dick gefütterten Überjacke hoch, steckte die Hände in die Taschen, und es wurde ihm langsam bewußt, daß es nun hieß, die Winternacht im Freien zu verbringen. Noch spürte er die Kälte nicht, aber das würde sich ändern, wenn die Stunden vergingen. Und daß er nicht einschlafen durfte, nur das nicht, das wußte er, und daß es galt, wach und munter zu bleiben, aber es war ihm auch nicht im geringsten schläfrig zumut bis jetzt. Zur Straße mochte es nicht weit sein, er war ja gestürzt, kaum daß er sie verlassen hatte, aber er konnte im ungewissen Mondlicht doch nicht erkennen, wo sie lief. Und wer sollte auch jetzt mitten in der Nacht unterwegs sein, der ihm hätte helfen können? Da mußte er schon bis zum Morgen warten, und da war lang hin, und da hatte es jetzt wohl auch keinen Sinn, zu rufen. Aber er tat es doch, schrie »Hallo!« und »Wer da?« und legte dabei die Hände um den Mund, aber der Schall verlor sich in der Weite, und so gab er es bald wieder auf.
 Als es vom Kirchturm ein Uhr schlug, war er freudig erstaunt, daß schon eine Stunde vergangen war, seit er hier im Schnee unter dem Baum saß. Er hatte die Schnürbänder seines linken Schuhs aufgeknüpft, und das tat dem geschwollenen Fuß gut, und er schmerzte ihn auch nicht mehr so sehr, nur rühren durfte er ihn nicht. Die warmen Handschuhe hatte er angezogen und sah zum Mond hinauf und zu den Sternen, und sah den Sternenwagen fahren, mit vorgereckter Deichsel, und sah den Orion, den großen Jäger, dessen Wehrgehänge unruhig blitzte. Tief und von finsterer Bläue war der Himmel, und wolkenlos, und das Dorf lag schlafend, und nur die Turmuhr wachte und schlug die Zeit an, und hatte es eben wieder getan. Ulrich faßte mit beiden Händen hinter sich und spürte die harte, zersprungene Rinde der Weide, die ihre dünnen Äste wie Hexenhaar sträubte, und wenn er um sich blickte, war der Schatten der Äste wie ein schwarzes Netz auf dem Schnee ausgespannt – aber wer sollte sich drin fangen?
 Und die Kälte bekam er nun allmählich doch zu fühlen. Sie griff durch seine Kleider, mit eisiger Faust, und schüttelte ihn, und um sich zu erwärmen schlug er die Arme im Takt kreuzweise über der Brust zusammen, wie es Kinder tun bei kaltem Schulweg oder beim Eislauf, und ein wenig nützte es auch, oder er bildete es sich wenigstens ein.
 Später einmal, es war schon nach zwei Uhr, kam über den Schnee her etwas Schwarzes gegen den langsam Erstarrenden, und es sah aus, als hinke das fremde Wesen, und es war aber nur ein Hase. Und der machte ein Männchen und rührte die Ohren wie überlegend, und sein Schatten stand schräg und komisch. Das Tier kam noch näher herangehumpelt, und verhielt in geduckter Stellung, und wagte noch einen Satz, und war ihm nun zum Greifen nahe. Er sah die runden Augen des Hasen neugierig auf sich gerichtet, und sah die langen Ohren, wie sie spielten, auf und ab, und sah das braungelbe, wollige Fell, und den helleren Bauch, und sah den Bauch atmend sich regen. Dann verschwand die Neugier aus den Augen des nächtlichen Besuchers, und Furcht war statt dessen in ihnen zu lesen, und Furcht drückte auf einmal der ganze, weggekrümmte Körper des Tieres aus, und die Furcht ward zum Entsetzen, und der Hase warf sich mit einem Ruck herum, daß der Schnee stäubte, und raste wild zurück, dahin, woher er gekommen, auf das Dorf zu, und sein Schatten hinter ihm drein, hoppelnd wie er, und als jage er das Lebendige. Und Ulrich war wieder allein in der Schneenacht.
 Er holte den Koffer zu sich heran, und mit steif gefrorenen Fingern, und ohne die Handschuhe abzustreifen, drückte und schob er an dem Schloß herum, bis es nachgab und der Kofferdeckel aufsprang. Die Zeichnung, die obenan lag, betrachtete er lange, und sie gefiel ihm, und er nickte befriedigt. Er legte sie neben sich in den Schnee und begann in den Wäschestücken zu wühlen, die im Koffer waren. Er nahm ein Hemd heraus und faltete es zusammen und schlang es sich um den Hals, als sei es ein Halstuch. Er umwickelte mit Hemden sich Beine und Füße und Knie, und das war eine mühsame Arbeit, und als er es bei dem verletzten Fuß tat, stöhnte er vor Schmerz. Er stopfte, was er an Wäsche fand, Hosen und Strümpfe und Taschentücher, unter seine Oberjacke, über Brust und Bauch, daß er gepolstert und wie aufgeplustert war, und den leeren Koffer verschloß er wieder und schob ihn unter sich, um nicht auf dem eisigen Schnee sitzen zu müssen.
 Viel später, und nur langsam verging die Nacht, und kalt und schweigsam und von grausamen Lichtern erhellt war der Himmel, und der Mond hatte seinen Platz gewechselt und stand nun tiefer, bekam Ulrich den Besuch von drei Krähen. Schleppenden Fluges waren sie vom See herauf herangekommen, und waren im Schnee gelandet, nebeneinander, dreißig Schritte vor ihm, und blieben im Schnee sitzen, unbeweglich, die schwarzen Vögel. Daß sie lange so bleiben möchten, bis zum Morgen, wünschte er, als sie nach einer Viertelstunde noch da waren. Ihnen konnte es doch gleichgültig sein, wo sie die Nacht zubrachten, auf einem krummen Ast oder einem Scheunendach oder hier, und sie froren nicht, die düsteren Gestalten, und mochten ihm Kameradschaft halten unter dem weißen Mond. Und was sollte es ihnen ausmachen, daß er unförmig und lächerlich aussah, er hier, unter dem Baum, mit Hemden umwickelt, und vermummt wie ein altes Weib? Alte Weiber, Reisig sammelnd und Beeren, waren ihre Gesellschaft doch oft auf den Feldern und Wegen und am Dorfrand. Kommt näher! sagte er leise und zärtlich und winkte ihnen mit dem Arm. Aber sie verstanden ihn nicht, oder dachten, die Mißtrauischen und Vielverfolgten, er wolle sie verscheuchen, und schon flog eine der Krähen krächzend auf, schwarz dahin, zum See hinunter. Noch schien es, als wollten die zwei anderen bleiben, aber sie machten sich auch auf, noch näher an ihn heran zuerst, und schwenkten ein und folgten der ersten.
 Und dann mußte er doch sterben, so tapfer er sich gewehrt hatte bisher, Ulrich; unser Mann, unter der hexenhaarigen Weide. Auf den Morgen mochte es schon zugehen, fünfmal hatte die Dorfuhr eben angeschlagen, oder auch sechsmal, aber er hatte gar nicht mehr recht hingehört, mochte sie schlagen, was sie wollte, ihn kümmerte es nicht mehr. Er hatte auf einmal keinen Mut mehr zum Leben, keinen Widerstand mehr gegen den Tod, Begierde nur mehr nach Schlaf und Schwärze und Schweigen. Er ließ sich vom Koffer herabgleiten und legte sich lang ausgestreckt in den Schnee, dessen Kälte er nicht mehr spürte, und den Koffer nahm er als Kopfkissen. Die Sterne waren hell über ihm, aber sie flackerten jetzt, wie Kerzenlichter im Wind, und mit brennenden Kerzen in den Händen stand Anna am See und bückte sich nieder zum Wasser, und die Fische schwammen herbei, die Lichter zu sehen, und stumm zu reden mit der Wartenden. Und die Helläugige lag neben ihrn am Boden, im Zimmer mit den Hirschgeweihen, und der Mond schien in das Zimmer, und das Schulterband des Kleides war verrutscht und ließ die weiße Haut sehen, lockend, aber das verzerrte, blasse Gesicht war gar nicht mehr lockend. Sollte sie also doch Ernst gemacht haben und davongegangen sein, und wollte ihn jetzt holen, dahin, wo sie nun war? - und daß sie das könnte, daran hatte er nicht gedacht, als er heimlich das Haus mit dem Wetterhahn auf dem Dach verlassen hatte. Aber es sollte ihm auch recht sein, es erschreckte ihn nicht, gar nicht, und fast war es, als ob es ihn freute. Der Mond wurde groß und hell nun, wie eine Feuerkugel, daß er die Augen schließen mußte vor dem unerträglichen Licht. Da ward ihm wohler, und es mußte schön sein, ewig so liegen zu bleiben, mit geschlossenen Augen, und den Wetterhahn hörte er noch leise krähen, und er atmete tief, und streckte sich seufzend und ohne Furcht, und noch einmal krähte der Hahn, und dann starb er, Ulrich, der Mann unter dem Baum, und einverstanden mit seinem Tod, wie jeder mit ihm einverstanden ist, der ihn ganz nah spürt.
 Aber in einem Krankenhausbett erwachte er wieder. Bauersleute, mit ihrem Fuhrwerk auf dem Wege zur Bahn, um den ersten Zug zu erreichen, hatten im Frühlicht, neben einer struppigen Weide, nicht weit von der Straße, eine regungslose Gestalt liegen sehen. Sie hatten den Bewußtlosen aufgehoben, der mit bunten Hemden um Hals und Bein befremdlich genug sich ausnahm, und hatten ihn zum Wagen getragen, und weil es in Eichhausen keinen Arzt gab, es für das beste gehalten, den Halberfrorenen gleich, und so wie er war, in seiner aufgeputzten Tracht, mit dem Frühzug zur Stadt zu schaffen, und dort in ein Krankenhaus, und auch seinen Koffer hatten sie ihm mitgegeben, und sogar die Zeichnung hineingelegt.
 Und vierzehn Tage später war Ulrich wieder zu Hause, in seinen zwei Zimmern hoch über den Dächern der Stadt. Seine Wirtin hatte ihn mit einem Blumenstrauß begrüßt, freudestrahlend, als er auf einen Stock gestützt und noch humpelnd zurückgekehrt war. Lange würde er den Stock nicht mehr brauchen, hatte ihm der Arzt gesagt, denn der gebrochene Fuß heile rasch und wie sich das gehöre, und keine Behinderung werde zurückbleiben, und auch sonst hatte Ulrich die Schneenacht unter der Weide gut und ohne Schaden zu nehmen überstanden. Und nun saß er wieder an seinem Tisch, und die weiße Decke lag darüber, und er zog die Schublade auf, und da lag noch die Orange, ein wenig verschrumpft, und an einer Stelle war sie angefault, und klebriger Saft war an der Wunde. Er holte die Frucht heraus und wog sie in der Hand. Von den beiden Frauen hatte er nichts mehr erfahren, es auch unterlassen, sich nach ihnen zu erkundigen vom Krankenhaus aus, es verlangte ihn auch jetzt nicht, es zu tun, und auch später nicht, und nie würde es ihn danach verlangen. Und daß sie lebten und atmeten, im himmlischen Licht, wie auch er, das wußte er fest, und woher nur?
 Er legte die Orange auf den Tisch und ließ sie laufen, hin und her, und sie tat es gehorsam, und ließ gelbrote Tupfen auf der weißen Decke zurück, so blutete sie. Aber sie war noch da, vom Baum gepflückt, von einer gleichgültigen Hand, aus dem grünen Laub geholt, im Garten am südlichen Meer, und hier lag draußen der Schnee, und eine andere Hand nun ließ sie wandern, immer des Wegs, wie sie es wollte, die fremde Hand, aber sie war noch da, die rötliche Frucht, mit einer Wunde allerdings, aber sie hielt noch zusammen und glänzte, wie im Laub einst.
 Er humpelte zum Koffer und holte die Zeichnung heraus, und wieder gefiel sie ihm, und schien ihm ein gutes Stück Arbeit, wie es ihm noch selten gelungen, und er befestigte das Blatt mit Reißnägeln an der Wand.
 Der Winter war eingefangen darauf, und noch etwas mehr, das sich nicht sagen ließ, aber man sah es.