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Georg Britting
Sämtliche Werke  - Prosa -
Herausgegeben von Walter Schmitz
Band 1  Seite 240 bis 252
Kommentare für Seite 645 bis 647 bei den jeweiligen Titeln

Aus: »Erzählungen, Bilder, Skizzen«



Der Kolonialfeldwebel
Der trunkene Kutscher
Hol über!
Das Initial
Das stelzbeinige E
Der nackte Engländer

Der Kolonialfeldwebel

Der aufgeschwemmte Doktor, er erzählte einmal, daß er zehn Jahre im Sattel gesessen sei, bei Expeditionen, der spitzbärtige Doktor, der in der kleinen Weinstube oft am Nebentisch sitzt, berichtete auch diese Geschichte.
 Ein deutscher Leutnant von Adel hatte sich für zwei Jahre Urlaub geben lassen, um, ich glaube, türkische Dienste zu nehmen. Es war irgendein Kolonialkrieg, ich hörte immer nur Fetzen von des Doktors Reden, der Oberbefehlshaber, ein General, war Engländer. Wenn ich recht verstanden habe, hielten die Italiener den Gegenpart. Der deutsche Leutnant, da unten war er natürlich gleich Oberleutnant geworden, hatte für die zwei Jahre den Namen Schwertlein angenommen. Von seinen Vorgesetzten war ihm das nahegelegt worden. Man wollte nicht einem Staat, mit dem man im Bündnis sich befand, Gelegenheit zu der Beschwerde geben, daß Offiziere des Bundesgenossen: kurz und gut, der Oberleutnant hieß nun Schwertlein, verrichtete stramm seine Obliegenheiten, und die waren weniger kriegerischer Art, bestanden vielmehr darin, Farbige zu exerzieren, Forts anzulegen, Straßen zu bauen - alles im Angesicht des Feindes, der mit ähnlichen Arbeiten sich beschäftigte. Nur selten beschoß man sich ein wenig.
 Nun gab es da auch einen alten englischen Unteroffizier, einen Feldwebel, einen recht gewöhnlichen Patron. Er war ein Kolonialsoldat mit viel Erfahrung, zu allem zu gebrauchen, mutig, aber mit Umgangsformen, die den Verkehr mit ihm nicht leicht machten. Er war Feldwebel, wie gesagt, und aß mit den Offizieren am Kasinotisch, wo der General an der Tafelspitze saß.
 Irgendeinmal nun geriet der Oberleutnant Schwertlein im Verlauf einer dienstlichen Auseinandersetzung in Streit mit dem Engländer. Der Mann der rauhen Sitten wurde ausfallend, gebrauchte wohl auch Wendungen, die ein Kavalier und Offizier auch in der Erregung vermeidet. Schwertlein wandte ihm den Rücken. Abends berichtete er dem General von dem Zwischenfall und erklärte ihm, er sehe sich genötigt, ihm zu melden, daß er den Feldwebel zum Zweikampf fordern werde.
 Der General dachte ein wenig nach. Dann sagte er: Es gelten hier die Gesetze des Landes. Das wissen Sie. Wenn Sie zum Beispiel, den Feldwebel erschießen, haben Sie für sein Leben seiner Familie den Preis von dreißig Kamelen zu entrichten.
 Der Oberleutnant hatte die Absätze zusammengenommen und aufmerksam zugehört. Er erklärte dann aber, er denke gar nicht daran, dreißig Kamele zu bezahlen, wenn er nur eines erschieße.
 Damit fiel die Forderung unter den Tisch. Auch tat der Feldwebel beim nächsten gemeinsamen Mittagessen ganz unbefangen, und die beiden vertrugen sich wieder leidlich. Er war übrigens ein tapferer und tüchtiger Mann, der Feldwebel, nur eben ungeschliffen.
 Als einmal abends viel getrunken wurde, ging er eine Wette ein, er werde beim Mondschein so nahe an das italienische Fort herangehen, daß er es im Lichtbild festhalten könne. Er trank noch einen kräftigen Schnaps, nahm seinen schwarzen Kasten und ging. Es war schon gegen Morgen, knapp vor Dämmerung. Er wartete wohl zu lange, bis es schon heller Tag war und die italienischen Posten ihn erschossen.
 Seine Leiche holte man am Abend und begrub sie mit allen militärischen Ehren. Das Fort hatte er richtig noch auf der lichtempfindlichen Platte. Der General kam drei Tage nicht zum gemeinsamen Tisch, ließ sich das Essen auf sein Zimmer bringen, um der Trauer über den gefallenen Landsmann Ausdruck zu geben.
 Der dicke, spitzbärtige Doktor vom Nebentisch, mit den kleinen Händen, sagte noch einmal bestätigend: Es war ein
mutiger Kerl, bloß eben ein Rüpel.

[1924]


Der trunkene Kutscher

In einem gedrungenen, von Blut prall vollen, in einem behenden und fiebernden Gebilde aus zehn Sätzen will ich zeigen, an dem Versuch mich selbst erprobend, daß ohne Bedeutung ist, ohne Gewicht und Wert das »Was«, daß nur das »Wie« Farbe und Form und Glanz gibt und Atem, aus sich selbst zu leben wie ein schönes Tier. Wenn ich sage, daß ein Wind sich aufgemacht hat und viele Wolken eilig über den Himmel hin schaukeln – wie gleichgültig ist das »Was«, dieser alltägliche Wind, diese grauen, wässerigen Wolken! Aber wie ich's sage: muß man nicht die Hände in die Hüften setzen und unendlich sich mitwiegen? Es steht die Sonnenblume hinterm Gartenzaun. Wenn ich will: seht ihr sie nicht groß und rund und feurig wie ihre ferne Schwester in Blau? Ich will bebende, springende, tanzende hundert Worte schreiben – was gilt mir das »Was«? Ich hebe die Augen: Ein Fenster.
Beginne, kleine Magie:
Das Fenster löst sich in der Dämmerung los
Und schwebt, ein funkelnder Kristall,
Sylphidenhaft und jeder Schwere bloß
Verzaubert durch den Saal.

Dreht sich und schaukelt wie aus Glas ein Ball,
Daß jede Fläche blankes Silber spritzt
Vom Licht, das süß im Achsenschnittpunkt sitzt:
Schwebt, steigt und sinkt und platzt mit leisem Knall.

Die petroleumduftende Spalte einer Tageszeitung erzählt: Ein Bauer fährt durch den Wald, wird ohnmächtig. Da er erwacht, liegt er am Boden und Pferde und Wagen sind fort. Seht ihr die Augen des Bauern? Groß, weit aufgerissen, in den Wald hinein glotzend. Nun hebt er den Arm. Vorn dran sitzt wie ein Stein die Faust. Wird er fluchen? Tobend den Forst erfüllen mit rauhem Schall? Jedenfalls, er hebt den Arm. Und fährt nicht eben jetzt ein Dieb peitschenknallend über Land?
Ihr meine zuckenden, springenden, fiebernden zehn ist's nicht gleichgültig, an welchen Wagen ich euch spanne? Daß ihr zieht, ist schön! Wie ihr die Beine setzt, hebt mir das Herz! Ein Peitschenknall über euch hin! Holla steh' ich taumelnd am Bock? Was ist schöner, als ein trunkener Kutscher zu sein?

[1925]



 

Hol über!

Es war im September und das sah man dem Waldweg an. Vor Tagen war Regen gefallen, davon hatte der Wald viel getrunken, und wie im Schnurrbart des Säufers Tropfen und Glitzerfäden hängen bleiben, so zeigte der Weg, und der ist in diesem Vergleich der Schnurrbart des Waldes, feuchte Stellen, flache Mulden, in denen gelbes Wasser am Verschlammen war. Die Nadelbäume, denn es war der Nadelwald meiner Heimat, meiner Donauheimat, standen spitz und unangreifbar, dunkelgrün, auch grau, und die roten Fliegenpilze, viele waren zu sehen, leuchteten wie Blutstropfen. Aber sie hatten nichts Erschreckendes, diese dunkelroten und braunroten versprengten Bluttupfen, sie hatten etwas Fröhlichmachendes. Es war wie das Blut im Märchen. Das ist ein roter Saft, an dem uns nur die lustige Farbwirkung erregt. Es ist Märchenblut eben, und wie Märchenbluttupfen waren die Fliegenpilze im feuchten Moos. Nun, ich ging meinen Weg, hörte einen Vogel flattern und sah am dünnblauen Himmel, an dem Längsstreifen dünnblauen Himmels, den der Weg ausschnitt, die eine oder andere weiße Wolke.
 Noch fünf Minuten und der Wald mußte aufhören, der Weg nicht, der mußte weiter laufen, und noch ein Stückchen bergab durch eine Wiese und zur Donau und zur Donaufähre. Es waren jetzt wohl an die zehn Jahre, daß ich zuletzt diesen Weg gegangen war. Wie rief man, stand man am Ufer, und die Fähre schaukelte am andern? Hol über! rief man. Hol über!, das gefiel mir auf einmal ausnehmend, und ich sah mich auf einem Pferd sitzen, einem Rappen, oder besser einem Apfelschimmel, und ein Schwert hatte ich wohl auch an meiner Seite und: Hol über! schrie ich, als sei ich im Zug der Nibelungenliedritter und zöge nach Ungarn hinab und stünde an der Donau und riefe dem trotzigen Fährmann.
 Ich fing zu traben an, da blieb auch schon der Wald zurück mit den Fliegenpilzen und die Wiese lief hinab und da floß die Donau. Breit und grün floß sie, und da stand die Fährmannshütte. Rund legte ich die Hände um den Mund, den ritterlichen Holüberruf über die breite Wasserfläche zu schicken und - ja, da stutzte ich und tat die Hände herab. Denn an der Hütte hing unter einem Schutzdach ein braunglänzendes Kästchen und an dem Kästchen an einer Schnur ein Hörrohr und es war ein Fernsprecher.
 Ich hängte aus, eine Stimme sagte: Gleich komm' ich, und schon sah ich drüben den Fährmann aus seinem kleinen Haus treten. Bald drehte sich die Seilfähre in der Donaumitte und dann landete sie bei mir. Der bärtige Fährmann stieß ab, ich zahlte, war drüben, der Strom rauschte, und ich ging meinen Weg weiter zur Bahnstation. An das Nibelungenlied traute ich mich nicht mehr zu denken, und ich ging zu Fuß und ritt nicht auf einem Apfelschimmel.
 Der Zug mußte in ein paar Minuten einlaufen. Mit mir wartete auf dem Bahnsteig ein Mönch, ein Kapuziner, ein junger Mensch mit fliegenpilzroten Wangen, der ein braunes Köfferchen in der linken Hand trug. Im Zug kamen wir nebeneinander zu sitzen. Wir waren allein im Abteil. Auf der nächsten Station hatten wir einen ungebührlich langen Aufenthalt. Da klappte der braune Kuttenmönch mit den Fliegenpilzwangen das Köfferchen auf, eine Reiseschreibmaschine glänzte schwarz. Ein Blatt Papier war noch eingespannt zwischen den Walzen und der Mönch begann zu schreiben. Es klapperte wie eine fleißige Mühle.
 Ich sah aus dem Fenster. Im hintersten Wagen wurde Vieh eingeladen. Ein Kalb sträubte sich, stemmte sich mit allen vieren und brüllte ängstlich.
 Ich lachte. O Nibelungenlied! Wir leben etwas später. Und da sah ich fröhlich zu dem Mönch hin. Aber der blickte nur streng auf seine Tasten.

[1925]
 



 

Das Initial

In einem niederen Ledersessel zu sitzen und Kaffee zu trinken und ein Buch in der Hand zu halten, ein aufreizendes, begehrlich machendes, ein fieberndes Buch und an den Wänden; ringsumher an den Wänden Bücher, Bücher, Bücher, braune, rote und gelbe Streifen zusammengewachsen zu einem großen Tier, das dampfend lauert und gestreift ist wie ein Tigertier! Der Kaffee rinnt wie Gift in die Fingerspitzen, in die vordersten Fingerspitzen, daß sie beben und ich dürfte kein glattes, hautweißes Blatt Papier mit den Fingerspitzen betupfen, sonst gäbe es braune Flecken, so sitzt mir der Kaffee in den zitternden Fingerkuppen. Aber das Buch, das ich lese, das hitzige, brandrote, schwelende Buch wird von dem Gift nicht gefärbt. Ich darf einen wilden Wirbel auf dem Deckel schlagen, einen Fingerspitzentriller, einen rasenden Nägelparademarsch, es färbt nichts ab. Oft klapp ich schnell und schnappend zu, daß eine grelle Lohe, die zwischen zwei brennenden Seiten herausfahren will, erstickt, bevor sie mich und das Zimmer und das große Büchertigertier versengt und verascht.
 Auf dem Messingaschenbecher aber schlägt ein Hahn die Flügel, kräht mit krummem Schnabel lautlos und das Tigertier faucht den Vogel an mit den Messingfedern. Der flattert und flügelt und sperrt den Schnabel zu seinem lautlosen Gekräh.
 Ich habe kein Gewicht mehr, ich schwebe, wie ich nun wieder eine Tasse leere. Der Hahn ist auf den Kastenrand geflogen und wie eine stumme Trompete schmettert er sein Kikeriki. Ich will dir die schönen, langen Federn ausreißen und dir den Schnabel stopfen und dem Tiger will ich mit der längsten und buntesten Feder den blutroten Rachen kitzeln, daß er seine Glühaugen rollt und mit dem Schwanze schlägt und wie ich lachend zwischen dem gerupften Messinghahn und dem gereizten Tiger inmitten und in der blauen Luft schwebe, schenke ich mir noch eine Tasse ein.
 Das große Buch liegt aufgeschlagen vor mir wie vor dem Priester in der Messe das große, steinbesäte Buch. Ein Satz daraus sticht mir ins Gehirn wie eine brennende Nadel und dem Nadelstich folgt ein Pfeilschuß und noch einer schwirrt und noch einer und mit zitternden Schäften stecken sie in mir. Und der Gockelhahn kräht wieder lautlos und der Tiger funkelt und nun ist aufeinmal mein Herz aus Glas und alles an mir ist aus Glas und die Pfeile können mir nicht mehr an, prallen ab und mit den Füßen werf ich sie raschelnd durcheinander wie Streu und gellend darüber kräht flügelschlagend der betrunkene Messinghahn.
 Eine Frau im gelben Gewand öffnet die Tür und steht an der Schwelle mit weißen Blumen im Strauß und ich ruf ihr zu: Draüßengeblieben, du Tote! Siehst du nicht, daß hier die weißen Blumen gelb werden wie dein gelbes Gewand? Nun wird die Frau traurig, aber das mag ich nun gar nicht und mit einem Sprung sitz ich neben dem Hahn auf dem Kasten, schlage mit den Flügeln wie er und krähe: Hinaus!
 Die Frau geht auf die achte Seite des Buches zurück. Ein rundes, geblähtes O nimmt sie auf. Tief durch das Buchstabenportal geht sie, wird kleiner und kleiner und verdämmert im rötlichen Dunkel.
 Wie sich die Isar grünschäumend an der Brücke bricht! Sie kommt vom Gebirge und haut mit platschenden Händen, mit derben Gebirglerpratzen an die Pfeiler. Das spritzt bis zu mir herauf, frisch wie Eis und der Kaffeedunst steigt aus meinem Kopf und kräuselt sich zu kleinen Wolken und steigt und die Vögel, die durch diese seltsame Abendwolke streifen, taumeln und verfehlen die Brummfliege. Aus den Anlagen kommt die Lebendige und ihr gelbes Kleid flattert diesmal wie eine Fahne beim Einzug des Kardinals. Tief in das Grün der Sträucher und wippenden Büsche dringen wir und wie ihre Lippen den Seufzer formen, seh ich das kreisrunde Rot, rund wie das Buschrund, das hinter uns zusammenschlägt, während wir atmend und liebend verdämmern im Initialkreis des O.

[1925]


Anmerkung
 

Das stelzbeinige E

In der Oberrealschule, die ich besuchte, hatten wir, es war in einer der unteren Klassen, ja, ich weiß es genau, es war die dritte Klasse, ich weiß es genau, weil ich sie zweimal durchlief, nicht durchlief, durchstolperte (was gab es da an Hindernissen, Fallgruben, Wolfslöchern, Fußangeln, Drahtverhauen, Fangnetzen), in dieser dritten Klasse also hatten wir einen Lehrer für Deutsch, der war sehr durchschnittlich begabt und tat uns auch nicht viel zu Leid, man durfte ihm nur in einem Punkte nicht wehe tun, da war er empfindlich wie ein Pferdemaul gegen Hornissenstiche. Und das war so, es klingt unglaublich und komisch, aber es ist wahr, er verlangte, daß man, wenn man den Buchstaben e, das kleine e, das kleine deutsche e schrieb, daß man da den zweiten E-Strich etwas kürzer machte als den ersten. Das war früher allgemein üblich gewesen, alte Leute tun es heute noch, aber zu unserer Zeit war das schon nicht mehr Sitte, aber er, der Deutschlehrer, er verlangte es von uns. An der schwarzen Tafel malte er uns das Muster-E hin, das beispielhafte, es sah ein bißchen hinkend aus, denn standen die E's, die wir gewohnt waren zu schreiben, auf zwei gleich langen, festen Beinen unerschütterlich und stramm und ordentlich da, so glich das E, das er gebieterisch forderte, einem Invaliden, einem Stelzfuß, einem Kriegsbeschädigten, dem man das eine Bein unterhalb des Knies abnahm. Aber ihm schien dieses verstümmelte Zeichen besonders liebenswert, und wir Schüler, nun, wenn man nichts Schwereres von uns verlangte, das konnten wir leisten, wahrhaftig, und wir leisteten es.
 Ich träumte viel damals, nicht nur im Schlaf, da träumt jeder, da träumte ich auch, auch mit offenen Augen war ich abwesend (wo nur überall!) und träumte davon, berühmt zu werden und wußte nur nicht recht, wie. Eine Spur mußte man von sich hinterlassen, irgendwas tun, was noch Jahrhunderte nachwirkte, und da kam mir der Lehrer mit seinem E gerade recht. Wenn ich, träumte ich, in allem, was ich schrieb, nicht nur in den deutschen Aufsätzen, nein, auch in allen anderen Arbeiten, in der Naturkunde zum Beispiel, in jedem Fach, ja auch in jedem Briefe, den ich an Freunde, an Verwandte schickte, in allem Schriftlichen, das ich aus der Hand ließ, das kurzbeinige E anwendete, so würde das Nachahmer finden. Da und dort im Land würden Leute aufstehen, die mir darin folgten. Meine Freunde konnte ich bitten, auch ihrerseits das umstrittene Zeichen nur in meiner Fassung aus der Hand zu geben. Und das würde ich mein ganzes Leben hindurch so halten, und wenn ich erst groß sein und Kinder haben würde, so war es ganz klar, daß die mir nachfolgten und das E malten wie ich, und die Kinder meiner Freunde würden es auch tun, und deren Kinder wieder, und so durch viele Geschlechter. Ich träumte davon, auch Lehrer zu werden und natürlich meine Schüler davon zu überzeugen, daß das Invaliden-E das einzig richtige, das einzig schöne sei, und von den Schülern würden wieder ein paar Lehrer werden dereinst, und unsere, die kurzbeinige Fassung verbreiten und vielleicht, wenn wir alle recht zusammenhielten, so konnte es gelingen, daß man auf dem ganzen großen Erdball das gleichbeinige E besiegte und im Triumph das alte, gediegene auf allem Papier zu finden war. Welch' ein Ruhm, dachte ich, das zu leisten, und sich zu denken, daß auf dem dicken, gelben Pergament, auf dem man einen künftigen Friedensvertrag niederschrieb, mein E, denn mein E war es nun geworden, glänzen würde! Und wenn die Weltgeschichte, träumte ich, wie man uns gesagt hat, das große Buch der Menschheit ist, in der von allen riesigen Taten wie in Stein gehauen, wie in Erz geritzt, erzählt wird, oder, wie man uns auch sagte, die Tafel ist, auf der goldene Lettern stehen, nun, zu den Lettern, sogar zu dem am häufigsten gebrauchten, gehört das E, und das würde in meiner Fassung ruhmvoll in die Jahrtausende schreiten.
 Ein Kastanienbaum, blühte vor unserem Schulfenster, mit großen, fast handgroßen Blättern, dunkelgrünen, und mit vielen weißen Kerzen, die im Frühlingswind leise schwankten, und ein Vogel, ein Star, saß auf einem Ast, und pfiff, und ich träumte mir meinen Ruhm. Caesar ritt heran, goldgepanzert, mit kühnem Gesicht, und hinter ihm römische Kolonnen, in Viererreihen, in Sechserreihen, schauten kühn wie er, trugen den Adler an der Stange, der flog auf und rauschte, brgitflügelig, um des Imperators blaugeäderte Schläfen. In einer Tonne saß der schmutzige Diogenes, Columbus fuhr in seiner Caravelle übers Meer, Napoleon hielt das fette Kinn auf die weiße, schnupftabakgebräunte Krawatte, Helden überall! Die Dichter sangen ihren Ruhm, schrieben Bücher, viele, viele Bücher, dicke und dünne, mit vielen, vielen Buchstaben, und hinter jedem Kapitel drein hüpfte und tanzte, wie auf der Dorfkirchweih nach dem Siebenjährigen Kriege, der gewesene Dragonerwachtmeister, der stelzbeinige Buchstabe E.

[1926]



 
 
Der nackte Engländer

Es ist ein braunes Buch, schmal, lang wie eine gute Männerhand, ein Viertel so breit, flohbraun, zwischen kaffeebraun und flohbraun, Leder der Einband, auf dem Rücken in Gold der Titel. Das Buch ist alt. Das sieht man an dem Braun, an dem edlen Braun, kein junger Einband hat diesen Ton. Und das Gold steht matt darauf, müde, altersmild, zart verwischt, und schlägst du das Buch auf, so siehst du gelbe Seiten, wachskerzengelbe Seiten, hast du weiße erwartet? Auf den wachsgelben, weizenfarbenen, honigglänzenden Seiten stehen Kolonnen schwarzer Lettern, nein, nicht schwarzer, grauer, dunkelmauergrauer, kellerasselgrauer Lettern. Lies nun! Du hofftest ein zärtliches, ein schwermütiges, ein spinnwebschwankendes Lied zu hören, aber da schlägt dir ein Tubaton entgegen, ein wilder, Trompeten schmettern, Waffen fahren gegen eiserne Strickhemden, ah, Shakespeare! Es ist ein Band einer alten Shakespeareausgabe, es ist Othello und der König Lear und der Macbeth. Dieser Einband, fluchst du, und überfliegst eine Seite im Lear, und noch eine, und wie du bei der dritten bist, fangen deine Finger zu zittern an. Sie greifen fest in den Deckel, sie reißen, sie zerren und der flohbraune Einband, der edle Einband in Rembrandtbraun und Gold, flattert, braust schnatternd in eine Ecke, und du hältst den nackten Shakespeare in der Hand und freust dich und schreist, du mußt schreien, mußt laut und barbarisch und zimbrisch schreien über deinen entkleideten, abgehäuteten, entschuppten Mann. Bis deine Frau kommt und sich weinend zu dem Einband in der Ecke niederhockt und ihre Augen voll Wasser auf dich richtet, ihre Rehaugen, ihre Rotkäppchenaugen, ihre tropfenden. Tut's dir jetzt nicht auch leid, du Urmensch, du Waldmensch, du Vieh? Aber du bist kein Waldmensch und hockst jetzt auch nieder, vor dem Rotkäppchen, Aug in Aug, und jetzt Mund auf Mund, wie glänzen die Tränen! Die linke Hand auf dem Rücken aber hält den nackten Engländer und schwingt ihn und Tränen hast du auch in den Augen, aber dein Herz innen, tief innen, kichert's nicht?

[1926]