zurück zum Inhaltsverzeichnnis
© Georg-Britting-Stiftung

Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung

Als Pdf-Datei öffnen.
Band 5  Seite 231
Kommentar Seite 403

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«


Frau Holderlein

Es gibt Menschen, von denen man es sich nicht vorstellen kann, daß auch sie einst wie Kinder hüpften: Zu diesen gehörte Frau Holderlein. Sie war groß, sie war dick und bewegte sich langsam. Elfenzart waren ihre Knöchel und ihre Füße so klein, daß man sich wunderte, wie sie die Last des schwer gewordenen Körpers tragen konnten. Ihre üppige Brust war in Seide gehüllt, immer in Seide, und in den Farben war sie nicht wählerisch - heute taubenblau und morgen tomatenrot, das machte ihr keine Bedenken. Im Gesicht sah sie südländisch aus, mit quittengelber Haut wer weiß, woher sie die hatte, sie, einer bayerischen Mutter Kind. Eine krumme Geiernase saß über ihrem kleinen, zugespitzten Mund, der auf der Oberlippe einen dunklen Flaum hatte. Ihre schwarzen Augen glühten, in ihre schwarzen Haare mischten sich weiße Strähnen, der weißen Strähnen wurden es immer mehr, das Schwarz wurde immer weniger, aber ganz weiß wurde sie nie. So war Frau Holderlein, jeder kannte sie.
 Ihr Mann, Herr Holderlein, war Pferdemetzger, und nebenbei auch Pferdehändler, und augenzwinkernd sagten seine Freunde, mit dem Roßhandel verdiene er mehr als mit der ganzen Metzgerei. Die betrieb er in der Münchner Vorstadt, in dem alten, fast noch ländlichen Giesing, und seine Pfefferwürste waren weithin berühmt. Sie waren schwarz, gelbe Fettwürfel waren darin, und Pfefferkörner, darauf zu beißen man sich in acht nehmen mußte, das tat den Zähnen weh. Für zehn Pfennige bekam man ein Stück, das war länger als eine Hand lang, und als Zuwaage noch eine daumendicke Scheibe. Die Wurst war herrlich, und hatte nur einen Fehler – die Haut ließ sich schwer lostrennen. Die Lehrlinge, und auch die Schüler, die sich von ihrem Taschengeld die Wurst gern kauften, die ärgerten sich nicht lang mit der schwer abziehbaren Hülle und aßen sie mit. Die Pferdezungen gingen in bessere Häuser. Man weiß es: geräucherte Pferdezungen sind eine Köstlichkeit und übertreffen die Ochsenzungen an Wohlgeschmack. Manche Menschen freilich sind kleinlich und weigern sich, etwas, das vom Pferde stammt, zu essen. Ihnen, die das Vorurteil nun einmal haben, darf man nicht sagen, daß es Pferdezunge ist, was sie auf dem Teller haben, dann brechen sie in Lobschreie aus. Sie sagen, diese Voreingenommenen, gegen das Pferd hätten sie nichts, aber was unter das Beil eines Pferdemetzgers käme, seien alte, und oft auch kranke Tiere, abgerackerte Droschkengäule und Schindmähren. Dagegen verwahrte sich Herr Holderlein und sagte, er schlachte nur gute Stücke, verunglückte Gäule, und es gäbe überdies eine amtliche Fleischbeschau, die nur einwandfreies Fleisch zum Verkauf zuließe. Und ob vielleicht eine rippendürre Kuh besser zu essen sei als ein Hengst, der sich das Bein gebrochen? So zürnte er und fragte wohl auch herausfordernd, ob sie denn nie gehört hätten, daß Schmalzgebackenes am besten im gelben Pferdefett geriete? Nun, sie seien eben keine Feinschmecker!
 Sie waren angesehene Leute in der Vorstadt, die Holderleins. Das kleine Haus, in dem sie wohnten und die Pferdemetzgerei betrieben, gehörte ihnen, und ihre Ehe war glücklich und kinderlos. Gegen den Hof hinaus hatte Herr Holderlein einen Stall angebaut, in dem er sich ein eigenes Pferd hielt, einen feurig-schnellen Rotfuchs mit einem weißen Fleck auf der Brust. Das Tier war sein ganzer Stolz. Auch einen kleinen Wagen besaß Herr Holderlein. Seit dreißig Jahren waren sie nun verheiratet, und bei ihrer silbernen Hochzeit war es hoch hergegangen. Reich geschmückt war die Tafel gewesen, auf einem Schragen hatte man ein Faß Bier aufgelegt, und der Lehrling der Metzgerei machte den Schenkkellner: schäumend flossen die Krüge über. Aber auch Wein gab es, weißen und roten, und zuletzt Sekt aus hohen Stengelgläsern, die klingend gegeneinanderstießen. Das klang wie Geläut von Pferdegeschirren, sagte Herr Holderlein, der Silberbräutigam. Frau Holderlein hatte stolz und beglückt im Kreis der Versammelten herumgeschaut, von Erinnerungen bedrängt. Sie trug ihre schönste Bluse aus weißer, starrender Seide und hatte ein Myrthenkränzlein im hoch emporgedrehten Haar, und dem Sekt sprach sie fleißig zu. O, die schöne Lustbarkeit! Der kleine, stämmige Herr Holderlein trug den schwarzen Gehrock, den er schon bei der grünen Hochzeit getragen hatte, und ein Sträußlein im Knopfloch. Er war nicht dicker geworden, rühmte er sich und spannte die Brust. Seine Frau neben ihm war wie eine hohe weiße Lilie, feierlich sah sie aus und fromm.
 Herr Holderlein war ein listenreicher Schafkopfspieler, ein Meister in allen Schlichen und Tücken dieser Kunst, und jeden Abend, und keinen ließ er aus, ging er ins Wirtshaus, reihum, immer in ein anderes, die Karten klatschend und siegreich auf den Tisch zu werfen, der Schrecken seiner Gegner. Da gab es oft hochrote Köpfe, denn auch mit dem Hohn über die Unterliegenden sparte der Spielmeister nicht, und manchmal auch Zank, der aber immer bald wieder geschlichtet wurde. Selten kam es vor, daß er verlor – er tat es dann in würdiger Haltung und nahm Spottreden gelassen hin. Herr Holderlein hielt es mit dem Ausgehen wie die andern Geschäftsleute ringsum, die auch jeden Abend am Wirtshaustisch saßen – die Frauen wußten es gar nicht mehr anders, auch Frau Holderlein nicht. Das war nun einmal so Sitte. Und es mußte so sein, sagten die Männer ihren Frauen, der Wirt will doch auch ein Geschäft machen und kauft dafür bei uns ein, sagten sie – eine Hand wäscht die andere.
 So gab es viele einsame Stunden für Frau Holderlein, aber sie litt nicht darunter. Abends saß sie in ihrem Wohnzimmer, neben der Topfpalme, vor einem Henkelkrug dunklen Biers, und die Lampe gab ein friedliches Licht. Die Lampe war ein besonders schönes Stück, das Herr Holderlein bei einer Versteigerung erworben hatte. Sie stellte ein im Galopp dahinsprengendes Pferd vor. Sie war aus Kupfer, wild wallte die Mähne, und der Roßschweif bog sich schön. Der Künstler, der sie gefertigt hatte, mußte ein erlesener Pferdekenner gewesen sein, behauptete Herr Holderlein. Zierlich und zornig war der Kopf, die Nüstern blähten sich, schön waren die Beine gearbeitet, und die Augen waren aus grünem Glas und blitzten. Im Bauch hatte das Tier Petroleum. Frau Holderlein liebte das kupferne Tier und hielt es glänzend blank. Wenn sie häkelte oder strickte oder an einer neuen Seidenbluse nähte, sah sie oft zärtlich und bewundernd zu ihm auf. Sie las oft in einem Fortsetzungsroman, der von Heft zu Heft unendlich und aufregend sich fortspann, oder auch gern und immer wieder im ägyptischen Traumbuch, denn auf Träume gab sie viel und wußte sie schön auszulegen. Die Nachbarinnen kamen zu ihr, das, was sie geträumt hatten, sich deuten zu lassen. Sie war zum Fürchten in solcher Stunde, wenn der Geist über sie kam, und gläubig lauschten die Frauen den Worten der seidenen Sybille.
 Und als das Ehepaar so fast vier Jahrzehnte in Freud und Leid zusammen verbracht hatte, kam Herr Holderlein zu sterben. Es war ein langwieriges Krankenlager, das er zu überstehen hatte, und Frau Holderlein pflegte ihn mit hingebender Geduld. Herr Holderlein war recht kleinmütig geworden, als er sein Ende herannahen fühlte. Er hatte Stunden, da er weinte, so leicht zu rühren war jetzt sein Herz. Und einmal, als ihn die Frau eben frisch gebettet hatte und das Kopfkissen tätschelte, darauf sein Haupt ruhte, und sie ihm die Tropfen einflößte, die vergeblichen, und friedlich leuchtete das Petroleumpferd, da sah er sie, die ihm so gut tat, mit nassen Augen an und sagte: »Wenn ich jetzt fort muß, gell, du läßt mich nicht allein, du gehst mit!« Herr Holderlein hatte wohl nie etwas von der strengen Sitte der
indischen Witwenverbrennung gehört, die da verlangt, daß, wenn der Ehemann stirbt, die Ehefrau freiwillig den Scheiterhaufen besteigt, im Tode sich dem Mann zu vereinigen, dem sie im Leben gesellt war. Aber sein Wunsch war ähnlicher Art. Frau Holderlein doch war kein indisch Weib. Ganz freundlich sah sie ihren Eheherrn an, und es war kein Groll in ihrer Stimme, und auch keine Verwunderung ob des sonderbaren Ansinnens, und wie man einem Kinde, das man nicht ernst nimmt, einen törichten Wunsch abschlägt, sagte sie voll Sanftmut: »Ja, freilich! Vierzig Jahre lang bist du jeden Abend allein ausgegangen, und hast mich nicht gebraucht, und jetzt auf einmal soll ich mitgehen!« Still war es im Zimmer, nur der Regen klopfte. Frau Holderlein schraubte den Docht der Lampe niedriger, daß den Kranken das Licht nicht blende und sagte: »Jetzt schlaff « Herr Holderlein seufzte leise und dann schlief er ein, für diese Nacht, und ein paar Tage darauf für immer. In tiefer Trauer überlebte ihn seine Witwe um fünf Jahre. Viele, viele Abende, die nicht leerer waren, als sie es sonst gewesen, saß sie unter der Lampe und hatte keine unnützen Gedanken. Die Metzgerei verpachtete sie, nicht ohne es zur Bedingung zu machen, daß sie jeden zweiten Sonntag eine Pferdezunge umsonst zu bekommen habe. Das hielt der Pächter treulich ein. Das Pferd, es war schon längst der Rotfuchs nicht mehr, verkaufte sie und auch das Wägelchen, in der Wohnung blieb sie. Sie war immer fromm gewesen, jetzt ging sie täglich zur Frühmesse, und oft zu Herrn Holderleins Grab.
 Und was sie früher schon gelegentlich getan, das kam erst jetzt zu voller Entfaltung. Wenn jemand starb, eine alte Frau, von der es nicht anders zu erwarten gewesen war, oder eine junge Frau im Wochenbett, oder ein schwindsüchtiges Mädchen, dann holte man sie herbei. Kamm und Bürste packte sie in ihre Tasche, und Öl und Salben, und eine Brennschere und eilte zu dem Trauerhaus. Eifrig begann sie ihr Geschäft, das sie um Gotteslohn verrichtete, kein Geld nahm sie dafür. Mit zarten Fingern löste sie der Toten das Haar und lobte es, wenn es schön und dicht war, und kämmte und bürstete es und legte es behutsam zurecht. Sie nahm die Brennschere und machte sie im Ofenfeuer oder über einer Kerzenflamme heiß und prüfte an einem Streifen Zeitungspapier, ob das Eisen nicht zu glühend sei, und brannte der Toten Wellen und Stimlöckchen, zierlich gerollt auf der bleichen Haut - kein Haarkünstler hätte es besser machen können. Und manche Mutter sagte, die tote Tochter betrachtend: »Wie ein Engel schaut sie aus!« und weinte sanfter.
 An Männern übte sie das fromme Werk nicht, nur einmal tat sie es. Am Rand von Giesing, wo dann das flache Bauernland beginnt, stand eine große Ziegelei, in der viele Italiener arbeiteten. In Jacken und Hosen aus Rippelsamt kamen sie daher, die Männer aus dem Süden, aus Udine oder aus Neapel, wo der Vesuv brennt. Von den Südländern waren die meisten Kunden der Pferdemetzgerei, auch Alfredo, ein junger, zarter Mensch mit fast noch kindlichen Gesichtszügen. Mit schwungvoller Demut, wie vor einer Königin, zog er den Hut, wenn er Frau Holderlein begegnete, und sie nickte gnädig zurück. Er gefiel ihr in seiner Unschuld. Nun war er unerwartet gestorben, an einem Lungenleiden, sagte der Arzt, und die Leute sagten: aus Heimweh! Seine großäugig-traurig blickende Frau kam jammernd zu Frau Holderlein, daß sie dem Toten den üppig-schwarzen Lockenkopf brenne. Und so flehentlich bat sie darum und warf sich schreiend auf die Knie vor ihr nieder und küßte ihr angstvoll und gierig die Hände und den Rocksaum, daß sie nicht »nein« sagen mochte. Aber sie betrachtete es doch als ein unziemliches Verlangen, und es wurde auch nie wieder an sie gestellt. Auch schien ihr, Herrn Holderlein wäre es nicht recht gewesen.
 Als sie starb, brannte ihr niemand die Haare zu Löckchen. Die vom Amt bestellte Totenfrau beherrschte die Kunst nicht, und sie kam auch bald ganz außer Brauch.