Bd. 11 – Der Schneckenweg

Erzählungen 1941 – 1960

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Inhaltsverzeichnis

Der Schneckenweg
Valentin und Veronika
Der Eisläufer
Die Base aus Bayern
Editionsnotiz
Drucknachweise und Anmerkungen

Der Schneckenweg

Um die Jahrhundertwende war der Freiherr von Zeeh, ein großer, magerer Mann mit feurigen Augen, schon weit über fünfzig Jahre alt, aber das sah man ihm nicht an, und seit über zwanzig Jahren war er Maler, nachdem er vorher Reitoffizier gewesen war, und das konnte man ihm eher ansehen, oder sich einbilden, es ihm angesehen zu haben, wenn man es dann erfuhr. Den kurzen Krieg gegen Frankreich im Jahre 1870 hatte er als Leutnant mitgemacht und war verwundet worden, und der schlecht verheilte Schuß zwang ihn sein Leben lang, beim Gehen das linke Bein etwas nachzuziehen, aber das sah gut aus an ihm und gab seinem Gang etwas fröhlich Nachlässiges, damit er gleich auffiel. Zu reiten und seinen Dienst zu tun, daran hatte ihn der kleine Mangel nicht gehindert, und auch nicht einmal daran, zu Rennen in den Sattel zu steigen und über die grüne Grasbahn hinzufegen, und nicht seines verkürzten Beines wegen hatte er von der geliebten Waffe dann Abschied genommen, da war er schon Rittmeister, sondern weil es ihn unwiderstehlich vor die Staffelei hingezwungen hatte, Maler zu werden, und man zählte ihn bald zu den besten seiner Zeit.

Aber er vergaß über dem Malen nicht zu leben, und tat das eine wie das andere mit aller Herzens- und Sinnenkraft, und hatte nur Staunen für die, die es anders damit hielten, oder halten mußten, in ihrer Schwäche. Er war ein Jäger, der den Bock und die Schnepfe und den roten Fuchs schoß, aber er konnte auch stundenlang, ohne die Flinte anzurühren, im hohen Sommergras liegen und träumen wie ein junger Dichter, der erwachsene Mann mit den ersten weißen Fäden im Spitzbart, aber Verse machte er nicht, wenn sie ihm auch durch den Kopf blitzen mochten, wie Gold funkelnd aus der schwarzen Tiefe herauf.

Im Grase zu liegen: er hatte einen Lieblingsplatz dafür, eine Gehstunde nur von seinem Wohnhaus entfernt, unter einer uralten, geborstenen Weide, neben einem Bach, über den ein hölzerner Steg führte, und nirgendwo sonst wuchs das niegeschnittene Gras so hoch wie dort, in den Flußauen. Und wo vom Steg ab der schmale, brennesselüberwucherte Pfad sich zum Flusse wandte, da waren die vielen Schnecken, rote, ohne Haus, und graue, die ein Haus trugen, und wer den Pfad ging und die Füße noch so vorsichtig setzte, es knackte immer wieder, als zertrete man Nüsse, es waren aber die brechenden Schneckenhäuser. Und diesen Schneckenpfad ging der Freiherr im Sommer nicht gern, er führte aber am schnellsten zu seinem Hochstand am Fluß.

Er liebte die Karten, das farbige Gebetbuch des Teufels, und spielte gern hoch und scharf, und wenn er nach dem Süden fuhr, sich den Winter zu verkürzen, und kein Jahr verging, da er das nicht tat, versäumte er es nie, den Umweg über die kleine weiße Bergstadt am Meer zu nehmen, darin sich die Spieler aus aller Welt einfinden, und zitternd erprobte er die rollende Glückskugel, Sieg und Niederlage mit Lust und Schmerz zu genießen, wie es sich eben traf.

Den Freuden der Tafel war er sehr zugetan – wie hätte es anders sein können bei einem Mann seines Schlages! – und er hatte gern schöne Frauen und gute Freunde um sich am geschmückten Tisch versammelt und war, das heitere Weltkind, der angenehmste Wirt, den man sich denken konnte, jeden Scherz und jedes Witzwort wie ein Ballspieler aufnehmend, selber sprudelnd von Einfällen, hell auflachend, ob ihm eine ins Schwarze treffende Bemerkung geriet, oder ob sie von einem seiner Gäste stammte, das minderte sein Vergnügen nicht.

Auf seinem Schloß, im Schwäbischen gelegen, tief in Wäldern versunken, verbrachte er die Sommermonate, Forellen fischend und jagend, und auch, Fischen und Jagen vergessend, zeichnend und malend, und das war ihm eine Lust und Qual zugleich, aber er redete über beides nicht, und überhaupt nicht gern über seine Bilder.

In der süddeutschen Hauptstadt, in der er lebte, hatte er eine große Werkstatt im Gebäude der Hochschule für bildende Kunst. Er hatte es für seine Pflicht gehalten, die Lehrstelle nicht auszuschlagen, obwohl sie ihm viel Zeit raubte und nur wenig einbrachte, gemessen an den Preisen, die man ihm für seine Bilder bezahlte, und die Schüler kamen in Scharen zu dem berühmten Mann. Er hatte noch einen anderen, kleineren Arbeitsraum in der Stadt, aus der Zeit noch her, da er begonnen hatte zu malen, hoch unter dem Dach eines der grauen Häuser des Malerviertels im Norden, und auch in dem Haus natürlich, das er bewohnte und das ihm gehörte, zwischen Gärten am Flusse liegend, an das mit Feldern und Wind das Land sich heranschob, hatte er eine mächtige Werkstatt sich eingerichtet, und mit der im Schloß waren es deren vier, die er zur Verfügung hatte.

Und in allen vier Werkstätten standen halbfertige Bilder auf den Staffeleien oder lehnten an den Wänden. Es war ihm nicht gegeben, wie den Malern seiner Zeit allen nicht, lang und zäh und unablässig an einem Bilde zu malen, im ersten Anlauf mußte es ihm gelingen, oder nicht, wie man vom Löwen sagt, er springe nicht zum zweitenmal auf dasselbe Wild, wenn ihm der erste Sprung mißlang. In einer Art von Verzweiflung, in die sich Glück mischte, bestaunte er die feste und edle Form der alten Meister, ihre bestürzende Farbigkeit und die Fülle ihrer Gesichte – aber er mußte mit dem Seinen auskommen! Wie hatten die ein Stück Wald bloß gemalt, der tief sich verlor mit goldenen Bäumen und dunkelgrünem Moos, was waren das Gesichter, die einen anblickten, und wie blühten auf ihren Bildern Blumen, Gras und Unkraut in üppiger Mächtigkeit, wie heut nicht mehr! Mit Nachahmung war da nichts getan, wie es manche billig versuchten. Man mußte auf seine Weise mit der Welt fertig werden, die gemalt werden wollte wie je, sie verlangte es herrisch. Aber sie selber war nicht mehr so leuchtend und morgenfrisch, und ihr Abbild darum auch nicht. Aber das mußte ertragen werden, und das tat er schweigend und gewann eine heitere Gelassenheit daraus und eine Verachtung für die Stümper, die sich übernehmen.

Einmal hatte ihn einer seiner Schüler gesehen, in der großen Gemäldesammlung der Stadt, wie er lang vor einem Bild verweilte, bis er sich endlich abwandte, und dem Schüler konnte es nicht entgehen, daß dem Freiherrn die Tränen übers Gesicht liefen. Der winkte ihn, als er ihn dann erkannte, zu sich heran, und seine Augen waren noch naß, aber seine Stimme klang voll und zufrieden, als er dann sagte: Man sollte vielleicht doch nicht mehr malen! Als der Schüler, bestürzt, daß der, der ihm unerreichbar schien, so redete, etwas Abwehrendes stammeln wollte, lachte der Freiherr, mit ganz plötzlich wieder strahlendem Gesicht und sagte, und rüttelte ihn zärtlich an der Schulter wie einen Sohn: Jetzt gehen wir beide aber gleich und erst recht wieder vor unsere Leinwand! und ließ ihn stehen und ging mit eiligen Schritten davon, und das war die schönste Lehrstunde, die der Schüler je gehabt hatte.

In dem Haus am Fluß war der Freiherr verheiratet gewesen, mit einer ungewöhnlich schönen Frau aus dem Volke, in einer kurzen und wilden Ehe, die nicht dauern konnte, wie man das allgemein und spöttisch vorausgesagt hatte. Die Frau, von riesigem Wuchs und mit dem kuhäugigen Gesicht einer Göttin, war früher Kellnerin gewesen, und er hatte sie, wozu sie nimmermehr taugte, als Hausfrau heimgeführt, selber über sich lächelnd und seine Torheit. Seltsam genug, daß er es gerade mit ihr wagte, von bedenklicher Herkunft und angetasteten Rufes, und waren doch Frauen in seinem Leben gewesen, in allem dazu angetan, daß man sie vor den Altar führe, die demütig Stolzen, aber nie war es dazu gekommen, und mit Tränen und Leid und Scham oder auch mit Gleichgültigkeit hatte es jedesmal geendet. Und nun war es ihm geschehen, daß er zu heiraten begehrte, und er hatte es getan. Wenn er daran zurückdachte, war ihm, die Jahre seiner Ehe seien wie mit Flammen und Rauch erfüllt gewesen, als hätten sie in einem brennenden Haus gelebt, und der Dachstuhl habe über ihnen gelodert, funkenwerfend, und gleich würden die glühenden Balken stürzen, sie zu begraben. Und die Frau gebar ihm einen Sohn in dem Feuerhaus, der starb aber bald, und dann ließen sie sich scheiden, nach kaum drei Jahren schon, und die Frau zog in eine andere Stadt, und sie sahen sich nicht mehr, und ein alter Diener besorgte ihm seitdem das Hauswesen, von einer Zugehfrau unterstützt, welche die gröberen Arbeiten verrichtete.

So lief die Zeit dahin, er hatte schon Hunderte von Bildern gemalt. Keine große Sammlung, im Inland und im Ausland, die nicht ein Gemälde von ihm besaß, und Fürsten und große Damen kamen von weither gereist, nur um von ihm auf der Leinwand sich dargestellt zu sehen, und Reichtum und Ehre Floß ihm zu, ein goldener Strom. Man erzählte sich, neidvoll und bewundernd, viele Geschichten aus seinem glücklichen Leben, und von schönen Geliebten, die er hatte, auch noch als er dann sechzig und darüber geworden war und das Alter anfing, ihn zu beugen und seinen Bart gänzlich weiß zu machen, aber seine Augen waren noch immer voll Feuer und durstig. Oft sah man ihn in guten Weinstuben sitzen, wo man für Feinschmecker zu kochen wußte und wo man ihn gut kannte und noch besser bediente, und hin und wieder war dann auch einmal eine junge Frau an seiner Seite, zu der er das Glas hob, und manchmal eine am Nebentisch verstand nur zu gut, was jene an den weißhaarigen, schlanken Mann binden mochte, und der Junge neben ihr gefiel ihr auf einmal nicht mehr so sehr.

Seine Arbeitskraft verließ ihn nicht bis zuletzt, und von den Bildern seiner späten Zeit wußte man zu rühmen, daß sie an Glanz und Tiefe dazugewonnen hatten, dergleichen sie früher nicht immer besessen. Aber nun galt es, sich auf den Abschied vorzubereiten, er sah ihm mit klaren Augen entgegen, und er richtete es so ein, daß eine Stille um ihn entstand, und immer seltener traf er sich mit alten Freunden, die ihm Vorwürfe
machten deswegen, aber er lächelte nur dazu.

Er wußte von einem malaiischen Sprichwort, das ging ihm jetzt oft durch den Sinn: daß nur der einen Mann sich nennen dürfe, der ein Kind gezeugt, einen Feind getötet, einen Baum gepflanzt und einen Vers gemacht habe. Nun, das alles konnte er von sich sagen, und seine Verse malte er zwar und schrieb sie nicht, aber das mochte doch gleich viel gelten, wollte er schon hoffen. Der Sohn war ihm im Feuerhaus gestorben, er dachte kaum je an ihn und wußte nicht mehr, wie er ausgesehen, der unbekannte Feind in roten Hosen aber, den er niedergehauen im klirrenden Anritt, der war mit den Jahren sein bester Freund geworden, in der Erinnerung, die sie mächtig aneinanderband, den lebenden an den toten Mann, dessen Gesicht deutlich vor ihm war, zu ihm aufblickend mit einem unvergeßlichen Blick, dann war es niedergesunken in den Staub. Und auch Bäume hatte er oft pflanzen lassen, im Garten seines Hauses und im Schloßgarten, und einmal, das Malaienwort auf den Lippen, hatte er dem Gärtner den jungen Baum aus der Hand genommen und ihn selber in die Erde gesenkt.

Er war nun schon siebzig Jahre alt, da rief ihn ein dringender Brief zu seiner geschiedenen Frau, die, auf den Tod im Krankenhaus einer entfernten Stadt darniederliegend, nach ihm verlangte. Er reiste sofort ab, an einem schönen Sommertag, fuhr nach seiner Ankunft vom Bahnhof aus gleich ins Krankenhaus und wurde in das Zimmer der Sterbenden geführt. Er hatte sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, es waren auch keine Briefe in all der Zeit zwischen ihnen hin und her gegangen, und er fürchtete sich ein wenig jetzt: sie war viel jünger als er, und nun mußte sie doch schon fort, und er, der Alte, war noch da! Die Kranke habe hohes Fieber, sagte man ihm, seit Tagen schon rede sie wirr und unzusammenhängend und wisse oft nicht mehr, wo sie sei, man höre es an den Worten, die sie zu schattenhaften Gestalten spreche, aber den geliebten Mann erkannte sie sofort und streckte ihm glücklich auflachend ihre abgezehrte Hand hin und nahm die seine und ließ sie nicht mehr los. Er sah in ihr Gesicht, das mager und faltig geworden war, und das Herz zog sich ihm zusammen beim Anblick dieser Veränderung. Aber was sich auch alles geändert haben mochte seit ihrer gemeinsamen traurigschönen Zeit, an ihm schien sie es nicht zu bemerken. Sie sah ihn mit glühenden Augen an, als sei er der junge Liebhaber von damals. Sie liebkoste seine Hand und breitete die Arme, ihn zu umfangen, und drückte ihn fest an ihre Brust und küßte ihn mit heißen Lippen und gab ihm die vertrauten Namen, die sie ihm früher gegeben hatte, und keinen hatte sie vergessen, und jeden kannte er wieder, und er wußte nicht, wie er sich benehmen sollte, in Scham und Rührung. Inzwischen war die Krankenschwester ins Zimmer getreten und hatte ihm verstohlen ein Zeichen gegeben, daß es an der Zeit sei, die Kranke zu verlassen, daß ihr die Aufregung nicht zu sehr schade. So löste er sich vorsichtig aus ihren Armen, die ihn nicht lassen wollten, und sagte, und seine Stimme war nicht fest, er müsse jetzt gehen, aber natürlich komme er morgen, und schon in der Frühe wieder, und wollte sich zur Tür wenden. Bleib doch noch! schrie aber die Kranke, ach, ich habe dich so lange nicht mehr gehabt! und ihre Augen glänzten, und sie zerrte an ihrem Hemd, daß die welke Schulter sich entblößte, und dann sagte sie Worte der wildesten Raserei, wie die Liebenden sie sich sagen in den Nächten, und deren sie sich selber schämen müssen am nüchternen Morgen dann, und die Nonne, die dergleichen nie gehört hatte, errötete tief unter der weißen Haube über das, was da zu ihr drang. Dann war der Freiherr gegangen, und als er, nach einer unruhigen Nacht, in der er wenig Schlaf gefunden, aber viel Zeit, manches zu bedenken, am andern Morgen wieder kam, war die Frau schon tot, und er wußte, daß es richtig gewesen war, sie zu heiraten und keine andere. Ohne die Beerdigung abzuwarten, war er dann wieder heimgereist in sein leeres Haus.

Am Tag nach seiner Rückkehr ließ er sich wieder einmal, wie oft, im offenen Wagen flußabwärts fahren und bedeutete dem Kutscher, mit dem Wagen auf der Straße zu warten, und ging durch einen grünen Gürtel Fichtenwaldes zu den Flußauen und zu der alten Weide. Die flimmerte im grellen Licht, und das Gras stand hoch, und an den Blättern der Weide hingen die weißen Tropfen des Kuckucksspeichels, und mit leisem Geräusch fiel hier und da ein Tropfen ins Gras, daß er zuerst gemeint hatte, es wolle zu regnen beginnen – aber wie hätte das sein können, aus dem wolkenlosen Himmel herab? Er legte sich ins Gras, so, daß die Tropfen ihn nicht treffen konnten, und schloß die Augen, schlief aber nicht. Er hörte die tausend Sommergeräusche, ein dünnes Summen und Brodeln, so kochte die Wiese, und die Hände hatte er ins Gras gewühlt, tief hinein, wo die Stengel aus der Erde kommen, und wo es immer kühl ist. So lag er eine Zeitlang, und dann beschloß er, zu seinem Hochstand zu gehen. So stand er denn auf und ging. Er kam an den Holzsteg, der Bach floß mit schwarzen, schnellen Stößen, und neben dem Steg weitete er sich zu einer Bucht, an deren Rand Binsen wuchsen und in der das Wasser sich zu weißen, schaumigen Strudeln kräuselte, und grüne Wasserjungfrauen standen zitternd über der Flut. Er ging über den Steg, und der schmale Pfad, der nun kam, war kaum zu sehen, so war er bedrängt von Brennesseln, Gras und dem niederhängenden Gezweig von Sträuchern.

Heuer waren wieder so viele wie sonst, und mehr noch, Schnecken da. Die kleinen, in den gelblichen und grauglänzenden Häusern, saßen auf Halmen und auf den Blättern des Elefantenohrs, die großen krochen am Boden dahin, die grauen, behausten, und die roten, die kein Haus trugen, auch – es war, als sei da eine Heerstraße der Schnecken oder ihr großer Lagerplatz, zu dem sie von weither zusammenkamen. Er wollte die Tiere schonen und schaute zu Boden, daß er keines zertrete, und bückte sich, sie aufzuheben, und warf sie wie Steine raschelnd in die Sträucher. Aber der Pfad war mit Gras überwachsen, und im Gras verborgen entgingen die Tiere seinen Augen, aber nicht seinem Fuß, und bald ertönte das knackende Geräusch eines brechenden Gehäuses, und wieder und wieder, und er zuckte jedesmal schmerzlich zusammen. Dann mußte er es aufgeben, die Schnecken zu schonen, es waren ihrer zu viele, er hörte es krachen und splittern, und ging schneller, und begann dann zu laufen, und mit Lust stampften seine Schritte jetzt den Boden, erbarmungslos zu töten. Die Zweige der Sträucher, die den Pfad säumten, schlugen ihm ins Gesicht, und weil auch auf ihren Blättern der Kuckucksspeichel saß, klatschte es ihm naß über Stirne und Mund und Augen, und bei jedem Schlag, den er empfing, und der ihm weh tat und ihn demütigte, trat er um so heftiger auf, als wolle er an den schuldlosen Schnecken sich rächen. Als der Pfad ihn endlich am Flußufer ins Freie entließ und er keuchend stand, waren sein Gesicht und sein Bart beschmiert von der klebrigen Nässe der weißen Tropfen, und auch sein Anzug war mit Flecken weißen, ekelhaften Speichels bedeckt, und ihm war, er sei Spießruten gelaufen zwischen wilden Männern, höhnisch im Gesträuch verborgen, den fliehenden Greis mit ihrem Auswurf zu verunreinigen, und fast schien ihm, er habe die verzerrten Gesichter der Wütenden gesehen.

Er säuberte sich mit zitternden Händen und wischte mit Gras die Schuhsohlen ab, an denen die schleimigen Überreste der getöteten Schnecken hingen, und ging nicht mehr zum Hochstand, und auf Umwegen zu seinem Wagen zurück, und befahl die Heimfahrt, und der Kutscher erschrak, als ihn der Freiherr mit flackernden Augen anblickte.

Drei Wochen später starb der Freiherr schnell und unerwartet an einem Herzschlag. Die Zeitungen veröffentlichten lange Nachrufe auf ihn, in denen Werk und Persönlichkeit des Verewigten eingehend gewürdigt wurden, und die Beerdigung fand mit großem Gepränge statt. Hunderte von Teilnehmenden waren herbeigeeilt, und Vertreter von Staat und Stadt und großen Körperschaften, und auch bloß Neugierige, die einmal sehen wollten, wie ein großer Mann zu Grabe getragen wird. Als Erben seines Vermögens und seines gesamten Nachlasses hatte der Freiherr in seinem letzten Willen seines jüngeren Bruders einzigen Sohn bestimmt, der ihm schon immer lieb gewesen war. Am Tage nach der Beisetzung ging der Neffe in das Haus seines toten Onkels, das ja nun ihm gehörte, und in der Halle empfing ihn der Diener. Er solle ihn durch das Haus führen, begehrte der Neffe, und sie schritten durch die Räume, die wohleingerichtet waren. Die Böden spiegelten, die alten Schränke glänzten, und der Neffe sprach dem Diener sein Lob aus, wie schön und ordentlich alles gehalten sei. Aber das hätte der verstorbene Freiherr, darin peinlich wie ein alter Soldat, nicht anders geduldet, wehrte der bescheiden ab. Als sie dann zum ersten Stock hinaufstiegen und der Diener wieder ein Zimmer wies und der Neffe die Klinke an der Tür des nächsten niederdrückte und die Tür öffnen wollte, war sie versperrt. Den Schlüssel zu diesem versperrten Zimmer habe er nicht, sagte der Diener, und auch nicht zu den anstoßenden Zimmern. Sie habe der Freiherr abgeschlossen, eins nach dem andern, im Lauf der letzten Jahre, und sie selber wohl nie mehr betreten, und die Schlüssel dazu müßten in seinem Schreibtisch liegen.

Dort fanden sie sich auch. Der Neffe steckte selber den Schlüssel zum ersten der versperrten Zimmer ins Schloß und sperrte es auf und trat ein und der Diener hinter ihm. Es war dämmerig im Raum, die Sonne, die draußen lag, drang nur dünn durch die Ritzen des herabgelassenen hölzernen Rollvorhangs, und so drehte der Diener die Deckenbeleuchtung an. Sie sahen einen weißgedeckten Tisch, Teller und Geschirr und Weingläser darauf, als seien Speisende eben vom Mahl aufgestanden. In einer Vase ließen blaue und rote Blumen
die vertrockneten Köpfe hängen, und als der Neffe sie anrührte, zerbröckelten sie unter seinen Händen. Die Luft roch modrig, und der Fußboden war so mit feinem Staub bedeckt, daß die Spuren ihrer Schritte sich abzeichneten.

Als der Neffe dann das anstoßende Zimmer aufsperrte, die Tür weit offenstehen lassend, war es dämmerig in ihm auch, und auch hier war der Rollvorhang herabgelassen, und wieder war ein weißgedeckter Tisch da, und noch Gläser und Schüsseln darauf, von einem beendeten Mahl, und welke Blumen in einer Schale, und aus einem Kühler ragte der Hals einer Weinflasche. Und was klares Eiswasser gewesen war in dem silbernen Kübel, das war ein trüber, grünlicher Bodensatz nun, vom Schimmel weiß überzogen. Und überall lag Staub, und mehr als im ersten Zimmer, auf dem Boden und auf jedem Schrank und Stuhl.

So war es auch im nächsten Zimmer, das der Neffe aufsperrte: sie hatten es gar nicht mehr anders erwartet, die beiden, der Neffe und der Diener, auf diesem wunderlichen Weg in die Vergangenheit. Die Zimmer stießen eins ans andere, durch Türen miteinander verbunden, und das Licht drehten sie nicht mehr an, als scheuten sie sich, das Bild der Verlassenheit zu sehr zu erhellen, und sie sprachen mit so leiser Stimme miteinander, als sollte sie niemand hören dürfen. Sie traten an den Tisch heran, an dem man gespeist hatte, mit Geschirr darauf, in dem verschimmelte Reste von Fleisch und Brot waren, und auf dem geleerte Gläser standen. Neben einem Weinglas lag ein zerknülltes Tuch. Der Neffe nahm es auf und schüttelte den Staub daraus. Es war ein kleines, zartes Taschentuch, wie es Damen benützen, und die Zerstreute hatte es liegengelassen und vergessen und auch nicht mehr zurückverlangt oder es sich wiedergeholt.

Sie öffneten das nächste Zimmer, das vierte nun von fünfen, die seit Jahren versperrt gewesen waren, sagte der Diener. Dämmerig lag der Raum vor ihnen wie die andern. Wieder war der Tisch da, an dem gegessen und getrunken worden war und geredet und gescherzt und gelacht, und kein Schall war mehr da von den Worten, bösen und guten, aber die verstaubten Teller und Gläser waren noch da und der zerknitterte Blumenstrauß, und der Staub, der sich über alles gelegt hatte, grau und flaumig, war hier schon wie eine dicke Aschenschicht, denn je weiter sie vordrangen, von Zimmer zu Zimmer, desto weiter drangen sie ja in die Vergangenheit zurück, und desto modriger und totengrüftiger wurde die eingesperrte Luft.

Und dann waren sie im letzten der versperrt gewesenen Zimmer. Sie hatten die Türen, die von Zimmer zu Zimmer führten, alle weit offenstehen lassen, und in dem Zimmer, das sie zuerst betreten hatten, brannte noch das Deckenlicht und drang, wie aus der Tiefe eines Schachtes her leuchtend, matt bis zu ihnen. Vor vier Jahren vielleicht sei es gewesen, erinnerte sich der Diener, daß ihm der Freiherr zum erstenmal gesagt habe, er habe ein Zimmer verschlossen, im ersten Stock, und niemand solle sich darum kümmern. Der noch gedeckte und verlassene Tisch stand hier an den Ofen gerückt, wie wärmesuchend, mit zwei Gläsern darauf – nie hatten mehr als zwei oder drei Menschen gespeist gehabt in jedem der Zimmer, an der Zahl der Gläser war es immer zu erkennen gewesen. Schwarze Spinnwebfahnen hingen von der Decke herab, und auch zwischen den zwei Gläsern auf dem Tisch war ein Netz gespannt, und eine riesenbeinige Spinne lief aufgestört zwischen den Tellern davon, und wovon die nur gelebt haben mochte, all die Jahre? Aber tote und ausgedörrte Fliegen hatten sie auch in den andern Zimmern liegen sehen, die mochten dort verhungert sein aber die in dem Zimmer hier hatten den Spinnen als Nahrung gedient.

Langsam gingen dann die zwei den Weg zurück, den sie gekommen waren, durch die Zimmerflucht, auf ihren eigenen Spuren, ihren Fußstapfen nach, und der Staub wirbelte unter ihren Schritten, und es war ihnen wie grabschänderisch zumut auf diesem Gang. Als sie dann im Flur waren und das volle Sonnenlicht sie mächtig beschien, sahen sie, daß ihre Schuhe grau bestaubt waren, als hätten sie eine lange Wanderung hinter sich, und sie waren ja auch vier Jahre unterwegs gewesen.

Der Diener war gegangen und wieder gekommen, mit Bürsten und Lappen, die Schuhe des Neffen zu säubern, und der war inzwischen vor das Haus hinausgetreten und stand auf der Treppe, die zum Garten führte, und während der alte Mann die Bürste schwang, sah der Neffe über den Garten hin, der mit hohen Bäumen und Gesträuch bis zum Flußufer hinab sich dehnte. Die grünen Wipfel glänzten im Licht, und wo der weiße Kiesweg eine Schleife machte, sah man den Brunnen, eine große Marmorschale auf steinernem Sockel ruhend, und deutlich sah man aus der Schale einen Wasserstrahl aufsteigen und in der Sonne funkeln. Dort habe er den Freiherrn tot gefunden, sagte der Diener, und zeigte auf den Brunnen, vor vier Tagen nun. Der Freiherr habe zu Mittag gespeist gehabt, im Eßzimmer, und nur wenig gegessen, und der Wein habe ihm nicht geschmeckt, und er habe einen andern sich bringen lassen. Aber auch der sei nicht nach seinem Gefallen gewesen. Er habe nur einen Schluck davon genommen und den Kopf geschüttelt, und dann habe er Wasser verlangt. Er, der Diener, habe ihm ein Glas frischen Wassers gebracht, aber der Freiherr habe es nur mißmutig betrachtet und gesagt, das sei ja schales Zeug, und er ginge jetzt selber zum Brunnen, dort zu trinken, und er brauche kein Glas dazu, er wisse noch gut, wie sie es als Buben gehalten hätten, und das könne er noch: den Mund an den Strahl legen und davon schlürfen. Damit sei er aufgestanden und in den Garten gegangen, und er, der Diener, habe nicht gewagt, ihm zu folgen, obwohl er es gern getan hätte, weil ihm das Wesen des Herrn bedenklich vorgekommen sei. Aber vom Küchenfenster aus habe er den Freiherrn beobachten können und habe gesehen, daß er, vor dem Brunnen angelangt, sich niedergekniet habe, so besser trinken zu können. Er habe die Hände auf den Rand der Schale gelegt und lang dem steigenden und fallenden Strahl zugesehen, und dann habe er nicht den Mund an den Strahl gehalten, sondern das Gesicht tief in das Wasser der Schale getaucht, so lang, daß es ihn, den Diener am Fenster, schon ängstigte, und dann habe der Freiherr den Kopf gehoben und sei aufgestanden, und plötzlich sei er neben dem Brunnen zusammengesunken. Er sei voll Sorge hingelaufen, sagte der Diener, aber der Freiherr sei schon tot gewesen, als er bei ihm ankam, und in seinem Bart und in seinen Haaren hätten die Wassertropfen geblitzt wie der Tau im Gras, daß er nicht gewagt habe, sie mit seinem Taschentuch abzuwischen.

Der Neffe ging dann allein zu dem Brunnen. Weiß hob sich der Strahl und sank und stieg mit neuer Kraft, wie vor Erregung zitternd, und der Neffe tauchte die Hand in die Schale. Das Wasser war von eisiger Frische, und der Neffe ließ die Hand so lange darin, bis ihm war, sie würde gefühllos. Es lockte ihn, auch das Gesicht in das Nasse zu tauchen, aber er tat es nicht und sah zum Haus hin, wo das Küchenfenster sein mochte, und von wo aus man ihn vielleicht beobachtete. Da nahm er die Hand aus dem Wasser und ging ein Stück tiefer in den Garten hinein, bis an den hölzernen Zaun, der ihn vom Nachbargarten trennte. Am Zaun wuchsen Himbeerstauden in großer Menge. Die roten Früchte waren reif und überreif, und das Rankenwerk glühte in der Sonne, und geflügeltes Getier, Hummel und Biene, umschwirrte es. Der Neffe pflückte sich eine Handvoll der Beeren, die waren trocken und heiß, und legte sie auf ein großes, grünes, kühles Blatt. Dann schlug er einen Bogen und kam auf einen Nebenpfad und ging den, von den Beeren essend, und sah eine Sandsteinfigur stehen, halb verwittert, vom Regen ausgewaschen, und es war nicht zu erkennen, ob das ein Heiliger sein sollte oder ein heidnischer Gott, und mit einem Armstumpf langte die Steingestalt in die blaue Leere des Himmels hinauf. Der Neffe legte das Blatt mit dem kleinen Häuflein Beeren, das noch darauf war, vor der Gestalt nieder wie ein Opfer: und wenn der Gott es verschmähte oder der trotzköpfige Heilige es ungnädig ablehnte, so mochten es die Vögel fressen. Dann ging er langsam zum Haus zurück.

Als er wieder auf der Haustreppe stand, hörte er ein Rasseln über sich, ein Rolladen im ersten Stock fuhr knarrend hoch, ein Fenster wurde aufgestoßen, und fünfmal, wie Donner, prasselte es über ihm, und fünfmal fuhren Fensterflügel auseinander, frische Luft einzulassen: der alte Diener war schon an der Arbeit. Dann beugte er sich auch aus einem der Fenster und schrie herunter, das gäbe nun zu tun, und morgen ließe er Putzfrauen kommen, und in ein paar Tagen schon könne er, der Erbe, das Haus vom Boden bis zum Keller gesäubert finden und in Besitz nehmen, und der nickte nur.

Valentin und Veronika

Veronika, noch nicht zwanzig Jahre alt, das einzige Kind eines Bahnwärters, der in dem Dorfe Eilsprunn, einem Ort im Niederbayerischen, seinen eintönigen Dienst versah, hatte sich mit der häuslichen Arbeit sehr beeilt, und nun glänzte die kleine Wohnung in der Sonne, drei niedrige, weiß gekalkte Stuben, mehr waren es nicht, und sie hatte sich die Haare sorgsam aufgebürstet und ihr Sonntagsgewand angezogen, obwohl es ein Werktag war, und hatte sich schön gemacht, auf ihre ländliche Weise, und war, von der Mutter gemahnt, nicht zu spät zurückzukommen, gegen vier Uhr des Nachmittags nach der nur eine knappe Stunde entfernten kleinen Stadt gegangen, um den Jahrmarkt zu besuchen, der dort alljährlich im Frühling und im Spätsommer abgehalten wurde. Es war nicht allzuviel, was er zu bieten hatte, der staubüberwölkt da lag: Bierbuden, auf hölzernen Bänken davor laut blasende Musikanten, Verkaufsstände, vor denen wild mit den Händen fuchtelnde und heiser rufende Männer ihre Waren feilboten, Wurstbratereien, von deren glühenden Rosten der Dampf stieg, einen
Zauberer auch im sternbesetzten Mantel, der ungeheuerliche Dinge zu vollführen versprach, wenn man ihm nur gegen Zahlung des geringen Eintrittspreises in das Innere seines Zeltes zu folgen sich entschlösse, und dergleichen mehr – aber den bäuerlichen Leuten, die aus der Umgegend zusammengeströmt waren, schien es den Inbegriff jeglicher Lust zu bedeuten.

Veronika hatte sich herzklopfend in das Treiben gemischt. Sie war stehengeblieben vor einer buntbemalten Bude, vor der ein schwarzbärtiger Mann in sehr weiten und faltigen Hosen ein Kalb mit nicht wie sonst vier, sondern fünf Beinen als nie dagewesenes Weltwunder anpries, aber eingetreten war sie nicht. Sie hatte zugesehen, wie auf kleinen, weißen und schwarzen, sich bäumenden Holzpferden die Kinder sich im Kreis drehten, und hatte, scheinbar ohne Absicht und Ziel, sich mitnehmen lassen vom fließenden und oft sich stauenden Zug der schwatzenden und lachenden Neugierigen, und hatte doch es so einzurichten verstanden, daß sie dann bald, dort am Ausgang einer der Budenstraßen, die blitzenden Schaukelboote steigen und fallen sah.

Nun erschrak sie doch, daß sie Emilio jetzt also wiedersehen sollte. Emil, so hieß er eigentlich, so stand in seinem Taufschein zu lesen, aber Emilio ließ er sich rufen, einer Sitte seines Standes gehorsam, der fremdklingende Namen liebt und sie für anziehender hält als die bescheiden-alltäglichen, die man rundherum vernimmt. Sie hatte seine Bekanntschaft heuer im Frühjahr gemacht, an einem der letzten Jahrmarktstage, als sie der mit Angst gemischten Lust nachgegeben hatte, auch einmal, wie Freundinnen ihr oft davon geschwärmt, eine sausende Fahrt in der Schaukel zu wagen. Da war ein junger, schwarzhaariger Mann ihr beim Einsteigen behilflich gewesen, eben Emilio, der Sohn des Schaukelzeltbesitzers, wie sich dann später herausstellte. Und weil sie allein und mit eigener Kraft sich nicht zu schaukeln getraute, so hatte er, wie das sonst auch seines Amtes war, im Boot bei ihr stehend, sie hinauf und hinab geschwungen, bis sein Vater unten, eine Glocke grell läutend, das Ende der Fahrt anzeigte, und wer noch nicht genug hatte und nicht aufhören wollte, der mußte neuerlich dafür bezahlen.

Zu denen gehörte Veronika, und vier- oder fünfmal hatte sie die Fahrt wiederholt, bis sie anfing schwindlig zu werden und endlich aussteigen mußte, und noch der feste Boden schien ihr unter den Füßen zu schwanken. Ob er sie wiedersehen dürfe? hatte Emilio gefragt, in einer halben Stunde? da könne er sich freimachen für kurze Zeit – und sie hatte nicht: Nein! gesagt, und hatte sich, mit wirbelnden Gedanken, wieder forttragen lassen vorn Strom der vergnügten Leute. Dann hatten sie sich am verabredeten Platz getroffen, bei einem alten, stelzbeinigen Drehorgelspieler und hatten zusammen und aus einer gemeinsamen Tüte türkischen Honig gegessen, und süßen, gelben Met getrunken aus demselben Glas, das sie einander abwechselnd an die Lippen hielten, und es war eine schöne Viertelstunde gewesen. Und er hatte sie dann noch, seine Hand in der ihren, ein Stück auf ihrem Weg nach Hause begleitet; bis Eilsprunn mitgehen, das durfte er nicht, so sagte er, und sein Vater würde jetzt schon unwillig sein und murren, wo er so lang bleibe und sich herumtreibe, mit Mädchen wahrscheinlich! Als er das gesagt hatte, von den Mädchen, hatte sie seine Hand fallenlassen, als sei sie feurig, aber er hatte nur gelacht und dann versucht, sie zu küssen, aber es war ihm nicht gelungen, so hatte sie sich gewehrt in seinen Armen. Aber dann hatte er umkehren müssen, und hatte gesagt, zwei Tage dauere der Jahrmarkt noch, und er hoffe, sie käme noch einmal zu ihm während dieser zwei Tage, aber spätestens gegen Ende des Sommers würden sie sich wiedersehen, denn sicher, oder fast sicher, würden sie da wieder, Zugvögel, die sie waren, die fahrenden Leute, sich einstellen mit ihrem Zelt, und sie solle ihn nicht ganz vergessen bis dahin.

In den zwei Tagen war sie nicht wieder zum Jahrmarkt gegangen, obwohl sie es sehr danach verlangt hatte, aber wer weiß, was er sich sonst eingebildet hätte! Vergessen hatte sie ihn nicht in dem halben Jahr, das seitdem verflossen war, sie hatte oft an ihn gedacht, an ihn und wie er sie in den Armen gehalten, wie noch kein Mann sonst. Von der Liebe, und wie man da tut, und wie einem da geschieht, wußte sie noch nicht viel, und weniger als manche ihrer Freundinnen, die, aus Neugier schon, früh freigebig gewesen waren. Nicht daß Veronika kälteres Blut gehabt hätte als die. Aber sie war von zu guter Art, als daß es bei ihr so hätte kommen können, und ihr ahnte von einem großen Gefühl, in dem man einmal entbrennen mußte in Lust und Schmerz, und nur mit Emilio ein wenig tändeln wollte sie, mehr nicht, und schon drängte etwas mächtig in ihr zu einem andern, was sie vor sich und vor diesem andern nicht wahrhaben wollte. Sie schob sich vorwärts in dem Menschengewühl, näher heran an die ruhelos schwingenden Boote dort vorn, aber es konnte ja sein, fiel ihr ein, daß sie einem andern fahrenden Mann gehörten, und das gab ihr einen Stich, und darüber nun wieder ärgerte sie sich ein wenig. Sie machte noch ein paar Schritte, da erkannte sie ihn, den frechen Freund vom Frühjahr, an der Orgel lehnte er, neben der Glocke. Es schaukelten gerade nur Männer, und die brauchten seine Hilfe nicht, die fuhren lieber allein, oder auch mit ihren Mädchen, wenn sie eins hatten, und die meisten hatten eins.

Als sie vor ihm stand, sah er sie so an mit seinen schwarzen Augen, daß sie die ihren niederschlug, und er gab ihr die Hand, und hielt ihre Hand lange fest und sagte: Da bist du ja endlich! Er sagte du zu ihr, und sie erinnerte sich nicht, daß er das damals im Frühjahr auch getan hatte, und wie kam er bloß dazu? fragte sie sich unwillig, aber es freute sie doch auch. Aber vielleicht verwechselte er sie mit einer anderen, mit der er so vertraulich stehen mochte, dachte sie in einer eifersüchtigen Regung, und so entzog sie ihm rasch ihre Hand, und fragte mit Betonung: Wie geht es Ihnen? Aber die ihr nicht geläufige Höflichkeitsformel brachte sie zum Erröten, und er merkte es. Wollen wir schaukeln? fragte er dagegen, und dabei griff er nach der Glocke und läutete gellend. Dann riß er an eisernen Haken die hölzernen Bremsblöcke nach vorn, daß die schwingenden Boote sie knirschend streiften und ihre Fahrt verlangsamten und endlich stillhielten. Die Fahrgäste stiegen aus, und neue stiegen ein, und sein Vater und er sammelten das Fahrgeld ein und stießen dann die Bremsblöcke wieder zurück; eine neue Fahrt begann, und Veronika stand bei Emilio im Boot.

Sie lachte ihn an, den Mann, der ohne ein Recht dazu du zu ihr gesagt hatte, und ihre Röcke knatterten, und der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht, und sie warf den Kopf in den Nacken, die Strähnen zurückschleudernd, die ihr den Blick verdunkeln wollten, und freute sich, wenn es hinauf ging, pfeifend zur Höhe, wo man beinahe schon ein wenig auf dem Kopf stand und man sich fester an die tragenden Stangen klammern mußte, hoch über dem Jahrmarkt vogelgleich schwebend. Sie sah Emilio zu, und wie er den Schwung der Schaukel nicht ermatten ließ, und sah, wie seine Brust sich wölbte unter der roten, enganliegenden Wolljacke, und schwarz waren seine Augen, und schwarz war sein Haar, und das stand gut zu dem ein wenig abenteuerlich leuchtenden Rot, es war nicht zu leugnen.

Es war wohl schon während der dritten Fahrt, daß sie einmal hinabspähte auf den Platz vor der Schaukelbude und neben dem dröhnenden Orgelkasten eine schwarze Gestalt stehen sah, die sich nicht rührte. Sie wußte, wer der Mann war, sie hatte ihn doch selbst hierher bestellt, gestern abend, und sie wußte auch, warum sie das getan hatte, mit Vorbedacht, und lächelte den nichtsahnenden Mann ihr gegenüber im Boot an, der ihr ein Lächeln zurückgab.

Es war Valentin, der da unten stand, von dem man sich im Dorf nicht ohne Spott erzählte, daß er, seit einiger Zeit schon, der Veronika schön tue, wenn auch bis jetzt nur mit geringem Erfolg, oder so gut wie gar keinem, so hatte es den Anschein wenigstens, für seine Freunde und für ihn. Er stand unbeweglich und stumm, obwohl er zu Veronika sprach, inwendig bloß, ohne die Lippen zu rühren, und sie bat, doch aufzuhören jetzt mit der wilden Fahrt und aus dem Boot zu steigen, daß er sie heimbegleiten könne ins Dorf, wie er das mit ihr verabredet hatte, und wie ihm das zukam, ihm allein, weil keiner sie so liebte wie er. Aber wenn das Boot nun wirklich langsamer fuhr und dann den Bremsblock scharrte und still hielt, und Veronika ausstieg, so hatte das keineswegs Valentins stumm flehende Bitte vermocht, sondern die mahnende Stimme von Emilios Vater, der dem Sohn die Fahrt zu endigen befohlen hatte, weil schon andere Mädchen ungeduldig warteten, die auch geschwungen sein wollten.

Sich wieder vor dem stehbeinigen Drehorgelspieler zu treffen, schlug Emilio vor, in einer Stunde, und er würde Veronika dann nach Hause begleiten, wenn es ihr recht sei. Dem Vater würde er die Erlaubnis schon ablisten, den Rest des Abends für sich verwenden zu dürfen, und sie hatte nichts gegen seinen Vorschlag einzuwenden, die Schlaue, die ein doppeltes Spiel trieb. Und während Emilio in ein Boot sprang, drehte sie sich um und winkte Valentin herbei, der mit finsterem Gesicht abseits stehen geblieben war, so lange sie mit dem roten Zigeuner, wie er den fremden Mann wütend bei sich nannte, gesprochen hatte; aber nun erhellten sich seine Mienen, als sie ihren Arm in den seinen schob und dicht an ihn gedrängt den Gang durch den Jahrmarkt wieder aufnahm.

Valentin, der sonst von ihr nicht eben Verwöhnte, nun stolz und strahlend vor Glück, daß sie an seiner Seite war, hatte es sich dann nicht nehmen lassen, in einer Süßigkeitenbude ein großes, braunglänzendes, mit grünem und blauem Zuckerguß verziertes und mit einem aufgeklebten hitzigen
Liebesspruch prahlendes Lebkuchenherz zu kaufen und es an einem breiten, roten Band ihr um den Hals zu hängen, und während er das tat, und dabei nahe an sie herantreten mußte, hatte sie, die ein wenig kleiner war als er, die Augen ruhig und vertraulich zu ihm erhoben: Sie hatte helles, fast rötliches Haar, und auch ihr Gesicht hatte die weiße Hautfarbe der Rothaarigen, und Sommersprossen hatte sie auf Stirn und Wangen, und auch über die Nase hin waren sie verstreut. Unschuldig lachte sie Valentin an, und unschuldig auch lachte sie, als dann bei dem Drehorgelspieler, bei dem rechtzeitig einzutreffen ihre Sorge gewesen war, Emilio sich einfand, auch ein Lebkuchenherz am roten Band schwingend, das er Veronika um den weißen Hals hängte, und sie hielt gehorsam still, und zwei Herzen lagen nun an ihrer atmenden Brust.

Aber nun müsse sie heim, sagte sie dann, und der Weg würde ihr nicht lang werden, da sie ja zwei Begleiter nun habe, und sah von einem zum andern. Spiel uns eins! sagte Valentin und seine Stimme klang rauh, und er sah Veronika nicht an und warf dem stelzbeinigen Alten eine Münze in den schwarzen Bettlerhut, und dann gingen sie.

Bald hatten sie den Jahrmarkt hinter sich und die letzten kleinen Häuser der Stadt, Stille umfing sie, nun nach dem Lärm des dröhnenden Festes, und sie waren auf der Landstraße, die sich lang und staubig hinstreckte zwischen abgeernteten Feldern. Die Sonne war schon untergegangen, aber am westlichen Himmel vor ihnen war noch viel Licht. Veronikas Schritt war fest und freudig, und sie sah mit zufriedenem Gesicht geradeaus. Rechts von ihr ging Emilio, leuchtend in seiner roten Wolljacke, und links von ihr ging Valentin, den Blick zu Boden gesenkt, als suche er dort etwas, was er verloren hatte, und keines sprach ein Wort. So verstrich wohl eine Viertelstunde und mehr, während sie hartnäckig schwiegen, und nur ihre Schritte klangen laut auf der Straße. Dann sah man in der Ferne einen schwarzen Wall, das war der Bahndamm, und ein gutes Stück noch hinter ihm lag Eilsprunn, und jetzt wuchs auch schon in den schmalen Streifen Himmelshelle hinein der spitze Turm der Dorfkirche.

Und dann standen die drei auf der Landstraße auf einmal still, und Valentin war es gewesen, der zuerst stehen geblieben war, immer noch stumm, aber nun deutlich merken ließ, daß er das verstockte Schweigen zu brechen wünsche, aber es fiel ihm schwer, etwas zu sagen, so würgte es ihn im Halse. Daß er doch nun besser allein weiterginge, stieß er dann endlich höhnisch hervor, aber den Blick hob er dabei nicht vom Boden. Es sei ja wahr, daß er versprochen habe, Veronika nach Hause zu begleiten, aber vielleicht habe sie sich das anders überlegt und wolle lieber zum Jahrmarkt zurück, um zu schaukeln, das schrie er fast, zu schaukeln, und noch dazu in so angenehmer Gesellschaft, und jetzt sah er Emilio dabei drohend an. Der trat einen Schritt auf ihn zu, sein dunkles Gesicht hatte sich gerötet, aber ehe er noch ein Wort hervorbringen konnte, hatte Veronika: »Auch gut!« gesagt, und hatte sich so heftig auf den Absätzen gewendet, daß die lustigen Herzen auf ihrer Brust hell klapperten, und nun ging sie auch schon den Weg zurück, den sie zu dreien gekommen waren, und waren zu zweien nun, denn Emilio hatte sich ihr schweigend zugesellt.

Vor ihnen war der Himmel schon dunkel und standen schon die ersten blassen Sterne darin, und tiefer darunter funkelten die rötlichen Lichter des Jahrmarkts, der in den Abendstunden jetzt aufrauschte zu einer letzten hohen Welle der Lust.

Wenn ich mich umdrehte, dachte Veronika, ich tu es aber nicht, so sähe ich Valentin hinter uns hergehen, und wie wird er sich jetzt schämen und traurig sein! Sie sah nach links hin, wo Emilio neben ihr ging, und seine rote Wolljacke glühte feurig in der Dämmerung, und er pfiff vor sich hin, und das gefiel ihr nicht. Nach einer Weile wurde ihr Schritt langsamer, vielleicht wußte sie das gar nicht, und dann schien sie ein Geräusch hinter sich zu hören, lauschend drehte sie den Kopf ein wenig, deutlich vermeinte sie Valentins eiligen Tritt zu vernehmen, des Gefährten, der hinter ihnen herlief in seiner Not, und da tat er ihr leid, der gehetzte Läufer, unbarmherzig und wenig großmütig dünkte es sie, nicht auf ihn zu warten, den Unterlegenen, der seine Schuld eingestehen wollte, und so drehte sie sich plötzlich um, und Emilio tat es auch, und pfiff nicht mehr. Sie erblickte den Reumütigen nicht, wie sie sich das eingebildet hatte, dicht hinter sich auf der Landstraße, und auch nicht zwanzig oder dreißig Schritte entfernt, hinter ihnen hertrabend mit gesenktem Kopf, weit zurück und hoch oben auf dem Bahndamm stand er, im letzten sinkenden Licht, das im Westen noch war, und als könne er sehen, daß sie sich nach ihm umgewandt hatte, erhob er den Arm und winkte. Dann sprang er vom Damm hinab, ins Finstere hinein, dorthin, wo die Straße nach Eilsprunn weiterlief.

Veronika hatte nicht gleich zurückgewinkt – und wie hätte sie jetzt noch winken sollen, da niemand mehr auf dem Damm stand? Aber sie war stehengeblieben, das Gesicht nach dem Damm gerichtet und dem unsichtbaren Eilsprunn, und als sich jetzt ein Arm sanft um ihre Schulter legte, und der Arm sie herumdrehen wollte, dahin, wo der Jahrmarkt glänzte, stampfte sie mit dem Fuß auf und schüttelte den zudringlichen Arm zornig ab und machte sich allein wieder auf den Heimweg, und nach ein paar Schritten fing sie gar zu laufen an, so eilig hatte sie es auf einmal, und um Emilio kümmerte sie sich nicht.

Valentin, als er den Damm hinabgesprungen war, stand dann still. Es war nun nicht mehr weit zum Dorf, eine Viertelstunde vielleicht, wenn man langsam ging, und das tat er, ganz langsam ging er, und ohne es sich recht einzugestehen in der verwegenen Hoffnung, Veronika möchte nun doch schon wieder, von Reue getrieben, hinter ihm drein sein, und dann wollte er es ihr nicht schwer machen, und sie sollte ihn einholen können, und er wollte dann tun, als sei gar nichts geschehen, beschloß er bei sich. Aber so langsam er auch ging und stehenblieb dazwischen und zum Himmel aufblickte und zu den Sternen, die sich einer nach dem andern hervorwagten, bald sah er, als der Weg sich senkte, in einer Mulde das Dorf dunkel zusammengekauert liegen. Da begann er verzweifelt ein Spiel, wie Kinder es wohl spielen. Er blieb stehen und zählte bis zwanzig, und machte dann erst einen Schritt, und zählte wieder bis zwanzig und horchte, und tat dann wieder einen Schritt und seufzte, und so trieb er es eine Weile, allein unterm Sternenhimmel, aber selbst auf diese Weise kam er nur allzu schnell voran und stand bald am Dorfweiher, und gleich dahinter waren die ersten Häuser von Eilsprunn, und Veronika war noch nicht da. Aber einmal mußte sie ja kommen, früher oder später, und er nahm sich vor, auf sie zu warten und sollte es Mitternacht werden. Er legte sich am Wegrand ins nasse Gras, auf den Rücken, müde war er wie ein erschöpfter Wettläufer, obwohl er so langsam gegangen war, das Herz klopfte ihm, und er sah zum Himmel auf und atmete in wilden Zügen.

Er lag noch nicht lange, da hörte er Schritte auf der Straße, und er sprang auf und spähte ins Dunkel, und wenn es zwei gewesen wären, die da kamen, Veronika und Emilio, und vielleicht Arm in Arm, und vielleicht flüsternd und sich küssend, da wäre er davongerannt, querfeldein in die Nacht; Zeuge ihres Glücks zu sein, das hätte er nicht vermocht. Aber dann erkannte er die Geliebte, und sie war allein, und am liebsten hätte er laut geschrien in seinem Jubel, aber er faßte sich und schwieg, und wartete, bis sie ihn erreicht hatte.

Von einer Bogenlampe, die am Dorfeingang über der Straße hing, drang ein schwacher Schein her zu den beiden. Schwarz glänzte der Weiher, der mit Entengrütze bis in die Mitte hinein bedeckt war, und ein paar Frösche begannen zu quaken, und da und dort sprang einer ins Wasser, und dann spritzten die Tropfen empor und glitzerten im Licht. Veronika ordnete mit ruhigen Händen ihr Haar, und die roten Bänder, daran die Herzen hingen, glänzten auf. Du bist allein, sagte Valentin, und schon während er es sagte, war ihm, es käme jemand auf der Straße daher, und es möchte jemand aus dem Dorf sein, hoffte er, aber er glaubte es nicht, gleich wußte er es besser, wer die Gestalt war, die sich langsam nun aus dem Dunkel hob. Emilio war es, und eine wilde Freude war jetzt in ihm, als er den Burschen und das Mädchen stehen sah und zu ihnen trat. Jetzt sind wir wieder beieinander, sagte Veronika, und ihre Stimme klang wie immer, und sie sah von einem zum andern, und dann lachte sie, als ob das sehr lustig sei, aber Valentin fand es nicht so besonders lustig, das gar nicht, und Emilio auch nicht.

Komm! sagte Valentin zu dem Mann in der roten Jacke und trat mit ein paar Schritten von der Landstraße fort und auf die Wiese, und der verstand gleich, was der Bauernbursche wollte, und Valentin hatte es nicht nötig, seine Aufforderung zu wiederholen, und es war wohl so, daß Emilio selber das gleiche vorzuschlagen im Sinn gehabt hatte, weil er Valentin so ohne Zögern auf den Kampfplatz folgte. Dann standen sie sich gegenüber auf dem schmalen Wiesenstück zwischen der Straße und dem Weiher, der aussah, als sei er nicht mit Wasser, sondern mit einem zähen, dicken, dunklen Brei angefüllt, und dumpf klang das Aufklatschen, wenn jetzt die aufgescheuchten Frösche zu Dutzenden hineinsprangen. Valentin zog seine Jacke aus, und Emilio warf seine Mütze ins Gras, und erst jetzt fing Veronika an zu begreifen, was geschehen sollte.

Als sie sich mit beiden Männern verabredet hatte, war ihre schlau berechnete Absicht gewesen, den einen gegen den andern auszuspielen, um selber ungefährdet zu sein, und die Nebenbuhler sollten einander bewachen mit scharfem Aug, weil sie selber so am besten bewacht war. Aber sie hatte dabei nicht bedacht, wie Männer manchmal handeln
in solcher Lage, und gleich sollte sie es nun sehen müssen. Das erschreckte sie nicht einmal so sehr, denn daß es zwischen den Burschen Schlägereien gab eines Mädchens wegen, das kam immer wieder einmal vor, und manche ihrer Freundinnen hatte sich schon gerühmt, der Anlaß gewesen zu sein zu solchem Streit, und daß nun auch ihretwegen ein Zweikampf ausgetragen werden sollte, erfüllte sie sogar mit einer geheimen Lust.

Emilio und Valentin hatten sich mit drohenden Blicken gemessen, wie sich das gehört, nach einer ungeschriebenen Regel, und lang genug, und nun also mußte einer zum Angriff übergehen, und wider Veronikas Erwarten war es Valentin, der so tat und die Faust reckte und einen Schritt auf Emilio hin machte. Dabei sah er, was jetzt zu tun nicht ungefährlich war, statt den Gegner nicht aus den Augen zu lassen, neben Emilio zu Veronika hin, die am Rand des Weihers stand. Er sah, daß sie zu ihm herlachte, gemein und höhnisch lachte sie, so meinte er, und sah im Dunkel ihre weißen Zähne blitzen. Sie lachte aber nur, weil es sie stolz machte, daß er der Tapfere war, der den Kampf beginnen wollte. Das aber konnte er nicht wissen, sie hatte ihm keinen Grund gegeben, das anzunehmen, schnöde, wie sie sich heute ihm gegenüber verhalten hatte – und wie hatte er sich darauf gefreut gehabt, sie nach Hause führen zu dürfen, und hatte es für ein Zeichen genommen, daß er Hoffnung habe, sie zu gewinnen. Nun lachte sie noch über den Betrogenen, und er zitterte vor Wut, und stieß zu mit der geballten Faust, und wie dann das geschah, wußte er selber nicht, oder auch, er wollte es nicht wissen, nicht Emilio traf er, sondern Veronika.

Sie taumelte, der Stoß gegen ihre Schulter war ganz unerwartet gekommen, sie breitete die Arme aus, wie um sich festzuhalten, und griff ins Leere, und rutschte mit den Füßen im nassen Gras, und mit dem Oberkörper voran stürzte sie aufschreiend in den Weiher. Sie ging unter, nur ihre Beine blieben oben, weiß bestrumpft waren sie, und glänzten bleich und kindlich im ungewissen Licht. Dann schlug sie mit den Armen wild um sich, ihr Gesicht tauchte auf, bleich und von grünhaarigem Geflecht überhängt, aber sie war ungeschickt, oder der sich blähende Rock behinderte sie, denn wieder verschwand ihr Kopf im schwarzen Wasser.

Valentin war unbeweglich stehen geblieben, als er sah, was er angerichtet hatte, und starrte nur wie gebannt auf das Wellenschlagen, und es war nur gut, daß Emilio wenigstens seinen kühlen Kopf behielt und niederkniete und Veronika am Bein faßte mit festem Griff, und sie ans Ufer zu ziehen suchte. Das ging aber nicht so leicht, sie zappelte wie ein Fisch an der Angel, der ungebärdig nicht an die Luft will – für ihn ist es der Tod, aber bei dem Mädchen war es doch umgekehrt. Hilf doch! schrie der Kniende jetzt Valentin keuchend zu, und zog und zerrte an seiner nassen Last. Aber der war wie zu Stein erfroren, keine Hand vermochte er zu regen und keinen Fuß, schwarz schlug die Verzweiflung über ihm zusammen, und er betete und flehte nur um eines, Veronika solle nicht tot sein, und er nicht ihr Mörder, und Emilio solle es gelingen, sie ans Ufer und ins atmende Leben zurückzubringen, und dann wolle er nicht das mindeste mehr mit Veronika zu tun haben, das sei vorbei, so gelobte er, keinen Blick mehr wollte er zu ihr erheben, und sie solle von nun an dem Emilio ganz und gar und für immer gehören, wie der es sich verdient hatte.

Während er so stand, jammervoll untätig, kindisch nur Stoßgebete plappernd, hatte Emilio die triefend Nasse mit letzter Kraft auf die Wiese gezogen. Sie lag da, Schlamm und grüne Fäden im Haar, und war nicht tot, und hatte die Augen offen, und blieb still und erschöpft auf dem Rücken liegen, zu den Sternen emporblickend, und einmal hob sie den Arm, wie prüfend, ob er ihr noch gehorche. Als Valentin das sah, und daß sie dem Leben wiedergeschenkt war, schlich er ins Dunkel hinein lautlos davon. Er ging ins Dorf und nach Haus und legte sich ins Bett, und schlief lange nicht ein, und daß die beiden nun ganz sich überlassen, quälte ihn nicht, ohne Schmerz konnte er sich vorstellen, was ihn kurz vorher noch zur Raserei gebracht hätte, so demütig und wunschlos entsagend hatte ihn seine Tat gemacht.

Inzwischen hatte Veronika sich sitzend aufgerichtet, und Emilio war auf den Knien geblieben, und weil der Himmel nun voll von Sternen war, und die Augen der beiden sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten sie einander gut sehen, und die Lampe am Dorfrand schickte ja immer noch ihren schwachen Schein her. Deutlich zeichnete sich im Weiher die Stelle ab, wo das Mädchen untergesunken war, ein wild gezacktes Loch war dort in die grüne, moosige Decke gerissen. In ihren tropfenden Kleidern fröstelte Veronika, und die durchfeuchteten Herzen hingen noch an dem Band auf ihrer Brust. Ich muß jetzt nach Hause gehen, sagte sie mit leiser Stimme, und: Dank auch, daß du mich aus dem Wasser gezogen hast. Sie sagte du zu dem Mann in der roten Wolljacke, der neben ihr kniete, und das hatte sie noch nie getan, und so neigte er sich jetzt zu ihr, aber sie drehte den Kopf abwehrend fort, solche Belohnung sollte er nicht haben, und da erhob er sich mit einer heftigen Bewegung. Sie stand auch auf und sagte: Gute Nacht! und gab Emilio die Hand und ging, und ihre nassen Kleider rauschten.

Emilio sah ihr nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden war und er allein am Weiher stand, und die Frösche begannen nun wieder ihr Lied. Er bückte sich und säuberte sich die Hände im Weiher, die schmutzig geworden waren, und schlenkerte sie hin und her, sie zu trocknen. Und wenn er wirklich ein Zigeuner gewesen wäre, wie Valentin ihn bei sich genannt hatte, und so wilden und grausamen Blutes, wie man es denen nachsagt, so hätte er jetzt wohl das still schlafende Eilsprunn in Brand gesteckt, daß der rote Hahn auf den Dächern seine glühenden Flügel schlüge, so zornig war der enttäuschte Mann. Aber er tat es nicht, und wenn doch, ihm unbewußt, etwas in ihm danach drängte, Feuer zu sehen, so sollte das anderm dienen, seine Pfeife nämlich zu entzünden. Er holte sie hervor und Tabak und stopfte sie, und seine Finger zitterten dabei, und dann steckte er die Pfeife zwischen die Zähne und kramte aus der Hosentasche eine Streichholzschachtel. Als er dann ein Zündholz entflammte, mußte er es sehr ungeschickt dabei angestellt haben, oder das Holz hatte einen besonders dicken Feuerkopf, und ein Funke sprang über auf die anderen Hölzer in der Schachtel, sie alle in Brand setzend. Es knatterte und zischte, und eine gelbe Stichflamme schoß aus der Schachtel hervor, es roch nach Schwefel und Hölle und Teufel, daß es ihm fast den Atem verschlug, und den Teufel rief er auch bei Namen in einem wilden Fluch und warf die fauchende Schachtel in einem hohen Bogen fort, wie man eine Handgranate gegen den Feind schleudert, aber ohnmächtig veratmete sie im Gras. Dann machte er sich, ohne dem Dorf auch einen Blick nur noch zu schenken, an der kalten Pfeife ziehend, auf den Weg zu den Seinen.

Der nächste Morgen sah Valentin schon früh in der Werkstatt. Das bescheidene Anwesen seines Vaters lag in der Nähe der Kirche auf einem Hang. Nicht nur seiner kleinen Bauernwirtschaft stand der Alte tüchtig vor, er betrieb auch, weil zwei Brunnen mehr Wasser geben als einer, wie er gerne sagte, eine Schreinerei, und Valentin, der das Handwerk in der Stadt erlernt hatte, half ihm dabei. Die Werkstatt befand sich auf der Rückseite des Hauses, und wenn man den Hobel sausen ließ bei offener Tür, hatte man die große Obstwiese vor sich, die, mit Apfelbäumen bestanden, den Hang hinunter sich erstreckte.

Es hatte zehn Uhr vom Kirchturm geschlagen, als es Valentin, von der Arbeit aufblickend, war, er sähe in der Tiefe des Gartens eine Gestalt hinter einem Baum stehen, und es gab ihm einen Ruck, als er Veronika zu erkennen glaubte. Wohl eine Viertelstunde stand das Mädchen so, hinter dem Baum nur halb verborgen, und regte sich nicht, und spähte zu ihm herauf, und er ging nicht hinunter, arbeitete nur fleißig weiter, und daß er tief errötet war, konnte niemand sehen, er war ja allein. Dann trat die Gestalt hinter dem Baum hervor, und es war nun kein Zweifel mehr, daß es Veronika war. Sie schien zögernd zu erwägen, ob sie zur Werkstatt hinaufgehen sollte, aber sie tat es dann nicht, und entfernte sich, lautlos, wie sie gekommen war.

Oft sah Valentin sie nun von weitem im Garten stehen, zwischen den Bäumen, wenn er in der Werkstatt arbeitete, auch bei Regenwetter. Einmal, als er in der Wohnstube saß, strich sie wie ein Schatten am Fenster vorbei, und als er dann rasch vor die Tür trat, lehnte sie am Nachbarzaun und huschte wie erschreckt davon, als sie merkte, daß sie erkannt worden war.

So trieb es Veronika auch in den nächsten Wochen, immer bestrebt, täglich einmal wenigstens Valentin heimlich und von fern zu sehen, wie ein Hund wohl tut, der, weil sein Herr ihm zürnt, sich nicht mehr in dessen Nähe wagt und doch den Blick nicht von ihm lassen will. Aber nie sprachen die seltsamen Liebesleute ein Wort mit einander, und nur selten sonst noch, als um Valentin zu sehen, verließ Veronika das elterliche Haus. Aber dann kam ein Sonntag, da zog sie gegen Abend Arm in Arm mit den Freundinnen die Dorfstraßen auf und ab, und sie war die Ausgelassenste unter den Übermütigen, und auch in die Wirtschaften gingen sie, wo die jungen Männer beim Bier saßen. Es dauerte auch nicht lange, daß einer der Burschen sich um Veronika bemühte mit schönen Worten, und sie hörte ihm gern zu, so schien es, lachend und sich zierend. Aber da tauchte auch schon Valentin auf und nahm sich den Bewerber zur Seite, um ihm zu bedeuten, daß da schon ein anderer älteren und besseren Anspruch auf das Mädchen habe, und er solle von solchen Anstrengungen lassen, es sei denn, er wolle Unliebliches gewärtigen. Der zog denn auch verwirrt und mit
rotem Kopf ab, und Veronika war glücklich in ihrem Herzen, weil sie meinte, Valentin betrachte sie als die Seine, und er dulde keinen Nebenbuhler, und nur seine Scheu hindere ihn, sich auszusprechen, aber auch das würde er nun denn bald tun.

Es war aber so, daß Valentin die Verpflichtung fühlte, Veronika zu bewachen, weil er es sich fest in den Kopf gesetzt hatte, daß nur Emilio ein Recht auf sie habe, der ihr das Leben gerettet in jener Nacht. Trotzig bestand er darauf, zu tun, als sei ihm ein Gut anvertraut worden zu treuen Händen, und er müsse Sorge tragen dafür, daß es unberührt bleibe von jedermann, und unberührbar auch sollte es sein für ihn selber, wie er sich das gelobt hatte, damals am Weiher, als er fast zum Mörder geworden.

Und was er, sich selber damit bestrafend, sich vorgenommen hatte, das führte er auch durch, Veronika bekam es zu spüren. Der Herbst verging, und der Winter kam mit vielem Schnee und langen Sonntagabenden bei Bier und Tanz in den Wirtshäusern, und auch Veronika fand sich hie und da einmal zu einem solchen Fest ein. Aber so oft sich dann ein Mann ihr nähern wollte, gleich spielte Valentin sein altes Spiel und verscheuchte ihn durch dunkle Drohungen, und darin, die Worte verfänglich und geschliffen zu setzen, war er den Dorfburschen weit überlegen, er, der jahrelang in der Stadt gelebt hatte, und bald wagte sich, und seis auch zu harmlosem Scherz nur, kein Mann mehr an Veronika heran.

Das reizte sie desto mehr, und erst recht versuchte sie, und trieb es ganz schamlos, den Männern zu gefallen, und scheute nicht davor zurück, auch denen feurige Blicke zu schenken, von denen sie wußte, daß sie durch Schwur und Kuß gebunden einer anderen gehörten, und das brachte auch die Freundinnen gegen sie auf, die sich von ihr abwandten und nichts mehr redeten mit ihr.

So wurde sie bald ganz einsam und war freudlos auf sich angewiesen, und wenn sie sonntags die Messe besuchte, schritt sie mit gesenktem Kopf und fast wie eine Geächtete durch die Gruppen der schwatzenden Burschen und Mädchen, die vor der Kirchentür sich sammelten und verstummten bei ihrem Anblick. Die älteren Leute im Dorf hatten sich um das, was die Jungen da unter sich anstellten, nicht recht gekümmert. Sie hatten ihre eigenen Sorgen, und nicht zu wenige, und wenn sie überhaupt einmal davon redeten, was denn da geschähe, dann nur wie von einer törichten Kinderei, die sich gebe, wenn sie erst anfinge den jungen Trotzköpfen langweilig zu werden. Aber das sollte so bald noch nicht sein.

Die besorgte Mutter, im dunkeln tappend mit ihren Vermutungen, was die schweigsame Tochter so traurig mochte verändert haben, hatte Veronika dann, um ihr frische Luft zu verschaffen, wie sie meinte, für ein paar Wochen zu Verwandten in ein Nachbardorf geschickt, daß, bis sie zurückkäme, zerrissen sei, was sich um das Mädchen, lächerlich und unheilvoll genug, zusammengesponnen hatte. Aber Veronika traf es dort nicht anders. Wie Unkrautsamen, vom Wind fortgetragen, überall aufgeht, so liefen auch in dem fremden Ort schon seltsame Gerüchte über sie um. Sie mußte verschlossene und mißtrauische Gesichter ertragen, Geflüster und Gemunkel, und sie war für die Leute fast so etwas wie eine Hexe geworden, die man am besten mied. So kehrte sie wieder nach Eilsprunn zurück, ins elterliche Haus, und nichts hatte sich gebessert, und in ihrem verwirrten Herzen wußte sie nicht mehr ein und aus.

Oft saß sie in dieser Zeit nachts im Bett aufrecht, in ihrer kleinen Stube, und das Fenster war offen, die Kälte strömte herein, und der volle Mond besuchte sie. Dann schlüpfte sie aus dem Bett und trat im Hemd ans Fenster, und achtete der Kälte nicht, und sah zum Fenster hinaus auf die weißbeschienenen Dächer des Dorfes, und längst hatte sie es gelernt, Valentins Haus mit einem einzigen raschen Blick zu finden. Und es ging ihr durch den Sinn, wie gut es gewesen wäre, wenn sie damals, als sie im Weiher schon untergesunken gewesen war, nicht wieder aufgetaucht wäre zu einem Leben, wie sie es nun führte. Sie sah den Weiher vor sich wie eine Verlockung, gegen die sie sich wehren mußte mit Bekreuzigung und Stoßgebeten. Aber es war ja eisiger Winter jetzt und der Weiher zugefroren, man konnte über ihn hingehen, er trug, fest und hart verschlossen war er, kalt und abweisend und nicht gesonnen jemand gnädig aufzunehmen, bis das im Frühling wieder anders sein würde.

Und dann kam der Frühling. Die Tage wurden wieder länger, der Schnee schmolz, das erste Grün zeigte sich, und die Bäume standen im Saft. Mit dem Frühling war, wie immer so auch heuer, das Storchenpaar wiedergekehrt, das sein Nest auf einem Wagenrad aufgebaut hatte, das vom Dorfschmied vor Jahren auf dem Kirchendach angebracht worden war. Eifrig klappernd hatten die Rotschnäbel gleich begonnen, die Schäden auszubessern, die der Winter der luftigen Wohnung zugefügt hatte. Als Veronika eines Abends, auf dem Weg zum Krämer, eine Weile vor der Kirche stehen geblieben war, die Vögel zu beobachten, und sie dann in die Hauptstraße einbog, kam ihr Valentin entgegen. Wenn er sie sonst von weitem sah, war er ihr immer ausgewichen, aber diesmal hielt er zu ihrem freudigen Schrecken auf sie zu. Er sprach sie an und war ein wenig verlegen und hochmütig zugleich, und daß seit drei Tagen wieder Jahrmarkt sei, drüben, in der Stadt, sagte er, sie wisse es, und da werde sie denn hingehen müssen, um jemanden wiederzusehen, der wohl schon auf sie warte. Fast befehlend sagte er es, und sie hörte ihn an, und ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen, als sie dann ohne Gruß ihren Weg fortsetzte, und die Störche klapperten hinter ihr drein.

Und am nächsten Sonntag machte sie sich gehorsam für den Jahrmarktsbesuch zurecht. Sie zog das Kleid an und die Strümpfe, die sie damals getragen hatte, als sie von Valentins Schlag ins Wasser gestürzt worden war. Längst waren sie heimlich gewaschen und getrocknet und ordentlich gebügelt, aber sie hatte sie nie mehr am Leib gehabt. Bevor sie ging, öffnete sie in ihrer Kammer die Schublade ihres Tisches. Drin lagen zwei Herzen an roten Bändern, und das Herz, das ihr Valentin geschenkt hatte, sie kannte es genau, oft hatte sie es und immer wieder betrachtet und geküßt, nahm sie mit. Als sie am Weiher vorbeikam, band sie einen Stein an das Herz, und sagte: geh du voran! und warf es im hohen Bogen ins Wasser, und das rote Band flatterte noch zornig gebauscht in der Luft, als wehre es sich dagegen, in die Tiefe gezogen zu werden.

Die hurtigen Schaukelboote schwangen gerade lustig, als Veronika sich ihnen näherte, und sie erkannte auch Emilios Vater, aber vergeblich spähte sie nach einer roten Jacke aus, und Emilio kam dann auch nicht, und ob sie stundenlang wartend vor dem Zelt stehen blieb. Und auch als sie den Sonntag drauf wieder kam, war er nicht zu erblicken, und an seiner Stelle schaukelte ein junger Angestellter die Mädchen, und sie wagte es auch nicht, zu fragen, ob er krank vielleicht sei, den sie suchte, oder warum sonst er fehlte, und so konnte sie ihm nicht sagen, was sie ihm hatte sagen wollen – sie hatte es sich genau überlegt.

Das war der letzte Tag des Jahrmarkts gewesen, und am Montag in aller Frühe ging Veronika noch einmal in die Stadt und auf den Festplatz. Die fahrenden Leute waren schon eifrig tätig. Die hölzernen Buden wurden abgebrochen, das Schaukelzelt stand schon nicht mehr, es war schon zusammengefaltet und verpackt worden und in einen Wagen verstaut, und eben wurden auch die letzten Boote in das Gefährt verladen, das kleine Fenster hatte und saubere weiße Vorhänge daran, und Blumentöpfe standen an den Fenstern, und der Wagen war wie ein schmuckes, grünes Haus anzusehen. Dann wurden zwei Pferde davor gespannt, Emilios Vater kletterte auf den Bock und ließ die Peitsche knallen, und der Wagen rollte langsam davon.

Eine Weile folgte ihm Veronika, durch die Stadt hindurch und auf die große Landstraße hinaus, und auch auf der Landstraße ging sie wohl noch eine Stunde hinter dem Wagen her. Endlich gab sie es auf und blieb stehen und sah den Davonfahrenden lange nach. Dann kehrte sie um.

Gegen Mittag war sie wieder zu Haus. Und spät am Nachmittag war sie Zeuge des Kampfes, der hoch über der Kirche sich abspielte. Die Kinder waren es gewesen, denen es zuerst aufgefallen war, daß, und sie hatten schreiend hinaufgedeutet, das Storchenpaar auf dem Kirchendach Besuch bekommen hatte. Reglos standen die Vögel in ihrem Nest, und ein dritter Storch, der etwas kleiner war, aber dafür von gedrungenerem Körper als die beiden andern, hatte in einiger Entfernung von ihnen auf dem Dachfirst sich niedergelassen, und niemand hatte ihn anfliegen sehen. Dann erhob sich der fremde Storch, und in mächtigen Schwüngen kreiste er über dem Nest, und die Vögel in dem Nest legten den Kopf zurück und klapperten zornig zu ihm hinauf. Nicht lange, dann flog aus dem Nest ein Storch auf, und er flog dem fremden Storch entgegen, und mit den Schnäbeln begannen sie aufeinander einzuhauen. Unten, auf dem gepflasterten Platz, sammelten sich rasch die Zuschauer, alt und jung strömte herbei, und auch Veronika, die zu einer Besorgung unterwegs gewesen war, stellte sich vor der Kirche auf. Immer wieder prallten oben die Gegner aufeinander, peitschten mit den riesigen Flügeln die Luft, die roten Schnäbel blitzten, und die Federn stäubten von den Schlägen, mit denen sich die Tiere an Hals und Brust trafen. Bald war nicht mehr zu verkennen, daß der fremde Storch ermattete, wie zur Flucht schien er sich zu wenden, aber dann warf er sich herum und griff mit erlöschender Kraft von neuem an. Ein paarmal war es, er stürze mit hängenden Flügeln, aber er fing sich wieder und kämpfte weiter, und immer schrecklicher und schneller wurden die Schläge des Stärkeren.

Veronika hatte es wohl bemerkt, daß auf einmal Valentin neben ihr stand und, gebannt wie sie, zu den kämpfenden
Tieren hinaufsah. Mit lauten Ausrufen begleiteten die Zuschauer die Vorgänge in den Lüften, und ein Mädchen, das neben Veronika sich gestellt hatte, legte erschauernd und mit geschlossenen Augen den Kopf auf Veronikas Schulter, so fürchtete sie sich, weil eben wieder der fremde Storch taumeln und fallen wollte, und sie hatte ganz vergessen, daß sie doch seit Wochen schon kein Wort mehr mit der Freundin geredet hatte.

Und dann ging es zu Ende. Die beiden Störche hatten für eine kurze Weile voneinander abgelassen, wie um Atem und neue Kraft zu schöpfen, und zogen ihre Kreise, und der Dorfstorch flog höher als der fremde Vogel, den es nach Nest und Gefährten gelüstet hatte. Und jetzt stieß der höher Fliegende herab und traf den Gegner mit zwei und drei gewaltigen Schnabelhieben, und der versuchte es gar nicht mehr, sich zu wehren, er schwankte, die Flügel trugen ihn nicht mehr, nur den zu raschen Sturz vermochte er noch mit ihnen zu bremsen, und zwischen die entsetzt auseinander springenden Zuschauer fiel er durch die Luft her rauchend auf das Pflaster.

Er war nicht tot, aber sein weißes Gefieder war rot genäßt von dem Blut, das aus seinen Wunden strömte, und schwer atmend lag er da. Und nun sah man erst, daß in einem seiner Flügel ein armlanger Pfeil steckte. Das sei ein Negerpfeil, sagte der Lehrer zum Pfarrer, nicht daran zu zweifeln, so gekerbt und bemalt war die wilde Waffe, und in den fernen afrikanischen Wäldern müsse ein schwarzer Mann auf den Vogel geschossen haben, und mit dem Pfeil im Flügel sei das Tier noch bis hierher nach Eilsprunn geflogen, der seltsame Gast, und so behindert habe er doch noch den Kampf gewagt und auch verloren. Und oben im Nest stand der Sieger und putzte sich die Federn.

Man schaffte den Verwundeten, der sich das ruhig gefallen ließ, in den Garten des Lehrers, und der Lehrer pflegte ihn und fütterte ihn, und das Tier genas auch wunderbarerweise wieder. Von einem Tierarzt ließ der Lehrer den Pfeil aus dem Flügel entfernen, und das ging leicht. Wochenlang schritt der Storch dann um das Haus des Lehrers herum, von den Kindern bestaunt und bewundert, und sie brachten dem Vogel Frösche und Käfer und Würmer, und nichts verschmähte er, und wie ein Haustier schien er geworden, und nur selten einmal wagte er einen kurzen Flug über der Gartenwiese. Eines Tages aber hob er sich auf und flog fort und kam nie wieder. Nur der Negerpfeil blieb dem Lehrer von dem fremden Gesellen zurück, und den Pfeil befestigte er an der Wand, und der habe viel von der Welt gesehen, sagte der Lehrer neidisch, den Nil und das rote Meer und das schwarze Land, und mehr, als er selber wohl je zu sehen bekommen würde.

Valentin hatte, als damals der verwundete Vogel herabstürzte, Veronika an der Hand gefaßt und das Mädchen zur Seite gerissen, daß es nicht getroffen würde, und so war es gekommen, daß sie auf einmal Hand in Hand da standen und sich ansahen. Und dann hatten sie ein Stelldichein verabredet, für eine Stunde später, am Dorfweiher. Valentin war schon früher dort, und die Sonne ging blutrot unter, und rot beleuchtet kam das Mädchen vom Dorf heran. Die grüne, moosige Decke hatte sich längst wieder geschlossen über der Stelle, wo Veronika im Wasser um sich geschlagen hatte. Da drin liege sein Herz, sagte sie zu Valentin, und deutete auf den Weiher, und er verstand sie natürlich nicht gleich, und sie mußte es ihm erklären. Sie habe aber das falsche Herz hineingeworfen, antwortete er, und sie ließ sich küssen von ihm, und in seinen Armen sagte sie, daß sie neulich erst, in einer sündigen Nacht, hier am Weiher gestanden und Lust verspürt habe, hineinzuspringen, und nicht Furcht vor der Höllenstrafe habe sie abgehalten, das nasse Grab zu suchen, sondern der Gedanke, nicht eine Last auf ihn legen zu wollen, die er zeitlebens nicht mehr würde abtun können. Wieder küßte er sie und zitterte, und das mochte sein, weil ein kühler Wind sich erhoben hatte, aber Veronika schien ihn nicht zu spüren. Daß sie beide morgen wieder hierher kommen wollten, sagte sie, ein anderes Herz, das sie noch habe, in die Tiefe zu versenken, zu den Fröschen und Schlangen, und daß sie nicht nur diesen Weg noch gemeinsam gehen wollten, sondern noch den und jenen, und vielleicht noch viele, in den nächsten Jahren, wenn er es so wolle. Aber einen Weg müsse er doch noch demnächst, zu ihrem Vater, ihn um etwas zu bitten, und ob er wohl meine, daß vielleicht sein Vater etwas dagegen hätte, fragte sie, oder am Ende gar er selber? Da küßte er sie nur abermals, die so, gegen jede Sitte, sich ihm antrug.

Der Eisläufer

Ich war dreizehn Jahre alt, als es sich so fügte, daß ich meinen Vater auf einer Winterreise durch eine Reihe von Städten im Westen Deutschlands begleiten durfte. Meine zwei jüngeren Brüder waren von einer zwar nicht gefährlichen, aber lästigen und ansteckenden Krankheit befallen worden, und um mich davor zu bewahren, daß mir das gleiche geschähe, suchten meine Eltern nach einer Möglichkeit, mich irgendwohin in Sicherheit zu bringen. Aber es lebten uns keine Verwandten in der Nähe, die mich hilfreich hätten aufnehmen können, und der Absicht, mich für eine Weile einer klösterlichen Erziehungsanstalt anzuvertrauen, war von mir mit so viel unerwartet heftiger, ja störrischer Abwehr begegnet worden, daß man endlich verzichtete, darauf zu beharren. So kam es, daß man zuletzt auf einen Ausweg verfiel, der von mir begierig willkommen geheißen wurde, den aber meine Eltern nur ungern beschritten: mich meinem Vater mitzugeben, der gerade jetzt eine längere Geschäftsreise anzutreten hatte, die nicht hinausgeschoben werden konnte. Obwohl die wunderbare Winterfahrt, die mir nun bevorstand, als durch die Umstände erzwungen sich erwies, versuchte man nun doch, und das hielt man wohl aus erzieherischen Gründen für notwendig, so zu tun, als würde mir eine große, aus freien Stücken gnädig gewährte Auszeichnung zuteil, deren ich mich durch besonderes Wohlverhalten als würdig zu zeigen hätte. Ich durchschaute natürlich diese elterliche List, hütete mich aber, mir das anmerken zu lassen, doch mächtig regte sich in meiner Brust das Gefühl, den Brüdern dankbar sein zu müssen, so, als hätten sie sich nur deshalb mit fiebrig roten Köpfen ins Bett gelegt, um mir das Abenteuer des unerwarteten Ausflugs zu verschaffen.

Nun war noch zu überlegen, wie man mich während der Reise, besonders an den Vormittagen, deren keiner meinem Vater zur freien Verfügung stehen würde, beschäftigen sollte. Ich selbst war es, der da einen Vorschlag zu machen hatte. Seit vierzehn Tagen war ich ein begeisterter Anhänger der Eislaufkunst, und warum sollte ich nicht die vielen Stunden, die ich allein zu verbringen haben würde, dazu nützen, mich in dieser gesunden und kräftigenden Übung zu vervollkommnen? Aber die mir längst versprochenen neuen Schlittschuhe müßte ich dann jetzt bekommen, darauf bestand ich mit Festigkeit, mit den alten, rostigen, die ich von einem Freund gegen einige Briefmarken aus meiner Sammlung eingetauscht hatte, konnte ich mich unmöglich auf den Eislaufplätzen der fremden Städte sehen lassen. Man willigte ein, und noch am selben Nachmittag durfte ich mit unserem Dienstmädchen in die Stadt gehen und mir, vor Freude zitternd, die neuen Schlittschuhe aussuchen.

Am andern Tag, in aller Frühe, von der Mutter vorher noch mit vielen Ermahnungen bedacht, ging ich mit meinem Vater zur Bahn. Die Schlittschuhe hatte ich nicht in den Koffer packen lassen, ich trug sie an einem hellbraunen, noch etwas steifen Lederriemen über der Schulter, und im Zug hing ich sie über meinem Kopf an einem der Messinghaken des Gepäcknetzes auf. So oft sie dann aneinander stießen, die glänzenden, erinnerte mich ihr leises Klirren an ihr glückverheißendes Vorhandensein.

Wir waren bei völliger Dunkelheit abgefahren, im Abteil brannte noch Licht, und ich schlief immer wieder einmal ein wenig ein, wachte aber auf, so oft der Zug am Bahnhof einer kleinen Ortschaft hielt, und sah dann draußen die trüb erleuchteten Fensterscheiben der Häuser, und schwarze Gestalten im tiefen Schnee, die sich durch Aufstampfen warm zu machen versuchten, oder ihre frierenden Hände behauchten. Dann kam die Dämmerung, das Zwielicht wich einer blendenden Schneehelle, der Tag war da, der erste Tag unserer Reise, und der Schlaf war mir nun gänzlich vergangen.

Ich nahm, und spähte heimlich zu meinem Vater hinüber, ob er es wohl auch bemerke, mein Schullesebuch hervor und begann, wie uns das gestern der Lehrer zu tun aufgebürdet hatte, ein langes Gedicht zu lernen. Aber ich kam nur mühsam voran, die gereimten Zeilen purzelten mir immer wieder durcheinander, und als ich erkennen mußte, daß mein Vater gar nicht auf mich achtete, meinen mit Bedeutung zur Schau getragenen Fleiß nicht zu würdigen schien, und es ihm nicht im mindesten einfiel, mich Heuchler zu loben, weil er mit seinen Gedanken abwesend war, und mich nur hin und wieder freundlich, aber offenbar mit anderem sehr beschäftigt wie aus einem Traum heraus anlächelte, legte ich das Buch still und erleichtert und auch ein wenig gekränkt zur Seite. Ich stellte meine Füße auf die Heizung, faltete die Hände zwischen den Knien und sah zum Fenster hinaus. Es war schön, so warm und behaglich durchgerüttelt im Zug zu sitzen, während draußen die weiße Landschaft vorbeiflog, mit Dörfern und Kirchen und einsamen Gehöften. Hin und wieder stand ich einmal auf, um meine Schlittschuhe, mit einem zärtlichen Blick sie betrachtend, an einen besseren Platz zu hängen, wohl auch in der Hoffnung, es möchte einer der Mitreisenden ein bewunderndes Wort über sie sagen, aber keiner tat es der stumpf Gleichgültigen, die ihre Zeitungen lasen oder in die Ecke gedrückt zu schlafen versuchten. Nach vielen Stunden dann, als mir die Lust, aus dem Fenster zu schauen, schon recht schal geworden war, nimmer hätte ich das zuerst
für möglich gehalten, und die Langeweile anfing, mich unruhig und verdrossen zu machen, stiegen wir am Nachmittag endlich aus: unser erstes Reiseziel war erreicht.

Und am andern Morgen führte mich mein Vater auf den Eislaufplatz der fremden Stadt. Bebend vor Eifer schraubte und schnallte ich die neuen, blitzenden Eisen an die Stiefel und wagte mich auf die spiegelnde Fläche. Es waren fast ausschließlich Kinder, die an diesem Vormittag auf dem Eis sich tummelten. Lustig brannte die Sonne herab, die Stunden verflogen, während ich, süß berauscht von der neuen Freiheit, lernte und übte, und als mein Vater um die Mittagszeit kam, mich abzuholen, lief ich ihm lachend, mit roten Backen, und in meinem zu warmen Mantel glühend, im kecken Bogen entgegen, stolz über die Gewandtheit, die ich mir nun schon erworben hatte in der klirrenden Kunst.

Tag um Tag ging das nun so. Wir fuhren von Stadt zu Stadt, in keiner verbrachten wir mehr als eine Nacht. Mein Vater verwandte die Vormittagsstunden für seine Geschäfte, ich lief indessen auf immer einem andern Eisplatz meine Bogen, vorwärts und rückwärts, mit immer größerer Gewandtheit, und hatte schon den großen Achter zu fahren gelernt, mit dem ich, heimgekehrt, mächtigen Eindruck zu machen gedachte. Nachmittags, während mein Vater im Gasthofzimmer seine schriftlichen Arbeiten erledigte, saß ich neben ihm, der seine Pfeife rauchte, Mann bei Mann, fühlte ich mit Stolz, wenn sichs auch mühsam atmete in dem Qualm, rechnete und trieb ein wenig Latein, und das schwer zu behaltende Gedicht konnte ich längst ohne Anstoß herunterschnurren. Es war eine herrliche Zeit, die sich aber nun bald ihrem Ende neigte.

Von daheim waren gute Nachrichten eingetroffen, den Brüdern ging es viel besser, in ein paar Tagen schon, schrieb die Mutter, würden sie das Bett verlassen dürfen. Wir waren am späten Nachmittag in einer kleinen, alten Stadt angekommen, die nahe der holländischen Grenze lag, und übermorgen würden wir die Heimfahrt antreten, hatte mir der Vater froh verkündet, mir tats leid. Es war inzwischen wärmer geworden, und man erwartete neuen Schnee. Der Himmel zeigte eine gleichmäßig grüngrau schimmernde Färbung, wie man sie manchmal an Muscheln sieht. Ich erinnere mich der schönen Stadt noch genau und ihrer gewinkelten, dunklen Gassen. Eine uralte Kirche mit zwei mächtigen viereckigen Türmen, auf eine schroffe Anhöhe gebaut, überragte weithin sichtbar den Ort und war den Besuchern zugänglich nur über eine Steintreppe mit unzählig vielen Stufen. Und weil mein Vater es für nötig hielt, sich die Haare schneiden zu lassen, in einem kleinen Laden am Fuß des Kirchbergs, so erlaubte er mir, inzwischen allein zur Kirche hinaufzugehen – in einer halben Stunde dann sollte ich ihn im Laden wieder abholen. Bald war ich droben, und vom Kirchplatz aus in die Ferne spähend, konnte ich Himmel und Erde in dem eintönigen Grau kaum unterscheiden, und mir war, wie ich so stand, mit dem Rücken an die kühle Wand der Kirche gelehnt, als blicke ich in das Innere einer ungeheuren Höhle, in die nur vom Eingang her ein wenig gedämpftes Licht fiel. Eine breite Straße, die, von weither kommend, sich in einer riesenhaften Schleife um den Fuß des Kirchbergs legte und dann gegen Westen in das fast ebene Land hinaus lief, schien mir die in der Höhle hausende verzauberte Schlange zu sein.

Es begann dunkler zu werden, auf den Schnee des Kirchplatzes warf eine Lampe einen runden, rötlichen Fleck, und die Türme; wenn ich nach oben schaute, verschwanden mit ihren Hauben in dem tief herabsinkenden Himmel. Auch läuteten nun die Glocken. Danach bevölkerte sich die große Landstraße tief unten, die sich in der Dämmerung nur noch undeutlich erkennen ließ, mit schwarzen Gestalten, mit Männern, die breitrandige Hüte auf den Köpfen hatten, und mit Frauen in wehenden Röcken. Sie hatten fast alle größere oder kleinere Bündel im Arm, oder trugen zu zweien an einer Last, die zwischen ihnen an Schnüren hing. Und da und dort gehörte zu einer Gruppe Erwachsener auch ein Kind, dessen rote Mütze wie ein Irrlicht schwach leuchtend dahinwanderte. Die Stelle, wo die vielen Leute aus den engen Stadtgassen hinaus auf die freie Landstraße treten mochten, war meinem Blick verborgen. Ich sah die Gestalten alle unter einem Felsvorsprung hervortauchen und dann in merkwürdigen Bewegungen, weit und ruhig ausholend und wie schwankend in der Dunkelheit dahinziehen, und ich brauchte lange, bis ich begriff, daß sie nicht gingen, sondern auf Schlittschuhen fuhren: Bauern und Bäuerinnen aus den Dörfern der Umgebung, die den Markt besucht hatten und nun auf der vereisten Straße, den flinken Stahl unter den Schuhen, wie beflügelt nach Hause eilten.

Da wußte ich nun also, wo ich morgen früh mich tummeln würde, auf der Straße natürlich, unter der Kirche, und stieg, es war nun fast die Nacht hereingebrochen, die vielen Stufen des Kirchbergs herab, den Vater zu treffen, der schon vor der Ladentür auf mich wartete. Ich hätte nun schon einen Eisplatz erspäht für morgen, sagte ich ihm, der schon zu seinen Geschäften gerüstet stand, er solle mich um zwölf Uhr des Mittags an der Brücke, die zu Füßen des Kirchbergs über die Straße sich spannte, abholen, zum letztenmal auf unserer Reise, und ich fände allein hin, und er horchte nicht recht auf mich und sagte nur: gut also, um zwölf!

Ich machte mich dann auf, durch die dunklen und krummen Gassen, in die wenig Licht drang und in denen es wie in einem Keller feucht und modrig roch, und geriet erst ein wenig außerhalb der Mauern der Stadt an die Landstraße, die mir nun in der Nähe und von der Sonne beglänzt wie eine alte Heerstraße erschien, wie sie, so hatte man uns in der Schule gesagt, die Römer gebaut hatten: so breit und gewaltig war sie, und breiter noch, als iah es gestern abend vom Kirchberg aus hatte erkennen können. Die Straße war überschneit, Schneehügel lagen auf ihr da und dort, die der Wind zusammengeweht hatte, und völlig blankes Eis zeigte sich nur in der Mitte. Es war kein hoher Baum zu sehen und auch fast kein Buschwerk, nur einige kurzstämmige Weiden, die ihre Arme spreizten, saßen am Straßenrand, so daß mir die Vorstellung kam, wie heiß es hier zu wandern sein mußte im Sommerstaub, wenn die Sonne ohne Gnade auf die schattenlose Ebene herab blitzte. Ich hockte mich auf der Straßenböschung in den Schnee und schnallte mir die Schlittschuhe an. Am dünn verhangenen Himmel stand die Sonne wie ein feuriges Rad, und weithin, blendend, in weißen Flächen, erstreckte sich das Land. Es war warm heute und wärmer als an den Tagen vorher, das merkte ich, als ich den Hang hinabgeklettert war und nun in der Mitte der Straße mich auf dem leise knisternden Eis zu schwingen begann: bald war mir die Stirn tropfenbenäßt.

Und hier war endlich die oft herbeigewünschte Gelegenheit, zu tun, was man auf den Eisplätzen, die meist klein und eng zwischen den Häusern eingeklemmt lagen, nicht tun konnte: frei und ungehindert größere Strecken geradeaus zu fahren, und so klirrte ich denn, und ließ die Stadt im Rücken, auf der langen Straße sausend dahin, die Lust der Schnelligkeit genießend, und der Wind pfiff mir um die Ohren, und es begegnete mir niemand. In den Ästen der Weidenstümpfe am Straßenrand hockten Krähen, stets war es eine ganze Gesellschaft der schwarzen Vögel, und bei meinem Nahen stoben sie schreiend auf und flogen auf das Land hinaus, und ich konnte beobachten, daß es immer die gleiche Entfernung war, auf die sie mich herankommen ließen: einen Schritt nur weiter, und sie warfen sich, die mißtrauischen, flügelnd in die Luft. Wohl eine Viertelstunde war ich so gefahren, mit Aufbietung aller Kraft, mit zusammengebissenen Zähnen, weit vornüber gebeugt, als gelte es vor einem hinter mir her jagenden Gegner ein Rennen zu gewinnen, und es sprengte mir fast die Brust. Dann verminderte ich die Geschwindigkeit und glitt allmählich nun, und langsam wieder zu Atem kommend, dahin.

Die Straße machte jetzt einen großen Bogen, und die Böschung stieg auf beiden Seiten so an, daß ich mich wie auf dem Grund eines Hohlwegs befand. Heiß stach die Sonne vom nun fast gänzlich blauen Himmel hernieder. Ich blieb stehen, neben einem struppigen Binsengebüsch, das seine Stengel wie zerbrochene Lanzen hob, und wendete mein Gesicht dem flammenden Gestirn entgegen, und die Wärme überrieselte mich wohlig. Weil an meinem linken Schlittschuh der Riemen sich gelockert hatte, kniete ich nieder, ihn wieder straff zu ziehen. Und da sah ich, dicht unter der Eisdecke, ins Eis eingefroren, einen kleinen Fisch. Den mochte jemand auf dem Heimweg vom Markt weggeworfen haben, sagte ich mir, als zu kümmerlich und nicht wert gebraten zu werden, oder er war aus einem Korb verloren worden, und niemand hatte sich die Mühe genommen, ihn wieder aufzuheben, und es hatte dann geschneit und geregnet, und der Regen war zu Eis erstarrt später, und das war blank geschliffen worden von Schuhsohlen und Schlittenkufen, und da lag der Beflosste nun wie in einem gläsernen Sarg. Deutlich waren die zierlichen Schuppen zu erkennen und die Kiemen und die still glänzenden Augen. Ich sah ihn lange an, und er rührte sich nicht, und ich klopfte mit dem Knöchel gegen sein Grab, daß es klang wie ein silbernes Totenglöcklein, und da erfaßte mich eine unerklärliche Angst, und ich stand auf und fuhr den Weg zurück, den ich gekommen war, ohne mich einmal umzusehen, und war froh, als ich dann fern, und hoch auf dem Felsen, die Kirche mit den beiden Türmen erblickte, mächtig im Licht blinkend, und darunter die Dächer der Stadt.

Bald hatte ich den Fuß des Kirchbergs erreicht und übte nun dort meine Schleifen und Kehren, und auch andere Kinder trieben sich spielend und schreiend und einander jagend auf der vereisten Fläche hemm, die meisten auf Schlittschuhen, aber nicht alle. Es wurde, je höher die Sonne stieg, um so wärmer, und auch das Eis bekam das zu
spüren, das, vom scharfen Stahl zerkratzt und aufgerauht, längst nicht mehr blank wie ein Spiegel schimmerte, sondern wie von nassem, körnigem Schnee überstreut sich zeigte. Ich hielt mich seit einiger Zeit in der Nähe der steinernen Brücke auf, an der mich um Mittag der Vater abholen sollte, und lang war es nun nicht mehr hin. Ich begann, mich schon recht zu langweilen, aber die andern Kinder anzusprechen war ich zu schüchtern und zu hochmütig zugleich, und ich lächelte sie nur an, wenn ich an ihnen vorbeizog, und verlegen lächelten sie zurück.

Übrigens wurden es ihrer immer weniger, das Eis war ihnen wohl nicht mehr glatt und schön genug, einzelne zogen ab, und dann erschienen auch oben auf der Straßenböschung, zu der kleine schmale Steintreppen empor führten, erwachsene Leute, die Eltern wahrscheinlich der Kinder, und forderten sie mit Winken und Zurufen auf, zu ihnen hinaufzukommen. Ob sie denn blind seien und nicht sähen, daß das Eis nicht mehr viel tauge? schrie eine alte Frau mit zornrotem Kopf, und eine andere und jüngere redete laut und aufgeregt von den Sorgen, die einem die Kinder eben immer machten. Und die Eisläufer schnallten widerwillig und nicht ohne Murren ihre Schlittschuhe ab und gingen, beschämt zu Boden blickend, wenn sie an mir vorbei mußten, über die Treppen zu den Rufenden und mit ihnen fort und stadteinwärts.

Ich allein war dann nur noch auf der Straße, die Sonne glühte herab, und hoch oben stand die doppeltürmige Kirche in lauter Licht. Ich hatte den Mantel ausgezogen und trug ihn über dem Arm. Es hatten sich auf dem Eis nun schon Wasserlachen gebildet, die schwärzlich glänzten, und es war schön und belustigend, stürmisch durch sie hinzufahren, und zu sehen, wie das Nasse unter den Schlittschuhen aufspritzte und in der Luft regenbogenfarbig zersprang.

Gerade sauste ich näher an die Brücke heran, da, und ich wollte meinen Augen nicht trauen, stand im Schatten der gewaltigen Pfeilerwölbung ein Boot, stand da ein Boot auf der Straße, und war mit einer eisernen Kette an einem verrosteten Ring befestigt, der in der grauen Steinwand eingemauert war, und auch zwei Ruder lagen in dem Boot, und eine lange, rot angestrichene Rettungsstange mit einem großen, gebogenen Eisenhaken an der Spitze war griffbereit daneben angebracht. Wie kommt das Boot auf die Straße? dachte ich, immer noch unbegreifend. Und was soll hier eine Rettungsstange? fragte etwas tief in mir, und ich schüttelte verstört den Kopf, aber dann wurde es mir mit einem Schlag klar, und das Herz stand mir still, daß ich, seit Stunden schon, nicht auf einer festen Straße gefahrlos mich tummelte, sondern, den Tod auf den Fersen, mitten auf einem Fluß, der unsichtbar unter der brüchigen Eisdecke dahinrauschte. Ich sah, was ich, unfaßlich verblendet und töricht, bisher nicht gesehen hatte, die Brücke, und wozu sie diente: die Leute über das Strömende zu bringen, und erkannte, daß die Treppen, die von der Böschung herabstiegen, Treppen ins Wasser waren, auf denen wohl, wie bei mir zu Haus auch, sommers die Wäscherinnen knieten und klatschend ihre Tücher schwenkten. Ich war wie erstarrt und wagte keine Bewegung mehr. Unter meinen Füßen schien das Eis zu schwanken, und mir war, ich hörte darunter das schwarze Wasser begehrlich gurgeln, und lodernd brannte die Sonne herab, alles Weiße zu zerschmelzen. Und der Fisch bei den Binsen kam mir in den Sinn, den ich im Eis begraben vorhin gesehen hatte, und er war von niemand verloren oder schnöde weggeworfen worden, der Frost nur hatte ihn überwältigt, als er zu hoch an die Oberfläche heraufgestiegen war, und er war wohl gar nicht tot, und die Sonne befreite ihn jetzt aus seinem Gefängnis, und er würde bald flossenbeweglich wieder dahinschießen, mit seinen Genossen spielend in der Flut.

Das Ufer war nah, und ich machte einen Schritt hin, aber nur einen, und hielt dann entsetzt still und sah einen schwarzen gezackten Strich, der wie ein Blitz durch das Eis lief, das Eis war gesprungen, das Wasser sprudelte aus dem Riß hervor, gleich würde sich ein klaffender Schlund auftun, mich zu verschlingen. Ich hatte gelesen, und das schoß mir jetzt durch den Kopf, daß es gut sei, in solcher Gefahr, wie sie mir drohte, sich flach ausgestreckt auf das Eis zu legen, um das Gewicht besser zu verteilen, und so warf ich den Mantel vor mich hin und ließ mich zitternd, zuerst kniend und dann auf dem Bauch liegend, darauf nieder, das Gesicht gegen das Ufer gerichtet. Von der Brücke her kam eine Krähe geflogen und setzte sich auf die Böschung, mir gegenüber, und äugte unverwandt zu mir her, was ich da wohl triebe auf dem Eis? und die Federn des Vogels erstrahlten in einem schwärzlichen Blau. Die Nässe des schmelzenden Eises drang kalt und fürchterlich durch den Mantel, ich erschauerte in der prallen Sonne, wie ich so lag und mich nicht zu rühren getraute. Das Wasser unter mir floß schnell und kalt, ich glaubte es zu sehen, und Fische waren in dem Wasser, sie konnten leben und atmen da unten, die Beflossten, wie wunderbar war das! Und vielleicht hatten sie mich erspäht, hatten durchs Eis hindurch mich gesehen, und sogleich schwammen sie neugierig herbei. Von überallher kamen sie, aus der Tiefe herauf und aus ihren Schlupfwinkeln in den Uferlöchern, große und kleine Fische, spitznasige und solche mit stumpfen Mäulern, weißgeschuppte und bräunlichgrüne und rotgetupfte, und lange Aale dazwischen, wie schwarze Schlangen, und alle standen schräg aufwärts in der Flut und glotzten mit kalten Augen zu mir herauf, mit den Schwänzen schlagend, um sich auf der Stelle zu halten. Und der Fluß schickte alle seine Fische, von weither, mit der Strömung kamen sie geschwommen, und gegen die Strömung, und alle sammelten sich unter mir, und so viele waren es, daß ihre glänzenden Leiber sich berührten, und alle starrten sie nach oben, Raubfische, Hechte und Bürstlinge, und die sanften Weißfische. Und nun begannen sie mit den Nasen gegen das Eis zu stoßen, einzelne zuerst, dann alle, immer wieder, das gab einen sanften schnalzenden Laut, den ich zu hören vermeinte, und so sanft die Stöße waren, mir war, das Eis beginne davon zu beben, und wenn es jetzt brach, so würde ich mitten zwischen die Tiere fallen, und die würden, dicht aneinandergedrängt, mich auf den Rücken nehmen, und sich langsam sinken lassen, und mich davontragen durchs nasse Dunkel, die Aale voran, wie um den Weg zu weisen dem Zug, schwarz jubelnd, und Weißfische würden ihn umblitzen und Rotaugen.

So sah ich den Zug, und mich von den Fischen getragen, nicht anders, wie ich manchen Leichenzug schon hatte durch die Straßen ziehen sehen, und ich fürchtete mich auf einmal nicht mehr so sehr. Plötzlich schrie die Krähe drüben auf der Böschung mißvergnügt auf und hob sich empor, und flog flußabwärts. Ich sah eine Gestalt eilig am Ufer entlang laufen, mit flatternden Mantelschößen, es war mein Vater, und vor ihm war der schwarze Vogel geflüchtet. Und als hätten auch die Fische unter mir die nahenden Schritte gehört, so stoben sie auseinander, zuckend, und nach allen Richtungen davon, die Betrogenen, ich spürte es. Der Vater rannte auf die Treppe zu, die zum Fluß herabführte, und begann sie herabzusteigen, und ich konnte sehen, daß sein Gesicht trotz der Anstrengung des Laufens kreidebleich war. Ich schrie ihm zu: gleich da vorn, unter dem Brückenbogen, sei die rote Rettungsstange, die solle er holen und mich mit ihr ans Ufer ziehen! und war in aller Verwirrung noch stolz auf meinen männlich-klugen Rat. Aber der Vater hörte gar nicht auf mich, er trat auf das Eis, erprobte aufstampfend dessen Festigkeit, und ging dann entschlossen und mit schnellen Schritten auf mich zu. Da bekam ich auch Mut und wollte aufstehen, ihm entgegenzugehen, aber das Eis hielt mich fest, wie mit saugender Gewalt, und es gelang mir nicht, in die Höhe zu kommen.

Dann war der Vater auch schon bei mir, und bückte sich, ich spürte seinen warmen Atem im Genick, und er packte meinen Mantel, und ich preßte meinen Mund auf seine Hand, die dicht vor meinem Gesicht war, und so zog er mich, als läge ich auf einem Schlitten, über das Eis und den sanft knirschenden Schnee ans Ufer.

Dort hob er mich auf und stellte mich auf die Beine, die mich zitternd trugen, und schüttelte mich lachend, und ich lachte mit, lang und laut und schallend, und konnte so bald nicht aufhören, immer neues, stoßendes Gelächter kam aus meiner Brust, aber die Augen hatte ich voll Tränen. Er half mir dann, die Schlittschuhe abzuschnallen, allein hätte ichs nicht gekonnt, so flogen mir die Hände, und ich sah auf den Strom hinaus, der unschuldig und weiß glänzte, und auf den glatt gefegten Streifen, den meine Mantelfahrt auf dem Eis hinterlassen hatte.

An den vielen Weidenstümpfen hätte ichs erkennen müssen, und an den Binsen, sagte ich dann, daran wenigstens! und schwieg von dem Fisch. Und mein Vater erzählte, er habe, als er die letzte Verhandlung an diesem Vormittag zu einem guten Ende gebracht hatte, so nebenbei dann seinem Geschäftsfreund gesagt, er ginge nun, seinen Sohn abzuholen, der auf dem Eisplatz unter der Kirche Schlittschuh liefe. Auf dem Fluß? habe der bedenklich gefragt, und da sei er, Schlimmes ahnend, wild losgerannt, und da habe er mich nun, sagte er, und Unkraut verderbe nicht, und er lachte, und schüttelte mich wieder, daß es mir fast weh tat, und sein Gesicht war rot und gesund wie sonst immer auch.

Er hing mir den nassen Mantel um die Schultern, und wir gingen die Böschung entlang auf die Stadt zu, und eben schlug es zwölf Uhr von allen Türmen, und am mächtigsten dröhnte die Glocke der Kirche hoch auf dem Felsen. Unter dem Brückenbogen kam ein Mann hervor, auf Schlittschuhen, und fuhr gemächlich flußabwärts. Wir winkten ihm zu, er winkte zurück, wir sahen ihm lang nach, und jäh und wild erfaßte mich der mörderische Wunsch, daß er einbrechen möchte auf dem tückischen Eis, jetzt und
jetzt. Ich wehrte mich voll Scham, aber das abscheuliche Verlangen ließ sich nicht vertreiben, in die Tiefe sollte er sausen, der Eisläufer, so begehrte ich inbrünstig, zu den Fischen und Aalen, und mir und dem Vater zeigen, in welcher Gefahr ich mich befunden hatte. Aber der schwarze Mann auf dem weißen Eis glitt sicher dahin, immer kleiner wurde er, und auch vor ihm flogen die Krähen auf und landeinwärts, wie sie es vor mir getan hatten, und vielleicht war auch sie darunter, die auf der Böschung hockend mich neugierig belauert hatte.

Ich sah meinen Vater an und wurde blutrot. Plötzlich lief er ein paar Schritte zurück, bückte sich, machte sich Schneebälle, zielte und schleuderte den ersten Ball gegen mich, der mich aber verfehlte. Ich warf Mantel und Schlittschuhe hin und nahm den Kampf auf. Die Bälle sausten hin und her, wir trafen einander, und schossen vorbei, das dauerte so eine Weile, und dann wurden die Würfe meines Vaters heftiger, mir war, Wut und strafender Zorn zucke wie eine Flamme ihm übers Gesicht, aber das verging, ehe ichs noch recht gewahr geworden war, im ruhigen Flug durchmaßen die weißen Kugeln dann wieder ihre Bahn, bis wir atemlos, in der Sonne glühend, und Schnee auf den Kleidern und in den Haaren, Frieden schlossen. Und am andern Tag fuhren wir nach Haus.

Die Base aus Bayern

In der kleinen, verrauchten Weinstube, die ich früher oft besuchte, saß zuweilen am Stammtisch in der Ecke ein untersetzter, schon grauhaariger Mann, der schien viel in der Welt herum gekommen zu sein, und war auch im Krieg gewesen, und wußte zu erzählen, dieses und jenes, und wer um ihn war, lauschte ihm gern, und verstohlen auch ich am Nebentisch, und so hörte ich die Geschichte von dem Hamburger Oberleutnant und seiner Base aus Bayern, und für ihre Wahrheit kann ich also nicht einstehen, aber das kann wahrscheinlich auch sonst kein Geschichtenerzähler, und würde das verlangt, keiner erzählte mehr eine.

Den Oberleutnant, davon wußte der Mann am Stammtisch zu berichten, hatte der große Krieg bis hinab nach Serbien und Albanien geführt, und als die Kämpfe dort ihr Ende fanden, sei er mit seinen Leuten einstweilen zur Ruhe in ein einsames Bergdorf zu liegen gekommen. Eines Nachts, er war nicht mehr ganz nüchtern, weil er den Abend im Kreis seiner Kameraden bei Wein und Karten zugebracht hatte, eines Nachts also sei er heimgegangen, und habe im Finstern doch, zu seiner eigenen Verwunderung schier, sein Haus und die Haustür gefunden, und die Tür zu seinem Zimmer zur ebenen Erde. Als die Kerze dann ihr flackerndes Licht gab, sei ihm gewesen, in seinem Bett, unter der Decke, liege schon jemand. Da das aber doch nicht sein konnte, und in der Meinung, der Rausch spiele ihm einen Streich, habe er, zornig über sich selber, mit einem raschen Griff die Decke weggezogen. Und da sei aber nun wirklich jemand gelegen, ein junger Mensch in der bunten Tracht der Einheimischen, mit einer Hakennase, glatten, rabenschwarzen Haaren, und habe die Augen weit offen gehabt, groß und rund, und in der Mitte der Stirn habe der junge Mensch ein Loch gehabt, und von dort sei ein wenig Blut in einer dünnen Schnur an der Nase und dem linken Mundwinkel vorbei in den Hals gelaufen, und der junge Mensch sei tot gewesen. Der Oberleutnant, nicht wenig erschrocken und seinen Augen kaum trauend, habe sich aber dann doch bald wieder gefaßt und sei gegangen, seinen Burschen zu wecken, der in einer Kammer nebenan schlief, und gemeinsam dann, und auch dem Burschen sei dabei nicht wohl zumut gewesen, hätten sie den unheimlichen Gast in den Hausflur getragen und dort niedergelegt. Und weil Krieg war und man an den Anblick von Toten sich gewöhnt hatte, und gelernt hatte, nicht zimperlich zu sein, und weil er müde gewesen und vom Weine noch trunken, so habe der Oberleutnant nicht viel her gemacht von der ganzen Sache, sondern habe, aber immerhin, ohne sich wie sonst zu entkleiden, gestiefelt und gespornt, sich auf das nun wieder leere Bett geworfen und bald fest und tief geschlafen.

Vergeblich habe man am andern Morgen versucht, herauszubekommen, welche Bewandtnis es denn wohl mit dem Toten habe. Die Hausbewohner, und auch die übrigen Dorfleute, taten, die schlauen und hinterhältigen, so, als wäre der Erschossene ihnen nie lebend vor den Augen gewesen. Von einem Wunder redeten sie kopfschüttelnd und kauderwelschend, und mit den Händen in der Luft geschäftig, und von einem bösen Zauber, der im Spiele sei, und der Tote hätte wohl, wenn man sie hörte und ihnen hätte Glauben schenken wollen, geradewegs aus dem Himmel in des Oberleutnants Bett gefallen sein müssen. So sei nichts übriggeblieben, als den Toten im Hausgarten von ein paar Soldaten begraben zu lassen, nachdem man zuvor etwas Schriftliches aufgesetzt, denn Ordnung mußte sein, und der Oberleutnant sei selber bei der Beerdigung zugegen gewesen.

Dann habe der Dienst ihn verlangt, der Tag sei hin gegangen in Erfüllung der üblichen Obliegenheiten, und abends, beim gemeinsamen Essen, habe der Oberleutnant sorgenvoll von dem Vorgefallenen berichtet, und herumgeraten, was da möge an bedrohlichem Geheimnis dahinterstecken. Und als die Meinung ausgesprochen worden sei: Liebeshändel wohl, die Leute hier seien wild und gewalttätig und scheuten Blut nicht, da habe der Oberleutnant zwar nicht dawider geredet, aber doch auch zu bedenken gegeben, daß man dann doch noch immer nicht eine Erklärung dafür habe, wie denn und wieso denn der Tote den Weg in das fremde Bett genommen, und darin hätten ihm alle beipflichten müssen, die auch nicht schlauer gewesen wären als er, und achselzuckend hätten sies dann gelassen, sich weiter den Kopf zu zerbrechen. Und dann sei es wieder Mitternacht geworden darüber, und man habe den Krieg und alle Toten des Krieges und auch den geheimnisvollen Toten im Bett vergessen bei Gesang und Wein und vielem Reden.

Drei Tage später, als der Oberleutnant heimgekommen sei und in sein Zimmer, und die Kerze angezündet hatte, habe er sie fast gleich wieder fallen lassen, als er schaudernd entdeckte, daß wieder jemand auf seinem Bett liege, und nicht einmal zugedeckt sei der diesmal gewesen, und daß es der tote Mann von neulich war, mit den glatten, rabenschwarzen Haaren, der Hakennase, und dem Schuß mitten in die Stirn, von dem ein wenig Blut in einer dünnen Schnur an dem Mundwinkel vorbei in den Hals lief, habe er auf den ersten Blick gesehen. Und wieder habe er seinen Burschen geweckt, der habe wie Espenlaub gezittert, als er erfuhr, worum es sich handle, und daß der Tote aus seinem Grab wiederauferstanden sei. Und so närrisch er sich selber vorgekommen sei, der junge Offizier, er habe begonnen, in der Morgendämmerung, die schon angebrochen gewesen sei, gemeinsam mit seinem Burschen das Grab im Garten wieder aufzugraben, verbissen in seine Absicht, sich Gewißheit zu verschaffen, ob das Grab leer sei, und die Arbeit sei sehr schnell vor sich gegangen, so sehr tief hätten die Leute gestern nicht gewühlt gehabt, und woran der Oberleutnant schon während der sinnlosen Schaufelei nicht mehr gezweifelt gehabt hatte, so sei es auch gewesen: der Tote sei noch da gelegen, und hatte sein Grab nicht verlassen gehabt, und er habe nur ein wenig unwillig drein gesehen, daß man ihn störte.

Und dann hätten sie den Mann aus dem Bett in den Garten getragen und neben das offene Grab gelegt, und wie Zwillingsbrüder hätten sie ausgesehen im ungewissen Morgenlicht, die beiden toten Albaner; wie denn auch die lebendigen rundherum für sie alle schwer zu unterscheiden waren, mit ihren schwarzhaarigen Köpfen. Und als die beiden Totengräber dann, von der Arbeit weniger erschöpft als vom Rätselraten, worum es sich bei alldem handle, wieder ins Haus gegangen seien, um zu versuchen, noch etwas zu schlafen, habe der Oberleutnant noch gesehen, wie der tote Mann, der neben dem Grab gelegen sei, dem in der Grube mit der rechten Hand mitten ins Gesicht geschlagen habe, das heißt, das habe er natürlich auch gewußt, daß sich das nur so anschaue, der tote, schwere Arm bloß abgerutscht sei, aber es habe wie ein beabsichtigter Schlag ausgesehen.

Der Mann am Stammtisch, als er soweit war, sah von Gesicht zu Gesicht der Leute, die um ihn saßen, und die wußten nicht, was sie von der Geschichte halten sollten, die wie ein verwirrter Knäuel vor ihnen lag, und verlangten, ihn aufgedröselt zu bekommen. Der Erzähler lachte, und sagte, es habe sich später noch alles so ungefähr geklärt. Um Blutrache habe es sich gehandelt, die da unten Sitte sei, streng geübt und heilig gehalten, wie es die Ehre will. Der Sohn des Hauses, in dem der Oberleutnant wohnte, hatte, als die Reihe an ihm war, seinen Feind getötet und die Leiche dann im Bett des Oberleutnants versteckt, in der Annahme wohl, wenn ein so hoher Herr im Spiele sei, werde es die Besatzungsbehörde, die sich ja gern in alles mischte, nicht wagen, lange Nachforschungen anzustellen. Und der Bruder des Ermordeten hatte nicht gezögert zurückzuschlagen, und tags darauf, daß die heilige Kette nicht abrisse, die niemals abreißen durfte, durchs offenstehende Fenster den Mörder wiederum erschossen, als der gerade, getrieben von der Lust, den Ort seiner Rachetat wiederzusehen, zu des Oberleutnants Bett sich geschlichen hatte.

Nun, sie am Tisch, sie könnten es glauben, was da erzählt worden war, sie könnten es aber auch sein lassen, wie sie wollten, aber er halte es für wahr, sagte der Erzähler, denn er habe es von dem Oberleutnant selber, und das sei keiner gewesen, der so leicht eine Lüge über die Lippen gelassen habe.

Wenn aber die Geschichte noch nicht zu Ende sein sollte, sagte dann einer mißtrauisch, denn vorhin wäre doch auch von einer Base die Rede gewesen, so wollten sie zwar noch weiter zuhören, aber kein toter Mann mehr dürfe in einem Bett liegen, davon hätten sie genug.

»Nein«, sagte der Erzähler,
»nie mehr lag ein toter Mann in des Oberleutnants Bett, nicht einmal irgendwann er selber, steif und starr, denn er fiel im Felde, kurz darauf, wie viele damals. Der unvermutete Besuch übrigens der beiden Toten, der ihm zweimal den Schlaf gekürzt hatte, wenn er ihn auch bald vergessen zu haben schien in wirbligen Kriegstagen, das Bild der Toten mußte ihm doch geblieben sein, tief im Grund seiner Erinnerung und war jederzeit bereit heraufzusteigen, und das sollte sich bald zeigen, in einer fast ein wenig lächerlichen Weise zeigen, lächerlich aber nicht für ihn, nur für den, der die Geschichte hört, für ihn selber wars traurig genug.

Und das kam so. Sein Regiment war von Osten nach Westen abgeschoben worden, es lag ein paar Wochen in einem flandrischen Schützengraben, dann bekam er Urlaub, und den verbrachte er, er war Junggeselle, der Oberleutnant, und hatte auch keine Eltern mehr, den Urlaub also verbrachte er auf dem Gut eines Onkels in Bayern. Da war auch gerade eine Nichte des Gutsherrn zu Besuch, aus München war sie, ein zierliches, lebhaftes junges Mädchen, mit schwarzen Haaren, mit vollen roten Lippen, etwas zu vollen Lippen, er war so, daß man ihn immer ansehen mußte, der Mund, erzählte er mir später, und ihr Wesen nahm ihn gefangen, ihre freie und gelassene Art, sich zu geben, und der Klang ihrer dunklen Stimme, und wie sie plauderte und lachte. Dieser Nichte des Gutsherrn, und also einer Base von ihm selber, dem Oberleutnant, begann er schön zu tun, zart, merkwürdig zart, keusch, könnte man sagen, ja, fast keusch war es, wie er sich um sie bemühte, aber das lange Soldatenleben macht unbehilflich in solchen Sachen, wenn es sich nicht gleich um ganz und gar eindeutige Frauen handelt. Die Base mit dem vollen Rosenmund, rot wie Pfingstrosen, so schilderte er mir den Mund, die Base fand den Vetter, den Helden, der Gefahr bestanden hatte, eigentlich recht reizend, und mehr als das, bloß zu schüchtern war er, wie man das in der großen Stadt, aus der sie kam, gar nicht kannte, aber das hinwiederum gerade gefiel ihr an ihm.

Sie waren lange auf der Veranda gesessen, eines Abends, und hatten getrunken, und der Gutsherr und seine Frau waren dann schlafen gegangen, da saßen sie noch zu zweien, die beiden Jungen, der Mond schien, der gelbe, und der Mund der Base war so rot, so rot. Mir scheint es nachträglich, diese paar Stunden einer Sommernacht waren für ihn das Gipfelerlebnis seiner fünfundzwanzig Jahre, da spürte er wohl ungefähr, was Glück ist, weil er sie so gar nicht mehr vergaß, diese paar Stunden, weil er nicht müde wurde, immer wieder von ihnen zu erzählen, und weil jede Einzelheit in sein Gedächtnis eingegraben war. Er sagte, er sehe noch das Muster des Tischtuches vor sich, eines blau und weiß gewürfelten Tischtuches, und den Wein wußte er noch, den sie getrunken hatten, Glas um Glas, und jedes Wort ihrer Unterhaltung war noch in ihm, und jedes Verstummen, und jeder Blick hin und her, und alles und jedes. Es ist ja wenig, wenn so ein paar Stunden das ganze Leben in sich bergen sollen, das sogenannte Glück eines ganzen Lebens, aber, mein Gott, manchem ist nicht viel mehr zugewiesen, und manchem nicht einmal das.

Und das stimmte ja auch alles nur für ihn, nicht für die Base – wer weiß, was der noch alles vorbehalten sein mochte an Gutem und Schönem, und vielleicht auch an Traurigem! Die hatte ja auch, die Base, noch ein ganzes, langes Leben vor sich, aber wie es damit bei ihm stand, mit dem ›das Leben vor sich haben!‹, das war wohl ungewiß, damals noch ungewiß, wo er doch nur auf Urlaub in dem bayerischen Garten war, und ein Lehmgraben in Belgien auf ihn wartete. So saß er damals da, der unbehilfliche Schützengrabenvetter, und wagte der Base kaum die Hand zu küssen (was hat da ein Mädchen schon davon?), und sie hätte ihm doch gern den Mund überlassen. Dann ging sie auch schlafen, ungeküßt, und er blieb noch ein wenig sitzen, sah in den Mond hinein, es war derselbe, der jetzt auch über seinem Graben in Flandern stand, trank sein Glas leer, und wankte, betrunken von Liebe und Wein und Mondschein, auf sein Zimmer. Als er die Tür aufmachte, war ihm, in seinem Bett liege schon jemand.«

Der Erzähler hob abwehrend die Hand gegen den der Zuhörer, der schon vorhin mißtrauisch gewesen war, und jetzt aufbegehren wollte. »Nein«, sagte aber der Grauhaarige, »wir sind in Bayern, auf einem Gut, wie hätte da ein toter Albaner in des Oberleutnants Bett liegen können! Aber es lag jemand in den Polstern, ohne Zweifel, es war natürlich die rotlippige Base, und sie war erwacht bei seinem Eintritt, oder auch, sie schlief noch nicht, und sie richtete sich auf, und Schrecken und Staunen, und vielleicht auch ein wenig unbewußtes Verlangen war in ihren Augen, als sie ihren Besuch erkannte, und sie flüsterte ›nein‹, sie hauchte es, daß es kaum zu verstehen war, und vielleicht wollte sie es sogar, daß er das harte Wort nicht klar vernehme, da ihr Herz vielleicht gesonnen gewesen wäre, ihrem Mund zu widersprechen – aber der Oberleutnant, der Tölpel, gänzlich verwirrt, sah wieder die beiden toten Männer vor sich liegen, wie damals, und lief davon, und warf die Tür hinter sich zu, und das schnitt den Seufzer ab der rotlippigen Base. Er lief wie im Traum und erreichte grad noch den Korbsessel auf der Veranda, und da schlief er ein, im Mondschein, und er schlief bis zur Morgensonne und erwachte, und ging in sein Zimmer, und da lag natürlich niemand in seinem Bett, blühweiß und unberührt glänzte es, und er grämte sich, daß er sich gestern in der Zimmertür geirrt hatte, und vielleicht grämte er sich noch aus einem andern Grund, den er sich anfangs kaum einzugestehen wagte.

Die Base mußte zwei Tage später abreisen, nach Hause zu ihrer erkrankten Mutter, und die beiden jungen Leute vermieden es in diesen zwei Tagen, so gut es ohne aufzufallen möglich war, mehr als nur das Gleichgültigste miteinander zu reden, und von dem nächtlichen Besuch sprachen sie nun schon gleich gar nicht, törichterweise, denn da hätte sich manches vielleicht anders angelassen, aber beide schämten sich zu sehr. Und so bekam der Oberleutnant nie zu wissen, ob nicht die Base bis zuletzt annahm, er habe die Keckheit gehabt, sie in ihrem Zimmer zu überfallen, und er sei nur von ihrem Nein vertrieben worden und er habe sie schmerzlich getroffen damit, daß er glauben konnte, so eine leichte Beute könne sie sein, und später in der Erinnerung war ihm aber auch manchmal, es könne gewesen sein, sie habe ihm fast noch mehr deswegen gezürnt, daß er so rasch sich habe verjagen lassen, nur von einem gehauchten Nein und ohne den Versuch wenigstens, ein Ja daraus zu machen, und einen solchen Versuch duldet, ja, wünscht noch das keuscheste Mädchen.

Das Erlebnis ging ihm noch lange nach, dem Oberleutnant, und was er versäumt und schlecht gemacht und daß er nicht noch, im Zimmer noch, was wie böse Absicht sich angesehen, zum Guten gewendet hatte, so oder so, das tat ihm weh, in Flandern und vor Arras und er konnte auch nicht mehr gut machen, wovon er manchmal träumte – denn wer sein Glück sieht, der muß es gleich beim. Schopfe packen – weil wieder gut zu machen ihm endgültig verwehrt wurde, dafür sorgte eine englische Kugel, die ihn bald darauf erreichte und sich einen Platz aussuchte mitten in seiner Stirn, wie die Kugeln das oft tun, wie sie es auch bei den zwei Albanern getan hatten, nur daß der Oberleutnant aus Hamburg blond war, und nicht schwarzhaarig wie die.«

Der Erzähler schien zu Ende zu sein mit seiner Geschichte, aber der Zweifelnde unter den Zuhörern gab sich noch nicht zufrieden. »Eine mißglückte Sache mit einer Frau«, sagte er, »Sie bauschen das zu sehr auf! Was hat der Mann nicht alles im Feld erlebt! Können Sie das so gering ansetzen? Und das Geplänkel auf der bayerischen Veranda das tiefste Erlebnis seines Daseins nennen?«

»Eine Nacht«, sprach der Zweifelsüchtige weiter, »eine lange halbe Nacht vor einem Sturmangriff, Mondschein ist auch da, wie in Bayern, gelb ist er auch, der Mond, aber kalt sieht er her, kälter als dort im Garten, und Wein ist auch da, in der Feldflasche – und man weiß, daß man in fünf Minuten seinen Graben verlassen muß, um einen englischen aufzusuchen – das ist schon auch ein Erlebnis und bedeutet mehr, als, vielleicht überflüssigerweise, aus dem Schlafzimmer einer Frau zu fliehn und sich hinterher ärgerliche Gedanken machen zu müssen darüber, ob sie vielleicht nicht doch gnädig gewesen wäre.«

Aber der Erzähler winkte ihm fast streng ab: »Ruhig! Still! Ich hab mir die Geschichte oft von ihm erzählen lassen. Er hatte im Unterstand lang über die Sache nachgesonnen, dazu war ja Zeit, und war daraufgekommen, daß damals, wenn die Erinnerung an die erschossenen Albaner ihn nicht verscheucht hätte, sich nicht etwa die weißen Arme eines flüchtig-unbedachten Glücks vor ihm aufgetan hätten, sondern daß die Stunde anderes und Höheres bot. Das stand unerschütterlich für ihn fest. Er hatte dafür, für diese Ansicht, irgendwelche Anhaltspunkte, hatte Gründe, die schlagend für ihn waren, aber anscheinend nicht gut für ihn auszusprechen. Und ich denke mir, es war das Nein der Base, gehaucht und zitternd, das ihn dazu brachte, so Vermessenes zu glauben.

»Übrigens, mein Lieber«, fuhr der Erzähler fort, und sah den Zweifelsüchtigen unverwandt und streng an, »was Sie da sagen, von der Mondnacht vorm Sturmangriff, das ist schon allerhand, das geht schon tief, das geht eisig tief, bis zu den Zehen- und Fingerspitzen, das ist schon ein Erlebnis, aber würde es so stark empfunden, wäre nicht der Vergleich da mit dem blühenden Leben? Und das blühende Leben, das war für ihn nun einmal die Veranda und der rote Mund seiner kleinen Base. Dort auf der Veranda gab ihm das Leben einen brennenden Kuß, obwohl, das ist ja das Lächerlichste dran, es zu einem richtigen Kuß gar nicht kam, das ist nur so ein Vergleich von mir. Aber
weil er den brennendsten Kuß des Lebens gespürt hatte, drum wars so grauenvoll süß, so herzbeklemmend schön und so eiskalt, sternkalt, so höhnisch sternkalt für ihn im Graben vorm Sturmangriff unterm Mond.«

Der Erzähler sah den Zweifelsüchtigen immer noch streng an, seine dünnen, grauen Haare flatterten und ein Haarzipfel stellte sich senkrecht, denn die Tür zur Weinstube war aufgegangen und ein Liebespaar eingetreten und der Zug in des Erzählers Haare gefahren.

»Und es wäre natürlich falsch«, scholl noch des Erzählers Stimme, »irgendwelche Zusammenhänge zwischen dem Schicksal der drei Männer, der zwei schwarzhaarigen und des blonden, finden zu wollen – wo ihnen doch allen dreien gar nichts gemeinsam war, außer einer Kleinigkeit, einer Kugel in der Stirn.«

 

Editionsnotiz

für die Prosabände 7 bis 16.

Als Druckvorlage diente diesen Bänden die Ausgabe »Georg Britting – Gesamtausgabe in Einzelbänden« der Nymphenburger Verlagshandlung, München.

Zu den Bänden 13, 14 und 16:

Diese Bände enthalten die Beiträge des Bandes „Anfang und Ende“ der zuvor genannten Ausgabe, der nach dem Tod von Britting im Jahr 1964 erschien und folgende Nachbemerkung enthält: Mit diesem Band ist die Gesamtausgabe der Werke Brittings abgeschlossen.

Sechs Bände sind vom Dichter in den Jahren 1957 bis 1961 noch selbst redigiert worden, sozusagen als Ausgabe letzter Hand. 1965 erschienen und dem Titel »Der unverstörte Kalender« [Band 6 unserer Ausgabe] zunächst die Gedichte aus dem Nachlaß. Nunmehr wird der erzählerische und dramatische Nachlaß Brittings in Buchform zusammengefaßt. Wie schon der letzte Gedichtband, enthält er Werke aus allen Schaffensperioden: zunächst Erzählungen, sodann Bilder, Skizzen und Feuilletons, [unser Band 13] die Britting bisher in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hatte, das Fragment eines größeren erzählerischen Werkes aus der Spätzeit, »Eglseder« [unser Band 16] und schließlich drei dramatische Arbeiten aus den zwanziger Jahren. [Unser geplanter Band 14] Das dichterische Werk Georg Brittings liegt damit, abgesehen von einigen wenigen peripheren Arbeiten, in acht Bänden vollständig vor.

Ausführlichere Informationen unter: www.britting.de

 

Impressum

Band 11
Hrsg. von Ingeborg Schuldt-Britting

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Informationen über den Dichter und sein Werk in www.britting.de.

Alle Rechte vorbehalten
© 2012 Georg-Britting-Stiftung
83101 Höhenmoos
Wendelsteinstraße 3
Satz u. Layout: Hans-Joachim Schuldt
Made in Germany
Gedruckte Taschenbuchausgabe:
ISBN 978-3-9812360-0-2 (Sämtliche Werke – Prosa)
ISBN 978-3-9812360-5-7 (Der Schneckenweg)