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GeorgBritting
SämtlicheWerke  - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung
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Band 5 Seite 184
Kommentar Seite 399

Aus: »Erzählungen,Bilder, Skizzen«


Das Baderhaus

Mein Großvater wurde im Jahre 1813 geboren – das ist nun schon so lange her; ein ganzes Jahrhundert und fast noch ein halbes dazu, aber ich habe ihn noch gekannt. Sein Geburtsort ist ein großes Dorf im Bayrischen Wald. Als er geboren wurde, fürchtete man dort noch die Wölfe, die von Böhmen herüberkamen in den kalten Winternächten und hungrig heulten. Der Kienspan brannte in der Stube, darin er den ersten Laut von sich gab. Sein Vater war Bader, wie es dessen Vater und Großvater auch gewesen, und das Baderhaus hieß darum das Haus, in dem er um Mitternacht auf die Welt kam, auch Bader zu werden. Eines unterschied ihn von seinen baderischen Ahnen: die starben alle auch in dem Haus, er nicht. Ich habe das Baderhaus, das auch meiner Mutter Geburtshaus ist, später aufgesucht, zweimal, in zwei Jahren hintereinander: da war ich vierzehn Jahre alt, und fünfzehn dann. Es ist eins der größten Häuser des Orts, am Marktplatz gelegen, neben der Kirche, mit einer großen weißgekalkten Diele, weiträumig die Stuben, mit viel Licht. Der mächtige Zwiebelturm der Kirche ist schwarz geschindelt.
 Als ich dort war, ein Jahrfünft nach der Jahrhundertwende, da war schon eine ganz andere Zeit, niemand dachte mehr an Wölfe. Aber Schwarzbeeren gab es in den Wäldern und Pilze. Man sammelte nur die Steinpilze, und davon wieder nur die besten, die jungen, mit den harten, dicken Köpfen. Heute sammelt man jede Art von Pilzen, Rotkappen und Pfifferlinge, und alles eben, was eßbar ist - früher nur, was gut ist. Im Baderhaus war jetzt ein Kramer, der Geißelschnüre verkaufte und Zucker, vom Zuckerhut mit einem Holzhammer heruntergeschlagen, und Pfeffer - das Geschlecht der Bader war ausgestorben, aber den Namen hatte das Haus behalten. Ich war mit dem Rad gekommen, von der Donau herauf, in vielstündiger Fahrt. Die Straßen waren gut und glatt, das machte der harte Untergrund, der Granit. Sie waren mit feinem weißem Staub bedeckt. In der Morgenfrühe, als der Tau den Staub noch näßte, blieb eine Radspur zurück, flacherhaben geprägt, wie Inschriften auf einer Münze.
 Einmal, als ich rastete, unterhielt ich mich mit einem Wegmacher. Er war ein schon weißhaariger Mann in bäuerlicher Arbeitskleidung, mit einer blauen Leinenschürze darüber. Als Wahrzeichen seines Berufes trug er um seinen Hut ein Messingband, in dem das Wort »Wegmacher« ausgezackt war. Er kam mir weise und gütig vor. Manchmal glaubt man voll Schrecken, solche Leute gäbe es heut nicht mehr. Er war bartlos, mit tief eingegrabenen Falten im Gesicht, und sprach von seiner Straße, sie lobend, wie ein Pferdeknecht von seinem Pferd spricht, das er zu pflegen hat und das er liebt.
 Ich fuhr dann weiter. Wald war rechts und Wald war links, wie seit Stunden schon, immer Wald, schwarz, Tannen und Fichten, unterbrochen nur von Schlägen. Die waren von wildem Strauchwerk besiedelt, das in der Sonne glühte: es war Sommer und ich fuhr in die Ferien. Auf den Schlägen gedeihen die Himbeeren, im August, und die Brombeeren, im September, auch im Oktober noch, denn dort oben reift alles spät. Das meiste der Himbeeren und der Brombeeren verdarb am Strauch, in jener üppigen Zeit damals, niemand machte sich die Mühe, sie zu pflücken. Verdarb, das ist ein recht menschlich-eigensüchtiges Wort, als wüchsen die Beeren nur, gepflückt zu werden – doch haben sie anderes im Sinn, und der ist unergründlich. Die roten Himbeeren sind riesig dort, von einer erschreckenden Süße, die schwarzen Brombeeren sind nicht so süß und sind ein wenig zartsäuerlich auch noch in der äußersten Reife. Schon in den Farben, rot und schwarz, drückt sich der Unterschied aus. Oft fällt schon Schnee, da hängen die Beeren noch dick und fett am Dornstrauch - der Winter kommt früh im Wald.
 Als ich in dem Dorf dann war, im Großvater- und Mutterdorf, hatte ich eine frühe Liebe. Das Mädchen wohnte dem kleinen Bauernhof meiner Verwandten gegenüber, gleich am Dorfeingang. Sie war groß und schlank mit bräunlichen Wangen und war kein Bauernmädchen. Ihr Vater war Gendarmeriekommandant, und an seiner grasgrünen Uniform blitzten die Knöpfe. In seiner Wohnstube, gründunkelnd von den Blumen am Fensterbrett, stand ein schwarzes Ledersofa, mit weißen Nägeln beschlagen. Das Mädchen hatte keine Mutter mehr und führte dem Vater den Haushalt. Oft sprach ich mit dem schnauzbärtigen Mann, öfter als mit seiner Tochter – mit der zu sprechen fürchtete ich mich ein wenig, obwohl sie immer sehr freundlich zu mir war. Ich war noch sehr schüchtern.
 Einmal, es war abends, war ich mit ihrem Vater auf dem Feld, Gras zu schneiden. Er war nur mit Hemd und der grünen Hose bekleidet und schnitt, und ich sah ihm zu. Er schnitt sein Gras mit der Sichel. Da sagte mir der alte Mann, er fürchte die Türken. Die Türken, sagte er, denk an mich, die kommen wieder! Er stand aufrecht, die Sichel in der Hand, und sah nach Osten. Sie werden ihre Rosse im Rhein tränken, sagte er. Es klang wie aus einem alten Kalender. Er hatte eine große Adlernase, wilde, weiße Augenbrauen und einen durchdringenden Blick. Sein Gesicht hatte etwas Kindliches, trotzdem. Daß ich seine Tochter liebte, wußte er nicht. Sie ahnte es, aber gesagt habe ich es ihr nie. Sie heiratete später einen Unteroffizier, der zwölf Jahre zu dienen sich verpflichtet hatte, um dann als Militäranwärter das Anrecht auf eine kleine Beamtenstelle zu haben. Schulhausmeister, Gerichtsvollzieher, Amtsdiener, die waren meist alle ehemalige Militäranwärter. Der adlernasige Kommandant hatte die gleiche Laufbahn hinter sich. Eine sichere Stellung zu haben, darauf legte man großen Wert. Mit dem Mädchen und ihrem Vater saß ich manchmal abends auf der Bank vor dem Haus, und wir sahen den Schwalben zu. Da war sie noch nicht verlobt. Als ich das Jahr darauf wiederkam, hatte sie einen Bräutigam. Er trug breite, goldene Borten am Kragen seiner blitzblauen Uniform und war ein Bild der Stärke. Er machte am Querbalken der Haustür einen Klimmzug, als sie ihn mir vorwies. Stolz sah sie ihm zu. Ich war ein Schüler, und er ein Mann in prangender Fülle.
 Mein Großvater war damals schon lange tot. Die letzten fünfzehn Jahre seines langen Lebens, er wurde fast neunzig Jahre alt, hatte er bei meinen Eltern zugebracht, in der Stadt an der Donau. Ich sehe den alten Herrn noch deutlich vor mir. Er hatte volles, schönes weißes Haar, das gewellt war, und einen kurzgehaltenen weißen Vollbart. Er war immer schwarz gekleidet, und nie wieder habe ich es gesehen, daß jemand stets so spiegelnd blankgewichste Schuhe hatte. Er hatte nur weiße Hemden mit angenähtem weichen Kragen, und das war auffallend in jener Zeit, in der die Männer bretterhart gestärkte Röllchen um die Handgelenke trugen und um den Hals den hohen, steifen Kragen. Seine schwarze Halsbinde war auf eine Weise zusammengelegt, wie man es auch schon lang nicht mehr tat. Als ich später Bilder des alten Bruckner sah, erkannte ich an ihm die Halsbinde meines Großvaters wieder. Er blieb gesund und kräftig bis in seine letzten Tage, und meine Mutter sagte, er hätte leicht hundert Jahre werden können, wenn er nicht im Winter, bei seinem gewohnten Spaziergang, auf der vereisten Straße ausgeglitten wäre. Er brach sich beim Sturz den Oberschenkel, mußte lang im Bett liegen, und davon bekam er eine Lungenentzündung, an der er starb. Ich war, als er starb, sieben Jahre alt, und zum erstenmal nahm ich an einem Begräbnis teil, an seinem. Meine Mutter weinte am Grab, mein Vater auch, mir blieben die Augen trocken. Auf dem Heimweg fragte mich die Mutter dann, ob ich denn gar nicht traurig sei, weil der Großvater gestorben. Ich wußte nichts zu antworten.
 Die Erinnerung zeigt ihn mir fast immer, wie er, auf der Nase die Brille, die er sonst nicht benötigte, im Lehnstuhl saß und die Zeitung las oder ein Buch. Ich verehrte ihn im stillen, aber zeigen mochte ich es ihm nicht. Vielleicht weil ich ein wenig eifersüchtig war auf einen Vetter, der es besser und schmeichlerischer mit ihm verstand. Mir hat der alte Herr wenig von seinem Leben erzählt, ich war ja auch noch zu klein. Aber durch meine Mutter weiß ich Bescheid über ihn.
 Er war der älteste Sohn seines Vaters und hatte schon früh mitgeholfen, den Bauern die Haare zu schneiden und ihnen das Kinn glatt zu schaben. Nur einmal in der Woche, am Samstag, für den Sonntag schön zu sein, ließen sie sich rasieren, nur der Lehrer und der Pfarrer kamen öfter. Damals mußte, und besonders auf dem Lande, der Bader auch den Arzt ersetzen. So lernte mein Großvater es, Hühneraugen zu schneiden und den Leuten das schwerfällige Blut abzuzapfen, mit dem metallenen Schröpfkopf oder mit den schwarzen Blutegeln, und auch einen Notverband zu machen, wenn ein ungebärdiges Pferd dem Roßknecht das Schienbein zerschlagen hatte. Sein Vater wollte aber höher mit ihm hinaus, und er selber war auch ehrgeizig, so ging er auf die hohe Schule nach Landshut. Dort hörte er fleißig die Vorlesungen, lernte Latein, soviel eben, wie er für seinen künftigen Beruf brauchte. Er bildete sich in der Kräuterkunde aus, das war später seine besondere Liebhaberei, übte sich im Auflegen von heilsamen, ziehenden Pflastern und wurde tüchtig darin, einen ausgekugelten Arm wiedereinzurenken und zerbrochene Rippen zu heilen. Zwei Jahre blieb er in Landshut. Dann bestand er mit Auszeichnung die Abschlußprüfung, und als ein studierter Mann kehrte er in sein Dorf zurück.
 Er hatte es nun schwarz auf weiß und mit königlichem Siegel, Wundarzt und Chirurgus zu sein. Hinfort rasierte er die Bauern nicht mehr, das tat sein Vater, der stolz war auf den vielwissenden Sohn. Wenn ich meiner Mutter glauben darf, stand er bald in Ansehen, und von weither kamen die Leidenden, und er wußte Rat und Hilfe und brachte Genesung den bäuerlichen Gebresten oder wenigstens Linderung. Das Badergeschäft gab er nach dem frühen Tod seines Vaters ganz auf. Er saß in seinem Sprechzimmer, umgeben von Flaschen, die voll waren von wunderkräftigen Pflanzensäften, auf dem Tisch lagen Zangen und Scheren und Schröpfköpfe, und auf der Diele warteten die geduldigen Bauern, zu ihm vorgelassen zu werden. Er las die gelehrten Bücher seines Faches und war selber ein halber Gelehrter, sagte meine Mutter, der gedruckte Schriften herausgab über die Behandlung offener Wunden mit Kräuterverbänden und mit von ihm ersonnenen Salben. Er hatte sich dann eine Frau genommen. Er war immer eine kühle Natur gewesen, so heiratete er nicht aus Liebe. Nein, es war keine Liebesheirat, sagte meine Mutter, die es wieder von ihrer Mutter wußte. Aber die Frau brachte etwas Geld ins Haus, und es wurde eine glückliche Ehe, der Söhne und Töchter entsprossen.
An das alles dachte ich, wenn ich an dem Baderhaus vorbeiging. Die Verwandten, bei denen ich wohnte, bewirtschafteten ein kleines Gütchen. Die Tante, eine hagere Frau, war aus einer Nebenlinie des Baderhauses, hatte meine Mutter im Spaß gesagt. Die Tante war geizig, merkte ich bald, und drehte jeden Pfennig um. Ich lebte nicht umsonst bei ihr, sondern zahlte ein geringes Beköstigungsgeld. Der Onkel hatte einen langen schwarzen Vollbart, an den Rändern angesilbert, der ihm auf die Brust herabwallte. Wie ein Perser sah er aus. Mit einem kleinen Kamm, den er stets in der Westentasche trug, strählte er viele Male am Tag den Bart. In den Bart, als er noch gänzlich schwarz war, hatte sich die Tante verliebt. Das hatte mir meine Mutter erzählt, und auch, daß der Onkel in seiner Jugend ein wenig ein Tunichtgut war, von der harmlosen Art, der den Frauen nachstellte. Er war Ladendiener in einem Gemischtwarengeschäft gewesen, in einem Marktflecken drinnen im Wald, und war nicht recht vorwärtsgekommen in seinem Beruf. Da hatte er sich entschlossen, die Tante zu heiraten, und war durch sie Besitzer eines Anwesens geworden. Der ländlichen Arbeit ungewohnt, die ihm auch gar nicht gefiel, war er bald nach der Hochzeit vom Heuboden gestürzt und hatte sich dabei ein Bein so schwer und mehrfach gebrochen, daß es ihm abgenommen werden mußte. Seitdem trug er ein Kunstbein und war wenig von Nutzen auf dem Hof. Dafür arbeitete die Tante für zwei. Von der Unfallversicherung bekam er eine kleine monatliche Rente, und oft sagte er und lachte und klopfte sich auf den künstlichen Schenkel, der Sturz sei das beste Geschäft seines Lebens gewesen, und die Tante widersprach ihm nicht.
 Ich schlief in einem Dachkämmerlein, das herrlich nach heißem Holz duftete. Nicht weit von dem Haus war der Dorfweiher, auf dem die Enten schwammen und tauchten. Und viele Frösche gab es in dem Weiher. Tagsüber schwiegen sie, aber wenn es dunkel wurde, erhoben sie ein wildes Getön, an- und abschwellend, wie von tausend Trommeln. Es war nicht jede Nacht so. Es gab Nächte, da lag der Weiher still und lautlos. Ich habe es nie ergründen können, warum das so war. Dann kam das Feuer. Als ich ins Bett gegangen war, hatten die Frösche nicht gesungen. Ich erwachte durch das Blasen von Hörnern und das Sturmläuten der Kirchenglocke. Durchs Fenster sah ich, als ich traumtrunken in die Höhe fuhr, einen rötlichen Schein. Ich zündete die Kerze an, die auf dem Nachtkästchen stand, schlüpfte barfuß in die Schuhe, zog mich schnell an und ging auf die Straße hinab:
 Es war kurz nach Mitternacht. Die Feuerwehr kam gerade mit der Spritze. Die Feuerwehrmänner hatten gelbe Messinghelme auf dem Kopf, trugen schwarze Röcke mit roten Aufschlägen, und manche hatten gerollte Stricke um die Schultern und an den Hüften Beile. Sie konnten nicht mehr viel nützen an der Brandstätte, das Feuer hatte schon zu weit um sich gegriffen. Ich stand in der Menge der Zuschauer, und neben mir stand das geliebte Mädchen. Die Funken sausten aus dem brennenden Dachstuhl, der Wasserstrahl fuhr zischend und vergeblich in die Glut, und in der Erregung faßte ich die Hand des Mädchens, die sie mir ließ. Ich sah sie an, und der rote Schein des Feuers zuckte über ihr Gesicht. Sie trug einen hochgeschlossenen Mantel und sagte, sie sei beim Blasen der Hörner aus dem Bett gesprungen, wie ich auch, und habe nur den Mantel schnell über das Hemd gezogen. Aber es sei ja eine warme Nacht, sagte sie, und das Feuer wärme. Es wärmte uns beide. Hinter uns redeten die Leute ganz offen von Brandstiftung und munkelten, der Gschwendtner habe selber angezündet. Ich sah verzaubert und sprachlos in das Feuer hinein. Es wäre mir nur recht gewesen, wenn es stundenlang weitergebrannt hätte. Dann hätte ich noch lange des Mädchens Hand halten dürfen, die neben mir stand, nur den Mantel überm Hemd. Da stürzte krachend der Dachstuhl ein.
 Am andern Morgen hörte ich, man habe den Gschwendtner, einen verschuldeten und dem Schnaps ergebenen Kleinbauern, verhaftet, und er habe, noch betrunken, wie er die Tat getan, gestanden, daß er selber Feuer an sein Haus gelegt, in der Hoffnung, durch die Versicherungssumme wieder auf die Beine zu kommen. Ich mußte an das Bein meines Onkels denken. Der Brandstifter bekam ein Jahr Gefängnis. Als ich wieder im Dorf war, ein Jahr später, war der Gschwendtner auch schon wieder da, dem mildernde Umstände zugesprochen worden waren und der seine Strafe nicht ganz hatte absitzen müssen. Er hatte sich jetzt als Knecht verdingt.
 Alles war im Dorf wie im vorigen Sommer. Es war schön und heiß, und es regnete wenig. Dem Baderhaus gegenüber war die Wirtschaft zum » Schwarzen Rappen«, und beim Rappenwirt trank ich manchmal ein Glas von dem braunen, bittern Bauernbier. Der Rappenwirt war ein Mann hoch in den Fünfzigern, dick war er, mit einem Bauch, der sich unter der weißen Schürze vorwölbte. Er hatte als junger Mensch meinen Großvater noch gekannt. Ob ich auch Doktor werden wolle, fragte er mich. »Ihr Großvater«, sagte er, »war ein gescheiter Mann und ein aufgeklärter Mann.« Und er erzählte, mein Großvater habe zu jener Zeit etwas getan, was die Leute in Erstaunen und manche sogar in Entrüstung versetzt habe, den Pfarrer besonders. Beide seien ja tot, da könne man ruhig drüber reden. Und überhaupt, es seien ganz andere Zeiten jetzt, und vieles habe sich geändert, und so engherzig wie damals sei man heut nimmer, Gott sei Dank! Der Rappenwirt hatte sich, schwer schnaufend, neben mir niedergelassen und rauchte an einer schwarzen Zigarre. Die Fliegen zu vertreiben, sagte er, grünschillernd umsummten sie uns. Es gäbe so viele Misthaufen im Dorf, sagte der Rappenwirt, daher käme es. In den siebziger Jahren also, fuhr er dann fort, sei eine neue Zeitung erschienen in Regensburg drunten, eine recht fortschrittliche. Die Leute im Dorf, alle, der Pfarrer und auch der Lehrer, alle eben, hätten sich von jeher eine Zeitung gehalten, die für das gute Alte und Hergebrachte sich einsetzte. »Die Leute hier waren alle schwarz«, sagte er, »und sind es noch. Ich bin es auch.« Mit dem Wort schwarz bezeichnete er eine Parteimeinung. »Aber Ihr Großvater«, sagte er und schlug mit der Hand nach einer Fliege, die er nicht traf,»Ihr Großvater hat sich sofort die neue Zeitung bestellt. Das konnte kein Geheimnis bleiben: der Posthalter wußte es und der Briefträger, und dann bald alle. Das gab ein Aufsehen!« Wir waren allein in der Wirtsstube, der Rappenwirt und ich, und die vielen Fliegen. »Für den Pfarrer war es ein richtiger Schrecken«, schnaufte der Rappenwirt, »ein Greuel war es für den ehrwürdigen Herrn, der gemütlich sonst war und keiner von den Strengen. Aber was sollte er machen? Und Ihr Großvater ging ja jeden Sonntag in die Kirche!« Er glaube, sagte der Rappenwirt, und grinste verschmitzt, daß der Lehrer sich das neue Blatt am liebsten auch gehalten hätte, aber er traute sich nicht. Mein Großvater habe es sich trauen können, das war was anderes. Zu ihm seien deswegen nicht weniger Kranke gekommen, auch der Pfarrer, der es mit dem Herz hatte. »Schließlich«, meinte der Wirt und trank sein Seidel leer, »wer die Wassersucht hat, dem ist es gleich, wer ihm das Wasser nimmt, und mag der auch ein aufrührerisches Blatt lesen.« So sprach er, und ich hörte ihm zu. Seine weiße Schürze hatte rote Flecken. Es waren Blutflecken. Der Rappenwirt betrieb auch eine Metzgerei.
 Es war mir nicht neu, was er mir erzählt hatte. Ich wußte es von meiner Mutter, daß der Großvater Zeit seines Lebens ein aufrichtiger Freiheitsmann gewesen. Drum habe er auch Friedrich Schiller so gern gelesen. Er besaß eine Ausgabe von ihm in kleinen, braunen Lederbänden. Aber er hatte nie eines seiner Stücke auf der Bühne gesehen. Als er bei uns, in der Stadt, die Möglichkeit dazu gehabt hätte, war er schon zu alt, um Lust zu spüren, sich was vorspielen zu lassen. Er las ihn lieber.
 Um es zu Ende zu sagen: der Großvater hatte, als er es an der Zeit fand, sich zur Ruhe zusetzen, das Baderhaus verkauft. Bei meinen Eltern gefiel es ihm, und er war nicht mehr, auch nicht zu einem kurzen Besuch, in sein Dorf zurückgekehrt. Als Wundarzt und Chirurgus hatte er keinen Nachfolger dort. Diesen Beruf gab es nicht mehr. Und wer krank war im Dorf, der mußte in das nächste kleine Waldstädtchen gehen, da gab es einen Doktor.
 In so einem Dorf gibt es alles, Glück und Unglück, wie in der Stadt. Ich war dabei, als man mit langen Stangen eine Leiche aus dem Froschweiher holte. Eine junge, rothaarige Magd hatte eine Liebschaft gehabt, und es hatte sich gezeigt, daß die Liebe Früchte tragen sollte. Da hatte sich das junge Ding ohne viel Besinnen ertränkt. Die Bauern schüttelten den Kopf über ihr Ungestüm und meinten tadelnd, wegen eines kleinen Kindes, da ertränke man sich doch nicht gleich. Sie hatte es aber doch getan. Im Friedhof erhielt sie ein stilles Begräbnis. Der junge Pfarrer hatte gesagt, es sei gewiß in geistiger Umnachtung geschehen man hätte ihr sonst die kirchliche Beerdigung verweigern müssen. Die Kleider klebten ihr am Leib, als man sie aus dem Wasser zog, und da war ihr Zustand deutlich zu sehen gewesen. Ihr Gesicht war wachsgelb und lächelte.
 Ein paar Tage darauf machte ich mich auf den Heimweg, wieder auf dem Rad. Die Wälder kamen, und weil es nun in die Tiefe ging, war es ein müheloses Fahren, ich flog nur so dahin. Es war ein Gefühl des Schwebens, das ich hatte. Du bist eine weiße Taube! sagte ich zu mir und nahm die Arme von der Lenkstange und breitete die Arme weit aus und schwebte durch die Kurven wie im Gleitflug. Ich spürte deutlich, daß ich eine Taube war, weiß von Farbe, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn sich das Rad vom Boden erhoben hätte. So spielte ich. Einmal war ein Bussard über mir, der hell schrie. Da glitt ich aber schon wieder in ein schwarzes Tal, das mich barg.