Bd. 7 – Die Windhunde

Erzählungen 1920 – 1937

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Inhaltsverzeichnis

Die Irren
Totentanz
Jor auf der Flucht
Das Fest der Vierhundert
Kain
Der Tod des Don Quichotte
Hiob
Die schöne Handschuhverkäuferin
Hochwasser
Lästerliche Tat
Das Ferkelgedicht
Der unflätige Hirte
Das Haus zur heiligen Dreifaltigkeit
Fischfrevel an der Donau
Brudermord im Altwasser
Das Duell der Pferde
Die Windhunde
Die Geschichte der Monika
Flandrischer Fasching
Editionsnotiz
Drucknachweise und Anmerkungen

Die Irren

Peter sah mißtrauisch zu Innocenz hinüber. Innocenz lag im Schaukelstuhl, bewegte die Arme wie am Steuer und segelte über das unruhige Wasser. Von Zeit zu Zeit brüllte er ins Nebelhorn. Als der Wellengang immer heftiger wurde, klammerte er sich ängstlich am Maste fest. Der Sturm ließ nach. Innocenz stieg vom Schiff. Palmen und Klippen. Ein Weg lief landeinwärts. Peter kam des Wegs daher. Er rief Peter an. Peter stand am Fenster und drehte sich nicht um. Ließ Innocenz schreien. Aber Innocenz hatte ihn schon wieder vergessen. Er kniete am Boden, wo er Glänzendes gefunden hatte. Licht, von der Sonne auf die Bretter geworfen. Innocenz badete seine Nägel in dem Blanken. Er spülte lächelnd die Hand darin. Hob sie und sah das Licht tropfen. Er schmiegte die Wange in das Weiße und spürte Wärme. Peter sah ihm zu. Er schlich beunruhigt näher. Eifersüchtig. Er kniete neben Innocenz, auch die Hand in dem Blanken zu waschen. Auch die Nägel im Glanz zu baden. Die beiden Hände berührten sich. Stemmten sich gegeneinander. Peters Hand, groß und zornig, drängte die schmälere des Innocenz in den Schatten. Innocenz packte die Hand Peters wie ein freches Tier am Nacken und schleuderte sie weg. Peter kniff die Augen zusammen. Er hob die Hände wie Zangen und legte sie langsam um den Hals des Innocenz. Der sah ihn freundlich und neugierig an und strudelte mit den Fingern im Glanz, der ihm nun wieder ganz gehörte. Peter drückte fester zu. Er wühlte die Daumen ins Fleisch. Innocenz, rot, geschwollen das Gesicht, war ihm nicht böse. Er machte einen Versuch zu lachen. Es zuckte um seine Mundwinkel, es flirrte um seine Augen, es warf um seine Nase lustige Falten. Aber aus seiner umklammerten Kehle konnte kein Ton dringen. Peter lockerte kurz die Krallen. Da lachte Innocenz. Laut, fröhlich, schmetternd, aus ganzem Herzen, tief heraufgeholt. Schon schlossen sich Peters Finger wieder. Mit den Augen lachte Innocenz noch als er schon tot war. Peter zog den Leichnam zum Fenster und versteckte ihn in den Falten des Vorhangs. Dann beugte er sich zu dem Blanken nieder, das nun sein unbestrittenes Eigentum war, und legte freudig die Finger hinein.

Totentanz

Soldaten der Regierung hatten sie festgenommen, als sie den Aufrührern im belagerten Haus Eßvorräte bringen wollten. Der kleine, dicke Feldwebel sagte mit freundlicher Stimme: »Sie werden erschossen werden, meine Herren!« Die drei versuchten unbeteiligte Gesichter zu machen. Jakob knöpfte sich den Rock zu. Es wehte ein kalter Wind. Daran wird man sich jetzt gewöhnen müssen, an die Kälte, dachte er. Julius war ein wenig bleich geworden. Aber, Kopf hoch! Brust heraus! kommandierte er sich selber. Brust heraus! erst recht wenn sie darauf die Flinten anlegen. Ludwig lächelte lautlos. Nun war es soweit. Kein schönrer Tod … Er grinste, daß ihn sein Begleitmann erstaunt ansah. Man brachte sie in ein ausgeräumtes Zimmer mit vergitterten Fenstern. Nur ein paar alte Stühle standen herum. Nebenan lärmten die Soldaten. Julius begann Briefe zu schreiben. Das war noch so in ihm vom Feld her. Da hatte man auch vor jeder großen Sache noch einmal heimgeschrieben. Den Krieg hatte er dann doch überstanden. Er war bei Arras nicht gefallen, an der Somme nicht und nicht in Flandern. Jetzt trafs ihn in Deutschland. Er sah aufmerksam auf seine Finger, die ernsthaft seinen letzten Willen malten. Jakob saß mit hängenden Armen. Er horchte zu den Soldaten hinüber. Die schrieen vergnügt. Sie trommelten mit den Knöcheln auf den Tisch beim Kartenspiel. Ludwig ging auf und ab. Sie sprachen alle drei nicht. Da drangen die Töne einer Ziehharmonika über sie herein. Nach einer kurzen Überleitung ordneten sie sich zu einem Walzer. Ludwig und Julius waren aufgestanden, aufeinander zugegangen, hatten sich umfaßt und tanzten nun zu der Musik. Sie blickten entschlossen, als gäben sie sich nicht einem Vergnügen hin, sondern kämen einer unaufschiebbaren Pflicht nach. Sie drehten sich, ein wenig steif, hoben die Kniee und machten um den Stuhl, der ihnen den Weg sperrte, immer den gleichen behutsamen Bogen. Jakob hatte ihnen zuerst mit geringer Teilnahme zugesehen. Dann schien er unwillig zu werden, schüttelte den Kopf, schwieg aber. Er stellte sich in eine Ecke und wies ihnen den Rücken. Aber nun er es nicht sah, hörte und fühlte er das beharrliche Schleifen und Kreisen der Tanzenden. Er wandte sich, krümmte den Mund und sagte nur: »Laßt doch die Dummheiten!« Seine Stimme erreichte das Ohr der beiden nicht. Sie waren nun wärmer geworden. Ihre Gesichter hatten sich gerötet und die Hüften bogen sie wohlgefällig im Takt. Jakob fluchte. »Wollt ihr aufhören? Ihr seid Narren!« Seine Wut steigerte sich. Seine Stirn wurde purpurn. Er fuchtelte mit den Armen und brüllte: »Ihr Schweine! Ihr dreimal verdammten Schweine! Man wird euch erschießen und ihr tanzt! Seid ihr verrückt geworden, ihr Schweine?« Die beiden hörten ihn nicht. Die Musik wurde stärker und süßer. Sie sahen einander an mit einem festen und unbeirrten Blick. Jakob tobte wie besessen. Er beschimpfte sie mit den unflätigsten Worten. Er stampfte mit den Füßen. »Aufhören! Aufhören« schäumte er. »Hurenbande, wollt ihr aufhören!« Er winselte, jammerte wieder laut, schlug in Verzweiflung mit den Händen gegen die Wand und fing dann zu weinen und zu schluchzen an. Dazwischen entquollen seinem Mund wieder gräßliche Flüche. Aber die Tanzenden hörten sie nicht. Während im Hof acht Mann die Gewehre luden, hatten die Soldaten im Nebenzimmer die Tür geöffnet und sahen lachend das sonderbare Schauspiel. Sie stießen sich wiehernd in die Seiten und klatschten Beifall. Der Harmonikaspieler hatte sich ganz nach vorn gedrängt, wollte sich ausschütten vor Vergnügen und ließ nicht ab den beiden Musik zu machen, angefeuert durch die Zurufe seiner Kameraden. Bis der kleine Feldwebel eintrat, Ruhe gebot, und mit seiner freundlichen Stimme sagte: »Machen Sie sich fertig, meine Herren!«

Jor auf der Flucht

Jor jagte im Garten die Magd. Die goldnen Ringe klirrten um seine Knöchel. Beim Pflaumenbusch griff er ihre Zöpfe. Er riß ihren Kopf zurück, stützte sein Kinn auf ihre Schulter und roch den warmen Geruch ihrer Brust. Die Magd schrie, verstummte, als seine Hände ihren Bauch betasteten. Sie legte die Lippen an seinen weißen Hals.

Am Brunnen wusch er sich die Hände und spülte sich den Mund. Die Doggen sausten gegen die Stäbe des Hundezwingers. Ihre roten Zungen flatterten, aber zu heulen wagten sie nicht. Er zog das Gitter in die Höhe und die Hunde schnellten sich heraus. Jor begann zu rennen. Die Hunde hatten die Nasen an seinen Fersen und keuchten stumm.

Im kühlen Saal saßen die Eltern. Er sah den Bruder nicht an, ließ sich von der Mutter einen Apfel schälen und ging. Han zerlegte der Mutter ein saftiges Stück. Sein großes Kinn hing schwer an seinem Gesicht. Die Eltern redeten nichts, Han sah die Mutter aufmerksam an.

Jor stand nackt vor dem Spiegel. Er salbte sich, machte seine Zehennägel glänzend. Bis ein Diener kam, Kleider über dem Arm.

Jor saß mit einem Sprung im Sattel. Er galoppierte quer über das Feld. Der Wind kühlte ihm Hals und Haar.

Orla stand unter der Tür. Ihre runden Augen glänzten freudig. Sie legte ihm die kleinen Hände auf die Brust.

Er aß Lammbraten, dessen erregenden Geschmack er jedem vorzog. Er blieb eine Stunde bei ihr und als er ging, ohne sie berührt zu haben, ward sie ein wenig traurig und dann wieder freudig bei dem Gedanken, daß er morgen wieder käme.

Die beinernen Würfel flogen, aber der schwarzen Punkte waren es nie so viele, wie bei dem Griechen. Das war durch Stunden so. Das letzte Goldstück schenkte er einem Diener und ritt heim.

Han fuhr im zweispännigen Wagen über die Felder. Seine Augen waren überall. Er setzte einen Aufseher ab, weil bei ihm die Frucht niedriger stand als in den übrigen Bezirken. Er verhandelte mit einer Abordnung, die sich beklagte, daß die Peitsche des Verwalters martre. Er ließ Wassergräben anlegen und Felsen zertrümmern. Am hohen Vormittag lenkte er den Wagen zum Herrenhaus zurück, Ochsenhändler zu empfangen. Jor schaukelte im Garten in einer Hängematte, sah nicht auf, als der Bruder vorüberfuhr und fütterte Tauben, rote und graue.

Den Nachmittag saß Jor wieder im Spielsaal. Der Grieche nahm ihm einen Beutel Gold ab und gewann noch Orla und das Lusthaus, die Jor als letzten Einsatz anbot.

Seine Schwägerin Jug saß auf einer Bank im Garten. Jor sprach höflich mit ihr. Sie begann zu weinen. Er zuckte die Schultern und ging zu den Hunden.

Er verspielte ein Ölbaumwäldchen an den Griechen. Jug kam nachts zu ihm. Er verbeugte sich und begleitete sie bis zur Tür ihres Schlafzimmers, und trat in die Kammer der Dienerinnen, wo er bei der jüngsten schlief.

Han fuhr übers Feld und sah. Leute, die das Ölwäldchen fällten. Sie wiesen ihm Jors Unterschrift. Sein großes Kinn sank.

In der Nacht fand Han den Platz neben sich leer. Er suchte Jug, und eine Dienerin verriet ihm den Weg. Sie lag nackt neben dem schlafenden Jor.

Sein großes Kinn sank wie unter einem Schlag. Er schickte Jug zu ihren Eltern und zahlte die Mitgift zurück in Gold und Viehherden. Jor sah über ihn hinweg.

Der Grieche kam und wies Jors Unterschrift und ließ hundert Pferde aus den Ställen holen.

Jor aß mit den Seinen. Die Mutter schälte ihm den Apfel. Der Vater schlug mit dem Stock den Diener, der Jors Glas umgestoßen. Dann bat er Jor nicht mehr zu spielen.

Jor spuckte das Stück Apfel, das er im Munde trug, in die hohle Hand, warf es dem Vater ins Gesicht. Han wusch den Alten.

Abends verlangte Jor sein Erbe in Gold.
Han schickte Boten. Und Händler kamen. Er verkaufte Wälder und fischreiche Seen und Felder und Vieh, und am dritten Tag wies er Jor einen Wagen, der mit Gold beladen war.

Jor ergriff die Zügel und der Kot der spritzenden Räder überschüttete die Mutter, die an der Tür lehnte. Han stützte sie. Sie küßte ihn nicht und ging zum Vater und die beiden hatten trockene Augen.

Han fuhr jeden Morgen aufs Feld, zankte mit den Aufsehern, ließ die säumigen Arbeiter prügeln, feilschte mit den Händlern. Mittags schälte er sich selbst den Apfel. Die Eltern hatten trockene Augen.

Diener standen zu beiden Seiten der Treppe. Jor trat aus dem Haus. Das Gewühl der Straßen nahm ihn auf. Er ging lange durch die hallenden. In einem Speisehaus aß er gebratene Tauben. Abends ging er früh heim. Er schritt durch seine vielen Zimmer, war in jedem einsam und freute sich seiner Einsamkeit.

Ein ungeheurer roter Himmel war am Morgen. Die Straßen waren noch leer. Er lief bis in den Mittag. Er fütterte die herrenlosen Hunde. Ein Vorläufer schrie mit hoher Stimme, schlug mit einem langen Stab freien Weg und die goldene Sänfte schwankte vorbei. Jor sah unter einer niedrigen Stirn große Augen. Die schwarzen Brauen runzelten sich, ein kleines Lächeln setzte sich in den Mundwinkeln fest. Jor stieß dem Hund die Fußspitzen in die Rippen. Die Sänfte segelte golden davon.

Dem Armenier rann der rote Wein in einer dünnen Schnur ins Kleid. Er schrie, wollte eine Rede halten, aber seine Zunge ruderte ungelenk an die Zähne. Jor hatte den Kopf auf die Arme gelegt. Es war purpurn vor seinen Augen. Er stand schwankend auf, ließ die Lichter im Saal löschen, und ging in sein Schlafgemach.

Das Mädchen zitterte, fror. Jor wollte seinen Mantel über die Nackte werfen. Aber der Maler schrie wild, verbot es, schien das Mädchen schlagen zu wollen, vergaß es aber wieder, als er ein süßes Rosa auftrug. Er sang leise vor sich hin. Plötzlich lachte er, zwickte das Mädchen in den Hintern, schrie es an, warf den Pinsel weg und brüllte unmäßig, als es in den Nebenraum floh.

Jor ließ alle Zimmer sich mit Bildern schmücken. Jedes kostete einen Beutel Gold. Der Maler war ihm widerwärtig, weil er ein schmutziger und gewöhnlicher Mensch war, aber sein Pinsel war von Gott besessen.

Später lernte er Cahel kennen und seine Frau. Die großen Augen unter der niederen Stirn sahen ihn kühl an. Das Lächeln in den Mundwinkeln blieb. Er war viel bei Cahel. Sie ritten zusammen auf die Jagd und betranken sich zusammen.

Einmal, als er kam, und Cahel schon ausgeritten war, schrie er Oezül an, das Lächeln kränke ihn. Sie spannte die Schultern zurück, daß ihre Brust sich vorschob. Er stürzte hinunter, schlug das Pferd und ritt vor die Stadt.

Cahel starb an Gift. Er aß reichlich zu Mittag. Sein Gesicht wurde plötzlich rot. Dann griff er mit den Händen an den Hals und fiel tot um. Als Jor kam, wuschen die Diener die Leiche unter Oezüls Aufsicht.

Jor lebte vier Wochen mit Oezül, dann war er ihrer überdrüssig. Als er einen jungen Schauspieler bei ihr traf, nahm er das Lächeln aus Oezüls Gesicht in seines herüber und ging.

Er blieb viele Wochen allein in seinem großen und schönen Haus. Er redete mit den Gestalten, die rosig und blau und golden um ihn lebten. Er lag auf Kissen, Diener stellten Krüge voll Wein um ihn. Er ließ Vorhänge vor das Licht ziehen und schlief Tag und Nacht.

Das Gold hatte er in vielen Beuteln in einem kleinen Gemach aufgeschichtet. Er zählte die Beutel nie. Er wußte, daß die Diener ihm den Schlüssel unter dem Schlafkissen wegstahlen. Ihn kümmerte es nicht und das Gold schien nicht abzunehmen.

Im Garten ließ er sich ein Lusthaus bauen. Er feilschte mit Mädchenhändlern. Tagelang wimmelte es bei ihm von Frauen, deren Brust er befühlte, ob sie hart sei, die vor ihm auf und ab gingen, ob ihr Gang ihm gefalle, die vor ihm sich drehten und vor ihm tanzten, ob es ihm Lust gebe. Die Händler priesen kreischend ihre Ware. Er kaufte fünfzehn Frauen. Die jüngste war zwölf, die älteste hatte graue Haare, aber ihre Schenkel waren noch fest. Sie durften sein Frauenhaus nicht verlassen.

Dann ekelte ihn des vielen Fleisches. Er schenkte die Frauen seinen Freunden und die älteste verheiratete er mit einem seiner Diener.

Das Gold in der Kammer wurde weniger. Aus dem Berg war ein Hügel geworden. Da lächelte er wie schon lange nicht mehr und ritt wieder aus, was er seit Wochen nicht mehr getan hatte. Seine Beine waren ein wenig schlapp geworden. Aber als ihm der Wind ins Gesicht pfiff und hinter ihm die nassen Klumpen kollerten, wölbte er die Brust breit heraus.

Er begann wieder zu spielen. Aber er mußte die ganze Nacht würfeln, bis er einen Beutel Gold verspielt hatte.

Er lag in seinem Garten im Gras. Er ließ sich Decken heraus schaffen und verbrachte auch die Nächte im Freien. Unaufhörlich drehten sich die Sterne und die Morgenwinde wuschen ihn mit Kühle.

Er ließ einen Baumeister und Maurer kommen und sich im Garten einen hohen Turm bauen. Wochenlang bewohnte er nur das Turmzimmer. Er schoß die Vögel, die um das Dach kreisten. Dann plötzlich trug ihn der Turm nicht mehr. Er betrat ihn nicht wieder.

Er sammelte viele Freunde um sich. Sie zogen berauscht und in Masken durch die Straßen. Sie erhellten die Nächte mit ihren Windlichtern. Ihr Geschrei verstummte nicht bis zum Morgen. Sie hielten Wagenrennen, hatten Esel vorgespannt, denen sie mit Wein getränktes Brot zu fressen gaben.

In den Fenstern lagen die Leute und jauchzten mit ihnen. Als Jor auf seinem krummen Gefährt vorbeitaumelte, verstärkte sich das Geschrei und er fühlte schmerzhaft, daß er geliebt war. Er schlug auf die Tiere ein, machte unanständige Gebärden gegen die Zuschauer, aber der Jubel wurde nur größer.

Er prügelte seine Diener. Einem zerschlug er mit einer schweren Vase die Schulter. Sie waren ihm hündisch ergeben. Immer wieder rann in ihre Hände sein Gold. Er stellte einen Beutel auf den Tisch, rief seinen grauhaarigen Haushofmeister, stieß ihm den Fuß in den Bauch, ins Gesicht und wies auf das Gold, als er winselte. Der Kerl nahms und blieb in seinen Diensten. Wie sie zusammenstanden hörte er, daß sie gutes von ihm sprachen. Er lachte und dachte: des Goldes wegen.

Eine Tänzerin jagte Fieber in sein Blut. Er schenkte ihr einen jungen, gezähmten Leoparden. Er ließ sieben Gemächer für sie säubern, mit kostbaren Stoffen bespannen und stellte sieben braune Dienerinnen für sie ein. Sie kam nicht.

Er sandte ihr Pfaue, die goldene Räder schlugen und Papageien mit silberblauen Federn. Sie gab die Pfaue und die Papageien dem Leoparden zu fressen und schickte ihm die blutigen Federn zurück.

Er bezahlte dreihundert Männer, daß sie, als sie tanzte, Beifall brüllten und mit den Händen auf die Schenkel schlugen, daß es klatschte und immerfort ihren Namen riefen. Er stand auf einem erhöhten Platz und leitete mit einem Stab das Anschwellen der Zurufe. Sie beachtete ihn nicht.

Er bezahlte dreihundert Männer, daß sie, als sie tanzte, pfiffen, auf Trompeten bliesen und mit stinkendem Obst nach ihr warfen. Er stand auf einem erhöhten Platz und befeuerte mit einem Stab den Lärm. Sie sah ihn nicht.

Er vergaß sie. Er verhöhnte einen Philosophen, zog ihn an seinem langen Bart über den Marktplatz. Er weigerte sich, die hohe Strafe zu zahlen, versperrte sein Haus vor den Gerichtsdienern und ließ sich belagern. Am dritten Tag ergab er sich, bewirtete die Schergen mit Wein, schickte sie betrunken nach Hause und ließ den taumelnden Anführer das Gold auf einem kleinen Wägelchen durch die Straßen rumpeln.

Er gab einem Diener in jede Hand einen Beutel Gold, einen Brief zwischen die Zähne und sandte ihn zur Tänzerin. Der Bursche kam ohne das Gold zurück und abends kam sie.

Er trieb alle aus dem Haus diese Nacht. Und durch die sieben seidenen Gemächer jagte er seine Lust.

Am Morgen bereitete er ihr ein Bad, schürte selber das Feuer und brachte ihr Brot und Wein.

Erst am Mittag öffnete er seinen Leuten wieder die Tür. Sie beide verließen das Haus wochenlang nicht mehr. Sie tanzte vor ihm und jeden Abend schenkte er ihr eine Hand voll Gold.

Er sah haßerfüllt in die Kammer, wo das Gelbe nur langsam zusammenschmolz.

Als sie wieder einmal vor ihm tanzte, nackt, schrie er die Diener herbei, daß sie zusähen. Dann bewarf er die Tanzende mit Goldstücken, befahl ihr, aufzuhören und prügelte die Burschen mit Faustschlägen auseinander.

Die Demut, auf die er überall traf, reizte ihn unsäglich. Er war der beliebteste Mann der Stadt. Die Straßensänger stimmten lange Balladen an zu seinem Preis. Die Marktweiber wurden fröhlich, wenn er zwischen ihren Körben hindurchging. Der Philosoph, den er am Barte gezerrt, suchte ihn auf, ihm zu verzeihen. Er schenkte ihm ein Goldstück. Er nahm es nicht an, küßte ihn. Tief betroffen war Jor und erblaßte.

Es war, als wandle er immer eine Stufe höher als die Menschen um ihn. Die Stufe war aus Gold. Er mußte die Stufe zertrümmern, abtragen. Er mußte seine reichen Kleider ablegen. Sie taten, als sei seine Haut weißer und sein Haar lockiger als das ihre. Er mußte sich von der Sonne bräunen lassen und das Haar von Schweiß verkleben. Er war schlechter als sie und sie taten, als sei er besser. Er war zornig und sie begegneten seinem Zorn mit Güte. Er schlug sie und sie trugen die Schläge. Das Gold hatte ihn eine Stufe höher gestellt als sie. Sie sahen ihn nicht, wie er war und er mußte die Stufe abtragen.

Er gab lärmende Feste, fütterte seine Gäste mit gebratenen Singvögeln und gab ihnen Wein zu trinken von Trauben, die auf feuerspeienden Bergen wuchsen. Er berief kastrierte Sänger, die Mädchenstimmen hatten und Sängerinnen, deren Stimmen im schweren Baß tönten.

Er ließ Pferde, die er nur einmal geritten, zusammenstechen. Er ritt keins
ein zweitesmal.

Er kaufte alle Huren der Stadt frei, daß die öffentlichen Häuser leer standen und die Mädchen auf den Plätzen herumlungerten.

In der Kammer schmolz das Gold. Die Tänzerin, die noch immer bei ihm lebte, bat ihn, der Verschwendung Einhalt zu tun.

Als nur mehr zwei Beutel in der Kammer lagen, trat sie an einem Morgen an sein Lager. Er solle die Dienerschaft entlassen, das Haus verkaufen, mit dem Erlös könne er bis an den Rest seines Lebens im Wohlstand leben.

Er gab einen Beutel einem Wasserverkäufer für einen Trunk. Den letzten Beutel schenkte er der Tänzerin.

Er wartete, daß sie gehe. Er lachte und zeigte ihr vergnügt die leere Kammer. Er sagte ihr und beteuerte es, und eine große Lust schrie dabei in seiner Stimme, daß er nichts, nichts, nichts mehr besitze.

Unter seinen Kleidern wählte der die festesten, unter seinen Stiefeln die derbsten, und ging langsam die Treppen hinunter aus dem Haus.

Als er sich vor der Stadt auf die Landstraße stellte und die Richtung nahm auf einen fernen Berg, trat die Tänzer neben ihn und ging mit ihm.

Der Staub wirbelte grau um sie. Er trat fest auf mit den Stiefeln und ging bis zum Abend. Sie verkrochen sich hinter einem Gebüsch bis zum Morgentau. Mittags kamen sie in eine kleine Stadt. Er verdingte sich als Arbeiter für einen Bau. Sie wohnten in einer geringen Herberge. Als es abends zum Ziegenkäse ein Glas Wein gab, faßte er Argwohn. Als sie schlief, entdeckte er Gold bei ihr. Er stand leise auf, verließ das Zimmer und das Haus und wanderte die ganze Nacht und den ganzen Tag, bis er die Hafenstadt erreichte.

Er schlief in einem Tal zwischen zwei Ballen. Ein herrenloser Hund wärmte seine Füße. Aufseher verjagten ihn am Morgen. Die vielen Schiffe scheuerten sich an den Kaimauern. Segel wölbten sich weiß und herausfordernd. Die hohen Stangen der Maste vergitterten den Himmel. Den ganzen Nachmittag ließ er sich von der Sonne braten. Die Schreie der Arbeiter schossen über ihm hin und her. Am Abend suchte er seinen Schlupfwinkel wieder auf.

Der Hunger trieb ihn am andern Morgen, Arbeit zu nehmen. Ein Schiff verlud Mehl. Er ließ sich Handgeld geben und schleppte die weißstaubigen Säcke. Seine Schulterblätter knirschten. Der Hals wurde steif. In einer Schenke aß er eine braune Zwiebelsuppe und schlief mit anderen in einem ungedeckten Lagerraum.

Der Mond trieb groß über den Himmel. Neben ihm wälzte sich ein Liebespaar. Er fiel in einen traumlosen Schlaf.

Fünf Tage schleppte er die Säcke und schlief die Nächte auf dem lehmigen Boden. Am sechsten Tag ging er.

In einer Schenke traf er auf Matrosen, die von langer Seereise zurück waren. Sie erzählten von Palmen, wilden Tieren und Menschenfressern. Sie hatten das Geld locker in der Tasche sitzen und hielten ihn frei. Er aß sich satt an Braten, trank roten Wein und hörte ihre Geschichten. Sie ließen sich bald wieder anwerben.

Er streunte im Hafen umher. Er verdingte sich bald hier, bald dort einen halben Tag oder einen ganzen. Mit einem angetrunkenen Seefahrer bekam er Streit. Der Schwarzbärtige riß das Messer aus dem Stiefelschaft. Jor sah, wie er den Schwung bremste, als ihre Augen sich trafen. Wie er die Lider erschrocken fallen ließ! Wie er das Messer unmerklich senkte! Aber Jor warf sich auf ihn, in das Messer, stürzte, spürte Blut im Hals und schlief ein. Im Hospital pflegte man ihn. Er sah auf seine dünnen Hände. Seine Fingernägel waren bleich. Als er schwankend einmal um die Stube gehen konnte, brannte er durch.

Er kehrte zum Hafen zurück. Die kalten Nächte brachten neues Fieber. Er fand Stellung als Schreiber bei einem Kaufherrn. Er zählte Ballen und Stämme und schlief unter einem warmen Dach.

Er ging wieder auf Wanderschaft, zog nachts durch die Dörfer, reizte die Bauernhunde und schlief in dichten Wäldern.

Später schloß er sich einer Gauklertruppe an. Es waren braune Menschen mit wilden Gesichtern und blitzenden Zähnen. Der Führer fraß glühende Kohlen und setzte sich Messer in die Schenkel ohne zu bluten. Die Mädchen sprangen durch Reifen. Er lernte auf dem Seil zu tanzen, Töpfe zu balancieren. Nachts schliefen sie alle in einem Zelt. Er fand im Wechsel die beiden Mädchen neben sich. Er entdeckte, daß sie auch mit ihrem Vater schliefen. Er zog lange Wochen mit ihnen.

Er streifte allein durch das Land. Er bettelte. Eine Witwe gab ihm ein ungewöhnlich großes Almosen und bot ihm Arbeit in ihrem Töpfergeschäft. Er hatte nur einmal am Tag durch die Werkstatt zu gehen. Der Tisch war reichlich gedeckt. Sie kaufte ihm gute Kleider. Er hatte einen Widerwillen gegen ihren großen Busen und zog wieder landstreichend über die Straßen.

In einer Schenke stieß er um Mitternacht auf einen bartlosen, aufgeregten Menschen, der auf dem Tisch stehend Verse schrie. Mit den wandernden Komödianten reiste er. Er lernte es, den Mantel königlich um sich zu schlagen und das Gesicht in Längs- und Querfalten zu ziehen. Er schrieb selber das Szenarium zu einer Tragödie, deren Text sie aus dem Stegreif sprachen. Die Gesellschaft zerstreute sich und er zog mit Emra allein weiter. Sie sangen in den Straßen und Emra sammelte Geldstücke in seinem Hut.

Die goldene Stufe ist zerschlagen, triumphierte er. Niemand mehr duckte sich demütig, wenn er Schläge austeilte. Wen er schlug, der schlug zurück. – Der Schwarzbärtige, dachte er. Der Messerstich. Und zwang sich, nicht zu sehen, wie der Kerl den Schwung bremste und die Spitze senkte. – Alle waren ihm früher untertan gewesen und sein Stolz hatte darunter gelitten. Noch duckten sich zu viele vor ihm.

Seine Wunde brach wieder auf. Er spuckte Blut. In einer kleinen Herberge blieb er, und Ernra verdiente das Geld. Sie lief auf die Straße, ging mit fremden Männern, mit alten und jungen.

Sie tats um seinetwillen. Das trieb ihn von ihr. Als er sich ein wenig wohler fühlte, begann er von neuem sein Wanderleben. Der Himmel war über ihm, Bäume gab es überall und Straßen liefen kreuz und quer. Er stahl den Bauern Hühner, briet sie im Wald, bettelte und sang in den Straßenschenken vor Landstreichern und Huren.

Er wurde froh, wenn ihn die niedrigsten wie ihresgleichen behandelten. Er sprach in Zoten mit ihnen, betrog sie im Spiel. Aber immer wieder stieß er auf eine demütige Liebe, die er floh wie des Teufels Faust.

Er wußte nicht, was ihn trieb. Immer tiefer sich sinken lassend, mußte er dahin kommen, daß er wie eine Welle im gleichen Fluß mit den andern floß. Denn es drängte ihn, über niemand hinaus zu ragen.

Auf der Wanderschaft geriet er in lange Regenwochen. Seine Füße wurden nicht mehr trocken. Er begann zu husten.

Bei einem Bauern blieb er als Schweinehirt. Es waren sechzig Säue, die er zu hüten hatte. Es waren schwarze, borstige darunter, mit gierigen Rüsseln, und helle, rote, die gutmütig waren. Er schlief in einer niederen Hütte, durch die der Regen träufelte und der Wind blies. Sein Lager war faules Stroh. Die Hütte stand an einem Waldrand, der versumpft war. Die Säue wälzten sich im schwarzen Morast, dem wenige gelbe Blumen blühten.

Der Bauer war ein gewalttätiger und roher Mensch. Wenn er kam, ihm die paar Wecken verschimmelten Brotes zu bringen, schimpfte er über das wenige, das er dem hergelaufenen Landstreicher geben mußte.

Am Tag lag Jor vor der Hütte inmitten der Säue. Die ackerten grunzend den Boden auf, schliefen und begatteten sich.

Jor spuckte wieder Blut. Er lag im Fieber und die Säue beschmutzten ihn mit ihrem Kot. Er hatte Hunger und er aß von dem stinkenden Mantsch, den täglich ein Knecht für die Tiere vom Hof herüberbrachte. Er schöpfte sich einen Hut voll von der Brühe und hielt sich die Nase zu und trank. Der Bauer sah es, stieß ihn mit dem Fuß. Aber er ließ ihm eine Schüssel Milchreis geben und weißes Brot. Jor aß und die borstigste der schwarzen Säue fuhr mit dem Rüssel naß und gütig über sein Gesicht.

Jor wollte die tiefste Demütigung auf sich nehmen: dienen in dem Haus, in dem er geherrscht. Zerlumpt und als Sauhirt zurückkehren zu ihnen, denen er ins Gesicht gespuckt. Und er hoffte inbrünstig, daß sie gleiches mit gleichem vergelten und ihn schlagen und anspucken würden und ihn verachten, wie er sie angespuckt und verachtet hatte.

Nach fünf Tagemärschen, als ihm schon Eiter zwischen den Zehen stand, sah er die Gärten seines Vaters vor sich liegen. Es war gegen Mittag und er schritt langsam auf den bekiesten Wegen. Knechte und Mägde kamen von den Feldern zum Mittagbrot. Han fuhr im staubwirbelnden Wagen an ihm vorbei. Im kühlen Hausflur legte er sich mit dem Gesicht zu Boden. Er spürte einen Fuß im Nacken und hörte die Stimme seines Vaters. Er richtete sich auf, sah ihm in die Augen und bat ihn: laß mich deine Schweine hüten!

Eine große Erwartung zitterte in ihm. Er beugte den Rücken, um die Flüche zu tragen, die der alte Mann auf ihn laden mußte. Er hielt die Hand vor das Gesicht, um den Speichel aufzufangen, den ihm der alte Mann ins Gesicht werfen mußte. Und bat: laß mich deine Schweine hüten!

Der Greis stand groß an der Wand und tat einen Schritt gegen ihn und hob die Hand und streichelte sein verklebtes Haar. Er sprach nicht und streichelte ihm Gesicht und Bart und Hände und Brust und sprach nicht und ließ die Hände nicht mehr von ihm.

Aus der Tür trat die alte Frau, seine Mutter. Die beiden Alten führten ihn in den Speisesaal. Sie riefen die Diener zusammen und ließen ihm ein Bad bereiten und reine Kleider holen.

Gewaschen und gesalbt saß er zwischen den beiden Alten. Die Mutter schälte ihm einen Apfel und dann ging er früh schlafen.

Die Doggen prasselten mit den Pranken an die Gitterstäbe. Er saß im Garten und fütterte die Tauben.

Beim Mittagessen sah er Han. Der Bruder gab ihm die Hand. Die Mutter aß nichts und zitterte vor Glück, als er den Apfel nahm, den sie
für ihn geschält hatte.

Der Vater besprach die Bewässerung einer trockenen Wiese. Han legte seinen Plan dar. Jor nahm ein Stück Kohle und zeichnete Gräben und Rinnen. Der Vater gab den Auftrag, und er prüfte nicht lange zwischen den Plänen beider, und ließ den Jors ausführen.

Jor ritt auf die Felder und die Knechte gruben schneller mit der Hacke, ihm zu gefallen.

Die Händler verlangten mit ihm den Kauf abzuschließen. Sie einigten sich schnell mit ihm und ohne viel zu feilschen.

Wenn aber Han‘s Wagen über die Felder rollte, stützten sich die Knechte faul auf die Stiele ihrer Hacken.

Jor versuchte nicht mehr gegen das Göttliche in ihm sich zu stemmen. Die Menschen waren gut zu ihm und mußten ihn lieben. Eines Nachts erwachte er und sah Han neben sich am Bett stehen mit erhobenem Messer. Jor rührte sich nicht und blinzelte durch die geschlossenen Lider. Es trug ihn und er schwoll der Prüfung entgegen. Aber Han ließ das Messer sinken und erkannte ihn über sich an wie alle.

Das Fest der Vierhundert

Am roten Morgen des Fronleichnamstages erschlugen die meuternden Sträflinge den General und die Offiziere. Neruda, der Anführer, ließ Branntwein verteilen und gab die weißhäutigen Frauen frei. Sie erlagen der tödlichen Umarmung der Vierhundert. Taumel und Tanz der Befreiten wandelte sich in Verzweiflung, als gegen Mittag vier königliche Segler in Sicht kamen. Die Wut der Ruderknechte sprang wie ein böses Tier Neruda an. Sie würgten ihn, spieen ihm ihre Galle ins Gesicht und banden ihn am Maste fest. Auf den Knieen und mit erhobenen Händen heulten sie den Soldaten des Königs entgegen. Spangen schlossen sich wieder um Knöchel, die einen halben Tag mit blassen Ringen gelöster Fesseln geprahlt hatten. Achtundvierzig Stunden später liefen die Schiffe den Hafen der Hauptstadt an und schon nach weiteren drei Tagen wurde an den Meuterern das Strafgericht vollzogen. Auf dem großen Platz hatte man zehn Galgen aufgerichtet. Die Häuser waren zum Fest geschmückt. Girlanden wanden sich und Kränze. In den Fenstern lag das Volk und brüllte vor Ungeduld. Der König selbst hatte mit kleinem Gefolge auf einer Estrade Platz genommen. Er naschte von südlichen Früchten, die in einer geschliffenen Schale vor ihm standen. Damen des Hofes entfalteten klirrende Fächer. Die Vorbereitungen waren so getroffen, daß immer fünfzig der Verbrecher gleichzeitig hingerichtet werden konnten, je fünfzig an einem Galgen. Man hatte den Gerüsten eine besondere Form gegeben, derart, daß zwei Stützpfosten von etwas über Mannshöhe durch einen starken Querbalken verbunden waren. Auf niederen Karren, von Pferden gezogen, denen zwischen den Ohren rote Federbüsche blühten, rasselte der Zug der ersten fünfzig aus dem Tor des Gefängnisses. Als auf die Verurteilten der Glanz des blauen Himmels fürchterlich eindrang, als sie das Grün der Kränze flattern sahen und taumeln die schwarzen Rechtecke der Galgen, zerbrachen sie in einem Schrei, der fröhlich von dem Jubel des Volkes aufgenommen und weiter getragen wurde. Die Schlinge des Stricks, die von ihrem Hals baumelte, mußten sie selbst an den riesigen Nägeln der Balken befestigen. Die Knechte rissen ihnen die Treppen unter den zitternden Füßen fort. Sie zuckten wie Aale an der Schnur. Manche griffen mit leeren Händen um sich, als wollten sie Wasser schöpfen. Andere liefen mit schnellen Beinen einen steilen Berg empor. Aber bald hingen alle wie tote Schläuche. Während man sie abschnitt und ihr warmes Fleisch auf den kreischenden Karren wegfuhr, züngelte aus dem Gefängnistor schon die Schlange der nächsten fünfzig. Straßenverkäufer boten Orangen feil. Die gelben Kugeln flogen von Hand zu Hand. Stutzer ließen sie schimmernd steigen zu Fenstern, aus denen Mädchengesichter sich neigten. Die brechenden Augen der Sterbenden sahen sie wie viele kreisende Monde um die Dächer sich drehen. Als zum drittenmale die Wagen der fünfzig auf den Platz donnerten, steigerte sich der Jubel der Menge ins Unermeßliche. Der vorderste der Karren wurde von einem stolpernden, räudigen Gaul gezogen, [der] aus eitrigen Augen glotzte. Neruda saß rücklings auf ihm, den mit Stroh durchflochtenen Schwanz des Tieres als Zügel in den gefesselten Händen. Er funkelte mit heißen Augen in die Reihen der lachenden Leute. Als ihm einer ein Schimpfwort zuwarf, schüttete er eine trübe Flut gräßlicher und gemeiner Flüche auf seinen Widersacher, der den Kopf einzog wie vor stinkendem Spülwasser. Als die Welle der nächsten fünfzig sich an Galgen zerbrochen hatte zu zitternden Tropfen, trat eine Pause ein im Ablauf des Festes, weil Schauspieler und Tänzer, Flötenbläser und Paukenschläger, Zauberer und Messerschlucker sich zeigten. Ein braunes Mädchen, mit durchsichtiger roter Seide bekleidet, tanzte vor dem König. Sie war wie eine Mohnblume, die sich im Winde der Flöten wiegt. Eine züngelnde Flamme, die auf dem prasselnden Kalbfell der Trommeln wirbelt. Mit einem hellen Schrei, der den König wie ein dünner Dolchstoß traf, sank sie in sich zusammen und blieb liegen wie ein Häuflein Asche, aus dem das rote Feuer des Gewandes noch glimmte. Man trug sie weg, während Trompetenstöße kündeten, daß die Hinrichtungen ihren Fortgang nähmen. Fünfzig Fleischklöppel schlugen krachend an die Pfosten der hölzernen Uhren, schmetternd die letzte Stunde. Die Gäule lahmten von dem schweren Werk und mußten mit Peitschen geprügelt werden. Das Volk wurde ungeduldig. Es murrte, daß es nicht rascher ginge mit dem Henken und viele verliefen sich. Auch der König war schon aufgebrochen, nachdem er dem Herrn der Gauklertruppe erlaubt hatte, daß er das Mädchen den Abend ins Schloß schickte, vor ihm zu tanzen. Über den leeren Platz klapperten die Hufe der Pferde. Klirrend schlossen sich ermüdete Fenster. In dünnen spritzenden Strichen begann es zu regnen. Die letzten fünfzig starben gänzlich unbeachtet.

Kain

Als Abel, der sanfte, süße, blonde und weißhäutige Abel ihn anschmachtete mit triefender Güte in den leicht vorquellenden Augen, als er ihm die kleinen, gepolsterten Hände entgegenhob und brüderliche Wange an seiner Schulter reiben wollte, wie er es immer tat, die rosige Wange, die sich anfühlte wie die dunstige Schnauze eines Kätzchens: ihn überschwemmte Haß von tausend Knabentagen, Widerwille von hundert gemeinsamen Mahlzeiten – und er schlug zu, er schlug gut zu, mit dem Ast, den er sich gebrochen hatte ihn zum Bogen zu spannen – und sah gelassen wie die hellblauen Kälbchenaugen verglasten. Schon brauste der Himmel schwarz. Wolken zerfielen zu Schluchten und ein grüner Mond erklirrte. Kain peitschte sich vorwärts. Er wölbte die Brust und hetzte in Sprüngen zum Wald. Der Blitz, den ihm der Herr nachwarf, streifte seine Ferse. Er sprang wie ein Hirsch durch das Gestrüpp, vergrub sich in eine Höhle, hungerte Tage. Er erwürgte Abel durch viele Träume. Und dehnte die breiten Schultern, befreit, wenn er mit den Füßen nach der Leiche stieß. Nie hatte ihm Abel unrecht getan. Er haßte ihn. Er zitterte, wenn Abel ein gutes Wort zu ihm sprach. Empörte sich, wenn der Bruder ihm Liebes erweisen wollte. Roch ihn wie Schleim, wenn er neben ihm schlief. Er spürte Feindschaft, wo das Blut versöhnt klopfen sollte. Er erschlug ihn tausendmal im Spiel, in schlafgemiedenen Nächten hinter halbgeschlossenen Augen. Er stürmte mit beiden Fäusten gegen ihn und flatterte ins Leere. Finger faßten nicht Fleisch, erstickten im zäh nachgiebigen Saft. Seine Mannheit pantschte gegen Schlamm. Kantige Stirn donnerte nicht gegen gleiche Wölbung. Süße Mundwinkel reizten ihn. Er erschlug ihn, den Gott liebte. Er haßte Gott. Gott, der den wirbelnden Rauch von Abels Opfer gerne roch. Er traf Abel und hoffte Gott zu treffen. Ihn, der das Bürschchen, das Jüngferlein Abel zum Bild sich geschaffen. Zum Gleichnis. Zum Freund. Zum Bruder. Zum Sohn. Zu seinem weißumhäuteten Selbst. So erschlug Kain den Abel, im Aufruhr des ewig Andern, in riesiger Flamme zerbrannt.

Kain blieb im Wald wohnen. Er schnitzte sich Pfeile aus dem harten Holz der Eschen. Er jagte den Hirsch, fing die Fische mit der Hand und nahm die Eier aus den schwanken Nestern. Er trug in die Höhle Moos und dürres Laub, darauf zu schlafen. In einer schwülen Nacht stieg er über das Gebirge und stahl im fremden Tal ein Kind. Das Mädchen wuchs auf ohne Erinnerung an Menschen, von denen es stammte. Sie briet Kain die Vögel, bereitete sein Lager und schlief bei ihm. Wenn er die hohen Brauen runzelte, duckte sie ergebene Schultern. Sie wusch ihm die Füße und ertrank im Meer seiner Augen. Er lehrte sie, ihm Opfer zu bringen, Tiere und seltene Früchte. Wenn ihn der Opferrauch umwirbelte, schlug sie die Stirn auf die Hände und betete zu ihm. Er nahm seine Rache an Gott. In ihrem Herzen ermordete er ihn, zerstampfte er ihn, rottete er ihn aus und setzte sich an seine Stelle. Sie gebar ihm Söhne und Töchter. Sie sprachen seinen Namen wie den Gottes aus. Sie jauchzten, wenn der Blitz des Himmels grün über die Wipfel fuhr und lachten, wenn schwarzer Donner über dem Walde polterte. Aber der Blitz aus Kains Augen drückte sie auf die Kniee und der Donner seiner Stimme machte sie erbeben.

Als er sich alt fühlte und bereit zu sterben, rief er sie alle in die Höhle. Vor den Eingang rollte er mit letzter Kraft einen großen Stein. Sie zündeten ihm Opferfeuer und lagen um ihn in Gebeten. Sie erstickten im weißen Dampf. Als er Starre in den zu ihm erhobenen Blicken sah, lief ein ungeheures Zucken durch seinen Körper. Er brach tot zusammen und verlöschte mit dem Gesicht die schmale Flamme, die noch für ihn leuchtete.

Der Tod des Don Quichotte

Don Quichotte saß im Sterbestuhl.
Sein kahlgefreßner Vogelkopf zitterte auf dünnem Hals, dessen Adamsapfel unruhig auf und ab stieg. Die Schnurrbartspitzen waren sorgfältig gewichst und stachen starr und schwarz wie Lanzen in die Luft. Nur wenn er die Oberlippe greinend verzog, bebten sie hilflos. Die halberloschenen Augen rannten über den Stubenboden wie vergiftete Mäuse. In den Mundwinkeln klebte getrockneter Schleim. Frau Avrikos, die Wirtin, bereitete in der lärmenden Küche Pasteten. Das Knallen des platzenden Fettes donnerte durch den Raum. Don Quichotte hatte das Kinn auf die Brust gesenkt. Seine mageren und ungewaschenen Hände lagen auf den Lehnen des Sessels. Seine Gedanken waren schon nicht mehr bei ihm. Sie hatten sich von seinem Befehl gelöst wie meuternde Truppen. Sie führten einen Feldzug auf eigene Faust. Sie wogten hin und her, kämpften geschlossen und aufgelöst, drangen vor und zurück, stritten im Nahkampf und schossen mit Pfeilen. Er war nicht mehr als ein unbeteiligter Zuschauer. Wenn er den Unbotmäßigen Richtung geben wollte, schien es einen Augenblick lang, als folgten sie seiner Weisung, als setzten sie sich in Marsch auf vorgezeichnetem Weg. Aber bald schwenkten sie in Kolonnen wieder ab und führten Bewegungen aus, die er nicht vorgesehen hatte. Den Rappen, der sich im spanischen Schritt trug, lenkte er mit goldenen Zügeln. Es regnete Blumen und junge Mädchen hingen an seinen Steigbügeln. Der Abendhimmel wölbte sich schwer herab, als er über Land ritt. Die heilige Jungfrau, gebenedeit sei das Lächeln ihrer Augen, neigte sich aus Wolken und warf ihm ein funkelndes Kreuz zu. Hohn umbrandete ihn. Menschen, Menschen – er wischte ihren Spott von sich ab wie den Speichel der Ungläubigen. Erzengel führten sein Schwert. Liebe füllte sein Herz wie eine feurige Kugel, die schwebend glänzte.

Seine Hände waren gesegnet. Frau Avrikos kam aus der Küche. Sie sah ihn mitleidig an, wie er zusammengesunken im Sessel saß, mit feuchten und eingefallenen Schläfen. Er richtete die Augen auf sie, erkannte sie aber nicht mehr. Sein Atem ging in kurzen Stößen und seine Stirn wellte sich in Falten, die ein heftiger Krampf aufwarf. Sie beherbergte den Herrn nun schon die sechste Woche. Sie schlug ein erschrockenes Kreuz. Die heilige Barbara mochte wissen, ob er noch ebensoviele Stunden lebte. Den Quichotte schien zu schlafen, nur seine Hände waren lebendig. Der kleine Johannes zerrte am Strick Rocco, den Köter, in die Stube. Der Hund hatte ein böses und schielendes Auge, das blutunterlaufen war. Johannes begann mit dem Tier zu spielen, redete zu ihm wie zu einem Kinde, riß es am Schwanz, zog an seinen Ohren, legte ihm schließlich die hohlen Hände um die Schnauze und blies auf ihnen wie auf einer Trompete. Er nahm ihm die Zunge aus dem Maul und kratzte sie mit den Fingernägeln. Er zupfte ihm Haare aus dem Bauch und schwang [ihn] an den Beinen um den Kopf. Er setzte sich rittlings auf den Hund, nahm seine Ohren als Zügel und schleuderte ihn galoppierend rund um die Stube. Er holte Wasser und goß es ihm in den Schlund. Mit einem Holzsplitter durchstach er ihm die Lefzen. Die demütige und gequälte Bestie empörte sich. Sie sträubte die Rückenhaare, funkelte mit dem kranken Auge und sprang dem Knaben mit einem kurzen Schrei an die Kehle, von dem der Greis im Sessel erwachte. Er sah die furchtgekrümmten Arme des Kindes, sah das Untier, den feurigen Drachen, der es bedrängte. Er erhob sich und seine zitternden Beine trugen ihn. Vor seinen Augen blitzten die Speere der Schlacht. Erzengel führten sein Schwert. Liebe brach aus ihm erschütternd. Ein Mensch schrie und durch Qualm und Niedertracht brauste der einzige Ton gegen ihn. Er schwang den Stock wie einen Morgenstern und stieß gegen den knurrenden Hund vor. Der Kampf wurde mit Erbitterung geführt. Das rasende Tier war schneller als er und er traf in die Luft mit furchtbaren Schlägen. Die Bestie umkreiste ihn, zischte vor Wut und überschäumte ihn in mit Flocken weißen Geifers. Sie verbiß sich an seiner Hüfte und schnellte sich um seine Beine wie die scharfe Sichelschnur der Peitsche. Sie griff ihn von hinten an und wich blitzend seinen zornigen Tritten aus, daß er sich vergeblich auf einem Bein wild um sich drehte. Er marschierte wuchtig gegen das Tier vor, den Stock gesenkt wie eine gefällte Lanze. Mit kreisenden Hieben gebrauchte er ihn wie eine Sense. Er schleuderte ihn wie einen Wurfspeer und er drosch zu wie mit Keulen. Seine Hände bluteten und sein Rock hing in Fetzen. Der Hund saß drohend in einer Ecke und schwoll mächtig an. Er sauste wie ein Pfeil gegen ihn und blies ihm den häßlichen Atem ins Gesicht. Er wich zurück und duckte sich zum Sprung. Der Greis holte aus mit einer Bewegung, als müsse er den Erdball zu Trümmern splittern. Die Wucht des Schlages riß ihn mit und er krachte zu Boden, aufschmetternd mit der Stirn. Er blieb steif liegen. Aus seiner Nase rann dünn hellrotes Blut, das der Hund aufleckte.

Hiob

Der dreckige alte Jude wühlte sich tiefer ins Stroh, das faulte und stank. Ein spitzer Halm bohrte sich zwischen Nagel und Fleisch der Zehe. Er stöhnte und mit den rissigen Händen erlöste er sich. Sein uraltes Gesicht war von langen Falten durchgraben. Er hob den Blick, schickte ihn über Hütte und den dürren Strauch zum hitzigblauen Himmel und begann tief zu schluchzen. Er spritzte seinen Jammer wie eine Fontäne trüben Wassers empor und ließ die Brühe rückplätschern über sich. Seine Augäpfel rollten, rund und bestürzt. Wieder ließ er vorbeidefilieren den wackelnden Trauermarsch, die langen Kolonnen von Mißgeschick, Leid, Unglück, Gemeinheit und Niederträchtigkeiten, die ihm geschehen waren. Er wußte die Reihenfolge und hielt sie genau ein. Er begann zu brüllen, als ihm das schlimmste nochmals geschah, ruderte mit den Armen und sank in Apathie zusammen. Das mistige Stroh stank. Sein Unglück betäubte ihn und er war jetzt wieder in dem Zustand, wo er in einem dämmernden Wohlgefallen an seinen Schmerzen litt. Der Wind knisterte im dornichten Strauch und der Weg über die sandige Höhe lief schnell und brennend ins Jenseitstal, aus dem der Rauch noch stieg. Hiob schlief ein. Sein Unterkiefer klappte auf und zerlöcherte Zähne klafften. Die Sonne, die wie ein gelbes Rad im Blauen wirbelte, stach ihn wieder wach. Nun fiel das Leid wuchtig auf ihn und ungeheuer klagte er. Der blaue Himmel war nur, ihm die Augen zu blenden, der Strauch trug keine Blüten, ihn zu höhnen und der Weg lief vor ihm davon und ließ ihn zurück auf dem Stroh, das ihn kichernd kitzelte. Er kratzte sich und zerrieb die Schwären, die er sich abriß, zwischen den Fingern zu einem braunen Staub und roch daran und erbrach fast vor Ekel. Er schloß die Augen und verstopfte sich die Ohren, nichts zu hören, nichts zu sehen, aber der Schmerz drang durch die Wunden seines Leibes ihm ins Blut und in schleppenden Gesängen tat er ihm genüge. Als er die Augen wieder öffnete, sah er am Hügelrand eine Staubwolke fliegen. Aus der Wolke brachen blitzend Pferdehufe. Die kleine Schar kam prasselnd näher. Die Männer trugen purpurne Kleider, ihre Bärte waren schwarz und niederhängend über die roten Lippen. Es schlugen Schwerter an ihre Sättel. Sie waren sieben und ihr Anführer jung, fast ein Knabe. Hiob ging schon wieder über die blauen Ebenen seines Schmerzes. Sein Gesicht war verzerrt in Qualen und sein Klagegesang wilder geworden, und aufrührerisch und wieder schrecklich demütig. Die Stimme zwang ihn aufzuhorchen. Sie fragte lachend: Was plärrst du, altes Scheusal? Er sah ihn gereizt an. Er schob die Lumpen auf seiner Brust auseinander, daß er die Pestlöcher sähe. Er tats, wie Achtung heischend. Er stöberte im Stroh, daß jenem der Gestank in die Nase fuhr. Er tats, wie Respekt fordernd. Die Männer kreischten fröhlich entsetzt, fuhren mit den Nasen zum Himmel vor dem Duft und sahen lachend wieder auf den Alten. Da trat aus der Hüttentür das Mädchen. Der Fremde grüßte. Das Mädchen kniete bei Hiob nieder. Der Alte fing wieder wüst zu schreien an. Er wiegte sich in den Hüften und gurgelte seinen Schmerz hervor. Du bist seine Tochter? Über das Gegröhl Hiobs stieg ihr Wort süß: ja. Und sie fuhr mit den Fingern in sein verlaustes Haar und tötete die widerlichen Tiere. Über Hiob war ein neuer Anfall gekommen. Der schüttelte seinen Körper und bebte in seinen Armen und er schäumte und heulte erbärmlich. Der Fremde sagte: Laß den Alten! Er machte den Steigbügel frei mit dem einen Fuß und neigte sich zu ihr. Das Mädchen trat mit einem kurzen Schritt zu ihm. Hiob sah auf. Es sprudelte in ihm hoch von vielen, sich überstürzenden Worten, sie zu bitten zu bleiben. Aber dann war in ihm die Verlockung des Glücks, zur letzten Grenze des Leids vorzustoßen. Er ließ die Arme sinken, die er ausgestreckt hatte. Er verschluckte jedes Wort und starrte mit rinnenden Augen vor sich hin. Das Mädchen setzte den Fuß in den Bügel. Der Fremde riß sie hoch und vor sich auf den Pferdehals. Es stieg schauerlich auf in Hiob. Er preßte die Lippen aufeinander zu schweigen. Er tastete mit den Händen im Stroh. Dann schleuderte es ihm die Zähne auseinander und ein tobendes Klagen schmetterte er hinaus, großartig und lächerlich. Beim Wegreiten lenkte einer sein Pferd dicht an dem Alten vorbei, schlug ihm mit der Peitsche scharf über das zerfressene Gesicht, und der Sand, der unter den Hufen wegstäubte, klatschte ihm in die Augen. Ein prasselndes Lachen fetzte in seine Dunkelheit, steil stieg darüber das silberne des Mädchens in den hitzigblauen Himmel.

Die schöne Handschuhverkäuferin

Die Frau, von der hier die Rede sein wird, die Frau, deren Augen kastanienrund waren, ein wenig tiefliegend und braun, braun wie ihr Haar, wie ihr dickes und üppiges und langes Haar, diese Frau trug den Namen Lina
Esprester und war dreiundzwanzig Jahre alt, als sie zu dem Herrn des Hauses ging, zu dem Herrn des versteckten Hauses unten am Strom, und ihm ihre Dienste anbot. Ohne Befangenheit, und selber erstaunt, daß sie nicht befangen war, löste sie die Haken ihres Kleides, stand wie Eva einst da und sah ihr Bild in vielen Spiegeln, in trüben und glänzenden und goldgerahmten Spiegeln aufgefangen. Weil sie gefiel, und sie gefiel genügend und mehr als genügend, wurde sie in die Schar der Mädchen aufgenommen.

Die Tage, die vielen, vielen Tage, die nun kamen, verschlief sie, erhob sich erst am späten Nachmittag, und im Zimmer mit den roten Plüschmöbeln verbrachte sie die Abende. Das goldfarbene Kleid ließ ihre wirklich schön geformten Schultern frei, und wenn sie sich mit den schmalen Händen das hochgesteckte Haar zurechtschob, denn die Frauen jener Tage trugen das Haar noch nicht wie Knaben kurz geschnitten, flammte verführerisch der Flaum ihrer Achselhöhlen.

Mit Alma und den andern Mädchen kam sie gut aus. Wenn es Sekt gab, trank sie mäßig und sparte mit den Zigaretten. Mit kleiner Stimme sang sie Lieder zur Laute, schlichte und ein wenig rührselige Lieder, aber auch freche sang sie, sogar abscheuliche, wenn man es verlangte. Die schlimmen Worte sprangen von ihren Lippen, und sie lächelte kindlich.

Wenn ein Gast mit ihr nach oben zu gehen wünschte, schritt sie ihm rasch voraus. Der erste Kunde, mit dem sie den Gang antrat, war ein ruhiger Herr mit grauen Schläfenhaaren, der nicht sehr erstaunt war, als sie zwar seinen Zwanzigmarkschein mit gelassener Hand in ihr schwarzes Ledertäschchen senkte, aber ihn dann mit leiser Stimme bat, nichts zu fordern, was ihre Ehre verletzen würde. Er blieb eine halbe Stunde bei ihr, plauderte von diesem und jenem und ging wieder voll Freundlichkeit.

Der Arbeiter dann, dessen zerknitterter Schein in ihr Täschchen wanderte, brauste zuerst auf und sprach von Betrug, als sie sich ihm verweigerte. Auch ihn entwaffnete ihre Sanftmut, und er verließ sie mit dem Gefühl, an einer Ungehörigkeit verhindert worden zu sein.

So gelang es ihr mit allen. Von jedem nahm sie Geld, und keinem gewährte sie mehr als den Glanz ihrer kastanienrunden, ein wenig, ein winziges wenig tiefliegenden Augen und ein Streicheln mit leichter Hand. Nun darf man nicht sagen, daß es sonderbar um das Haus am Strom bestellt gewesen sein muß, daß der Besitzer und Herr nichts von dem seltsamen Tun Linas erfuhr. Was heißt das auch? Er bekam sein Geld, er bekam das Vereinbarte, und solange er das bekam, das Vereinbarte, kümmerte ihn anderes nicht.

Zwar, es war verwunderlich, daß die Männer sich fügten, ohne Lärm zu schlagen. Aber es war so. Und wenn sie wiederkamen, wandten sie sich freilich an andre Mädchen, aber nie verrieten sie mit einem Ton, wie es ihnen mit ihr ergangen war.

Klingt das wie eine Legende? Ist das so wie im Märchen? Aber Männer können gut sein, können anständig sein – und hier, in dieser Geschichte, waren sie gut, waren sie anständig, und wahrscheinlich billigten sie das Verhalten Linas, wahrscheinlich mißbilligten sie ihr, der Männer, eigenes Tun in dem versteckten Haus am Strom, und wahrscheinlich auch fanden sie, daß Linas Handlungsweise die beste, die gebührende Antwort war auf ihre, der Männer, schmähliche Zumutung – kurz, wie dem auch sei, es ließe sich darüber noch viel sagen, sie schwiegen unverbrüchlich.

Immer an den Samstagabenden erschien ein schwarzer, kleiner Herr, mit dem sie die Nacht verbrachte. Es war ihr Bräutigam, ein Buchdruckergehilfe, der sich mit dem Plan trug, einen Papierladen zu eröffnen. Die dazu notwendige kleine Summe rasch zu beschaffen, war Lina in das Haus eingetreten. Er glaubte ihr, daß sie sich nichts vergab, und seine Neigung half ihr, die Unannehmlichkeiten ihrer ungewöhnlichen Lage mit Anstand zu ertragen.

Einmal kam ein junger Mensch aus guter Familie, kaum siebzehn Jahre alt, ein Schüler noch, wie sich zeigte, der vor Begierde zitterte wie der Pfeil vor dem Flug. Seine Teilnahme galt unverkennbar Linas schönen Schultern. Sie gingen nach oben, Lina voran, und sie fühlte, wie sein Wille an ihren Kleidern riß. Er legte das Geld auf den Tisch, und seine heißen Augen brannten ihr Löcher in das Fleisch. Sie begann das alte Spiel und bat ihn, sie zu schonen. Die Qual des ungelöschten Verlangens warf ihn zu Boden. Er drückte das Gesicht fest gegen den Teppich, fest, als könne er es dort wie in Sand einwühlen. Ihre tröstenden Worte erreichten ihn nicht. Da zog sie sich aus und nahm ihn mütterlich an die Brust. Seine wilden Tränen näßten ihren Leib, der ihn schmerzte und beglückte. Aber sie gab sich ihm nicht, obwohl das Mitleid sie weich und unsicher gemacht hatte.

Als er gegangen war, überkam zum erstenmal und mit zwingender Heftigkeit sie das Gefühl des Unrechts, des vielfach und vorsätzlich zugefügten Unrechts, das sie an jedem Tage neu beging. Sogar zu denken wagte sie, aber sie vertrieb den Gedanken schleunig wieder, daß es, von einer anderen Seite her betrachtet, und daß jedes Ding zwei Seiten hat, sie wußte es lange, daß von dieser anderen Seite her betrachtet, daß es da menschlicher, edler schlechthin, daß es ehrlicher gewesen wäre, sich den Männern nicht zu entziehen, wenn sie schon das Geld dieser Männer nahm.

Nun, sie würde nicht mehr lange im Hause bleiben. Die Summe, die zu ersparen sie sich vorgenommen hatte, war voll. Sie würde heiraten, ihren Buchdrucker heiraten, den Papierhandel beginnen, in einer anderen Stadt, versteht sich, und in einer glücklichen Ehe bald alle Abscheulichkeiten vergessen, denen sie so lange ausgesetzt gewesen war.

Ich weiß wohl, daß das bisher Erzählte sehr unwahrscheinlich klingt. Fast wie eine Legende, fast wie im Märchen. Zu meiner Entschuldigung könnte ich anführen, daß wir es hier ja auch nur mit einer erfundenen Geschichte zu tun haben, mit einer durchaus und ganz und gar erfundenen Geschichte. Auch ich glaube nicht, daß es eine Frau gegeben hat, die aus freiem Entschluß so handelte und die Stärke hatte, so zu handeln. Auch ich glaube nicht, daß es je so eine Frau geben wird. Aber es ist angenehm, es sich vorzustellen.

Sie machten ihren Papierladen auf, Lina und ihr schwarzhaariger Buchdrucker, und hatten Glück mit ihm. Das Geschäft ging gut, und alles wäre in schönster Ordnung gewesen, wenn Lina nicht nach einiger Zeit hätte merken müssen, daß ihr Mann ein sonderbares Benehmen ihr gegenüber zur Schau trug. War er anfangs die liebevollste Zärtlichkeit selbst, wurde er bald scheu, wortkarg, ja mürrisch, geriet in Wut, wenn sie ein falsches Wort sagte, und schüttete auf den weißen Fleck einer freundlichen Stunde, die immer seltner kam, gleich wieder die Tinte seiner galligen Laune. Er quälte sie wegen jeder Kleinigkeit, mißtraute jedem ihrer Schritte und war ein zorniger Kläger, wenn ihre Unschuld klar zutage lag. Lina, die keine Ursache finden konnte für das Verhalten ihres Mannes, weinte lange Stunden und war sanftmütiger nur immer bemüht, ihn zu versöhnen, je unschuldiger sie sich fühlte. Bis sie erkannte, daß Eifersucht ihren Mann zermarterte, wilde und schreckliche Eifersucht, die durch nichts zu erlösen war, weil sie aus Vergangenem Nahrung und Triebkraft sich holte. Das halbe Jahr, das sie in jenem Haus zugebracht hatte, jeder Tag und jede Stunde dieses halben Jahres lag für ihn hinter Schleiern, die Fürchterliches verhüllten. Seine Verblendung ließ ihn Bilder sehen, die ihm die Augäpfel aus den Höhlen trieben. Er raste, wenn er an Umarmungen dachte, die ihn schändeten, an ein Lächeln ihres Mundes, das ihn zum Narren machte. Er rieb sich auf, er warf sich gegen Steinwände und zerbrach sich die Knochen. Er konnte nicht mehr Herr über sich werden. Er sah nur mehr höhnische Masken und konnte kein Gesicht darunter erkennen. Das Gift, das er sich, unbedacht und nachgiebig, selbst eingeflößt hatte, zerfraß ihn. Der Teufel ließ ihn nicht mehr los. Der Kampf war ungleich, und er mußte unterliegen.

Als er sie schlug und wieder schlug und das böse Wort »Hure« sagte, verließ sie ihn. Sie zerbrach nicht. Sie war wohl von der Art, die nicht hart genug ist, um zerbrochen werden zu können, die sich nur bückt und beugt und duldet. Der Gedanke ging ihr durch den Sinn, wie früher schon einmal, das Opfer jenes halben Jahres sei vergeblich gewesen, weil sie sich nicht selbst dargebracht hatte. Aber sie hätte sich ja gar nicht selber darbringen können, ihre Wesensart hätte das nicht erlaubt (das hätte ja alles nur noch schlimmer gemacht!), und so hatte sie andre gezwungen, zu opfern, für sie zu opfern, und nun stellte sich heraus, daß auch das keine guten Folgen hatte. So grübelte sie und sah den jungen Menschen wieder verkrampft am Boden liegen. So dachte sie, und es war so richtig gedacht, als es falsch gedacht war. Denn die Männer damals im versteckten Haus am Donauufer hatten ihr ja nichts übelgenommen. Aber hatte sie darum weniger unrecht getan? Wieder lag der junge Mensch wie ein Fisch zuckend auf dem Teppich. Der vielleicht, der hatte es übelgenommen. So grübelte sie, aber nur kurz, lange über etwas nachzugrübeln, war sie nicht geschaffen. Und was auch, sie mußte leben, essen und trinken und schlafen und also Arbeit suchen, um leben zu können, um essen und trinken und schlafen zu können, und so suchte sie Arbeit und fand eine Anstellung in der Handschuhabteilung eines Warenhauses der Landeshauptstadt.

Und als einmal, ein halbes Jahr nach ihrer Flucht, an einem braunen Septembernachmittag vor ihrem Verkaufspult eben der junge Mann stand, an dem sie damals im Haus am Strom nicht wie eine Bajadere, sondern wie eine blasse Nonne getan hatte – nun trug er eine Studentenmütze schlug sie ihm ein Stelldichein nicht ab.

Sie ging auch zu dem Stelldichein, an einem Sonntagvormittag, und trug ein helles Kleid, ein hellvergißmeinnichtblaues Kleid, das zu bügeln und
glatt und straffrauschend zu machen sie den ganzen Samstagabend verwandt hatte. Und als sie am Sonntagabend ihr kleines Zimmer wieder betrat und einen Tag hinter sich hatte, voll Sonne, mildheißer Septembersonne, und voll von Geruch von Heidekraut und Fichtenharz, und sich im Spiegel besah, und sah, daß das helle Kleid, das hellvergißmeinnichtblaue Kleid, das glatt zu bügeln sie den ganzen Samstagabend verwandt hatte, verdrückt war, verfältelt, verrunzelt und waldmüde an ihr hing, da lächelte sie nur leise, ganz leise und ging schlafen. Sie sah ihn dann, den Studenten, noch öfter und sah ihn noch oft und lehnte den braunäugigen, braunhaarigen Kopf, den Kopf einer nun Fünfundzwanzigjährigen, an seine Schulter, an die Schulter des nun Neunzehnjährigen und wurde seine Freundin und blieb ein halbes Jahr lang seine Freundin, seine zärtliche Winterfreundin.

Und als der Winter verging und das Frühjahr kam, mußte der Freund, dem Wunsch seiner Eltern sich fügend, nach Berlin übersiedeln. Sie blieb im Warenhaus und verkaufte weiterhin ihre Handschuhe, und später söhnte sie sich auch mit ihrem Mann wieder aus, der inzwischen das Papiergeschäft hatte aufgeben müssen, vielleicht weil sie ihm fehlte, vielleicht aus anderen Gründen, und nun wieder hinter einer Setzmaschine saß, hinter der Setzmaschine der hauptstädtischen Zeitung.

Sie lebten, ein gefrorenes Ehepaar, still zusammen. Ihre Stellung verließ Lina nicht mehr. Die Demut ihrer Bewegungen, der Glanz ihres braunen Haares (sie ließ es sich kurz schneiden, später, als das Sitte wurde) und der ruhige Blick ihrer kastanienrunden, ein wenig tiefliegenden Augen lockten viele Kunden an und in der ganzen Stadt war sie bekannt unter dem Namen der schönen Handschuhverkäuferin.

Hochwasser

In der Weihnachtswoche war überraschend Tauwetter eingefallen. Das grüne Wasser der Donau stieg, färbte sich lehmgelb, fast kaffeebraun dann, wallte in schwärzlichen Strudeln, stieg und stieg. Baumstämme trieben stromabwärts und Kähne, die sich von den Ketten gerissen hatten, in Wirbeln sich drehend. Verwüstetes, zerrauftes Strauchwerk kam geschwommen, in den Wurzelhaaren hingen verklebt noch Klumpen von Erde und weiß glänzende Kieselsteine, und auf einer Treibinsel von Binsenröhricht und verquollenem Schilfzeug hockte frierend, verwundert, wie er auf die sausende Wasserfahrt geraten war, ein großer Hase. Mit platschenden Händen schlug der Strom über die Ufer und warf Schlamm und Nässe in die Keller, und bald plätscherten durch die Gassen der kleinen Stadt Boote.

Ein Stück vor den Toren lagen nebeneinander zwei niedrige Häuser an der Donau. Jakob erwachte um die Morgendämmerung, fröstelnd im feuchten Leinenzeug, und als er sich im Bett aufsetzte in seinem Zimmer zur ebenen Erde, sah er Wasser am Fußboden sich spiegeln. Er sprang aus dem Bett, das Wasser umspülte ihm die Knöchel, trat vor das Lager seiner Frau, schüttelte sie wach und befahl der Erschrockenen, gleich zu ihren Eltern in die Stadt zu gehen. Er selbst wolle noch einige wichtige Papiere, Geld, Schmuck und dergleichen zu sich stecken, einen Teil der Möbel auf den Dachboden schaffen und ihr dann folgen, nicht bevor er Heinrich, den Nachbarn, auch von dem nassen Besuch verständigt haben werde. Die Frau ging, die Röcke geschürzt, vorsichtig watend, und Jakob sah ihr nach, bis sie im wehenden Nebel verschwunden war. Dann ging er durch den überschwemmten Garten, bis zum Knie reichte ihm jetzt schon das Wasser, zu seinem Boot, das an einem Pfosten hing, der nur mehr mit rundem Kopf aus der Flut ragte. Er setzte sich auf die Ruderbank, zündete sich eine Pfeife an und beobachtete gleichmütig das stetige Anschwellen des Flusses. In Heinrichs Haus regte sich nichts, ein stilles Rauschen nur tönte, weit und breit war nur Nebel und Wasserfläche, und wie Inseln dunkelten die beiden Häuser.

Als der Fluß bis zu den Fenstern des ersten Stocks von Heinrichs Haus gestiegen war, trieb Jakob sein Boot mit ein paar Ruderschlägen an die Wand heran und polterte gegen die Läden. Heinrich, der Langschläfer, immer schläft er so lang, der Weiberheld, fluchte Jakob, Heinrich, der Faule, Heinrich, der Schöne, sah aufgescheucht aus dem Fenster, sah Wasser, Wasser, gelb und schäumend, und sah Jakobs rettendes Boot und erschrak nicht allzusehr, Uferbewohner müssen auf dergleichen immer gefaßt sein, und gegen Schaden war er ja schließlich versichert, winkte und verschwand, zog sich rasch an und erschien wieder am Fenster und schrie Jakob zu: »Heran!« und schwang schon ein Bein über die Brüstung, einzusteigen bereit. Aber Jakob traf keine Anstalten, ihn aufzunehmen, sondern befestigte den Kahn an einem in der Nähe stehenden Baum, der mit dürren Ästen zum Himmel griff: Dann begann er mit verschränkten Armen auf Heinrich einzureden, er solle gestehen, daß er ihn mit Else, seiner Frau, betrogen habe. »Was?« schrie Heinrich, »was soll ich getan haben?« lachte Heinrich und funkelte mit seinen kleinen schwarzen Augen. Kein wahres Wort sei an dieser Beschuldigung, wie könne er nur, Jakob, solch leerem Gerede Glauben schenken? Ein Muster aller Tugenden sei sie, Else, seine Frau, die ihn mit keiner Silbe und keinem Blick je verraten habe, und, drängte er, »jetzt heran mit dem Boot und laß mich einsteigen, du eifersüchtiger Narr!« und »Hahaha!« lachte schallend und herzlich Heinrich, jetzt in der Falle.

Jakob lächelte nur, das eifrige Wasser stieg, schon sprangs durch die Fenster des ersten Stocks, daß Heinrich eine Stiege höher sich begeben mußte, wollte er sein Zwiegespräch mit Jakob fortsetzen, und das wollte er, wahrhaftig. Jakob schlang gerade die Bootskette jetzt um den Wipfel des Baums, der sich naßseufzend bog, als Heinrich im Fenster schon wieder lehnte und seine Beteuerungen wieder aufnahm, wie ganz und gar unverständlich es ihm sei, daß so ein teufelsgelber Verdacht gegen ihn habe entstehen können, gegen ihn, der nie auch nur einen unrechten Griff getan habe nach Frau Else. Er sprach fort, mit funkelnden Augen, und fuhr sich mit der Hand immer wieder aufgeregt durch das Haar, bis Jakob ihm mit schrecklicher Stimme zurief, er sei ja immer ein Lügner gewesen, aber er möge doch wenigstens jetzt, im Angesicht des Todes, die Wahrheit sagen! Er, der Ehemann, werde hier im Boot warten, bis er ersoffen sei, wie er es nicht besser verdiene, und wenn er vielleicht glaube, der Ehebrecher, er könne es mit dem Davonschwimmen versuchen, nun, er habe hier ein kräftiges Ruder, er hob es und zeigte es, und mit dem werde er ihm dann eins über den Kopf geben, den er beim Schwimmen doch wohl über Wasser werde halten müssen.

Der Nebel war noch dichter geworden, wogte schwadig, die Stadt, die nahe war mit vielen Häusern und Türmen, war nicht zu sehen, und der gelbe Strom wälzte sich brummend und Unverständliches sprechend. Wenn das Wasser mit der gleichen Schnelligkeit weiterstieg, mußte es auch bald den zweiten Stock des Hauses erreicht haben, und einen dritten hatte es nicht, da kam schon das Dach. Heinrich, der Schöne, der Bedrängte nun, redete immer weiter, und es sei ja wahr, sagte er, daß er Else mit freundlichen Augen angesehen habe, und einmal, sagte er, habe er ihr verstohlen, und wie bedaure er das jetzt, einmal habe er ihr sogar einen Kuß gegeben, das wolle er nicht leugnen, keineswegs. Aber, versuchte er zu scherzen, das sei doch kein so großes Verbrechen, und eine schwache Stunde habe eben jeder einmal, und das dürfe Jakob doch nicht so gewaltig krumm nehmen, und er solle ihn doch jetzt ins Boot nehmen, um Gottes willen oder in Dreiteufelsnamen, und ihn in die Stadt rudern, gleich und sofort!

Jakob verharrte nur in seinem schrecklichen Lächeln. »Verflucht! verflucht!« schrie Heinrich und schlug mit der Faust aufs Fensterbrett und spuckte in das Wasser, und also, wenn er es schon wissen müsse, nun gut, ja, einmal, aber nur ein einzigesmal, ein allereinzigesmal habe er ihn mit Else betrogen. Die Weiber, das sei ihm doch auch bekannt, die seien nun schon einmal lüstern nach fremdem Männerfleisch, und Weiber seien wie Kinder, sagte er, die von allem haben müßten, das sei nun einmal schon so, das dürfe man so ernst nicht nehmen, aber natürlich, gab er zu, er, Heinrich, der doch immer schon Jakobs Freund gewesen sei, sein guter Freund, er hätte freilich besonnener und standhafter sein sollen, und er schäme sich, das jetzt sagen zu müssen.

Jakob hatte die Beichte mit Ruhe aufgenommen, das Lächeln verschwand nicht aus seinem Gesicht und er spielte mit den Rudern und schaukelte im Boot und sagte nichts, und sagte gar nichts, und das bewog Heinrich, fortzufahren in seinem Geständnis und es gerade heraus zu sagen, daß es öfter als einmal gewesen sei, die Versuchung halt, sagte er, wie das schon sei, aber so oft, wie Jakob sich das denke, so oft seis wahrhaftig nicht gewesen.

Jakob war aufgestanden im schwankenden Boot, wie der Richter aufsteht, wenn er den Urteilsspruch fällt, und im kalten Richterton sagte er dem Heinrich, daß er jetzt sterben müsse, und er solle jede Hoffnung aufgeben, und bald sei das Wasser so weit, und er wolle bleiben und zusehen. Und er setzte sich wieder, beachtete den Verurteilten nicht mehr, sah irgendwo hin in die Weite, sah zu, wie die Wellen sich gegen die Bootspitze warfen, wie die Spitze sich hob und senkte, wieder und wieder, und hörte gar nicht mehr auf den Tobenden am Fenster, als habe er ihn längst vergessen.

Bis der plötzlich verstummte, und die Stille Jakob zwang, zu dem Mann am Fenster aufzusehen, und da waren die beiden stummen Männer lang Auge in Auge, und Heinrich las wohl im Blick seines Richters, daß das Urteil nicht anzufechten sei, und trat vom Fenster zurück, ins Haus zurück, verschwand im Haus.

Es verging wohl eine Viertelstunde, und es war Jakob, als ob das schweigende Haus unter dem
Ansturm des Wassers erbebe. Da erschien Heinrich wieder am Fenster. Er trug die Uniform des Infanterieregiments, in dem er gedient, in dem er den Krieg mitgemacht hatte, nicht den grauen Feldrock, die helle, blaue bayerische Friedensinfanterieuniform trug er, hatte den Helm mit der gelb blinkenden Spitze auf dem Kopf, und auf der Brust schaukelten seine Kriegsauszeichnungen: das bayerische Militärverdienstkreuz und das preußische eiserne Kreuz. Die schwankten, klirrten leise, hingen dann stumm. Den Säbel, er war Vizefeldwebel gewesen, hatte er umgeschnallt, und er legte die beiden Hände auf den Degenknauf und ohne ein Wort zu sprechen und ohne Jakob auch nur eines Blickes zu würdigen, stand er wie ein Standbild im Fensterrahmen und seine Miene drückte aus, er wolle den unvermeidlichen Tod als Soldat und brav und ohne Furcht und Zittern erwarten.

Jakob sah ihn bestürzt an. Der kriegerische Mann am Fenster rührte sich nicht. Gewaltig floß die Donau. Ein leichter Wind hatte sich erhoben, blies in den Nebel, daß sich lange schleierige Gassen auftaten, durch die ein milchiges Licht rann. Da löste Jakob wie unter einem Zwang, und er wußte nicht, sollte er weinend fluchen, sollte er bewundernd lachen, und die Brust schmerzte ihn, bedrängt von Scham und Wut, da löste Jakob mit zitternden Händen die Kette vom Baum und trieb das Boot zum Fenster.

Der blaue Soldat riß sich stramm zusammen, legte die Hand an den Helm, stand kurz so, dankend, stieg ein dann und setzte sich auf die Bank am Bootsende, wie ein Ehrengast, wie ein vornehmer Herr, und ein wenig Sonne, die gekommen war jetzt, blitzte auf den Goldtressen und dem kriegerischen Helmmetall, und Jakob ruderte eilig und still über die gelbschäumende Wasserfläche zur Stadt, die mit vielen Häusern und Türmen und dem großen Dom im plötzlich erwachten Lichtblau sich aufbaute.

Lästerliche Tat

In der Stadt an der Donau steht ein großer gotischer Dom, mit zwei Türmen, grauen Steintürmen, von den Domdohlen umlärmt. Im Juli, im August, an heißen Tagen, wenn der Himmel wolkenlos blau ist, und das war er oft, damals, in unserer Knabenzeit, so scheints mir heut, so war er im Sommer fast immer, gabs nichts Hitzigeres als den Domplatz. Von den Pflastersteinen stieg kochende graue Luft empor, und der Dom mit seinen beiden Türmen blendete so sehr, daß man zu den Dohlen, die oben die Kreuzblumen mit Geschrei umflogen, nicht hinaufzuschauen wagte, weil es den Augen zu wehe tat. Man brauchte auch nicht hinaufzuschauen, die Dohlen waren da, man hörte ihre unruhigen Rufe. Wir saßen auf den Steinstufen des Doms, die brannten uns fast Löcher in die Hosen, und wenn uns die Hitze zu arg wurde, flüchteten wir ins dunkle Dominnere, da war es kalt, zum Schaudern, die dunkelbraunen, fast schwarzen Holzbänke glänzten matt, durch die farbigen Fenster fiel buntes Licht, es war fast unheimlich, und da gingen wir schnell wieder auf den sonnenklirrenden Platz hinaus.

Unsere Knabenspiele trieben wir am Dom, Räuber und Gendarmen vor allem. Da gab es viele Ecken und Winkel, sich zu verstecken, Erker und Bogengänge, Türnischen und Pfeilerschatten. Einmal stürzte einer von uns ab, der verfolgt wurde, weil er Räuber war, und der den Gendarm schon dicht hinter sich hörte, stürzte von dem Steingang ab, der überdacht rund um den Dom läuft, stürzte drei Meter tief. Ich höre noch, wie er unten aufschlug auf dem Pflaster; zuerst der schwere Fall des Körpers, dumpf, und etwas später ein hellerer, hohler Ton. Ohne hinzusehen wußte ich: das war der Kopf! Der Räuber blieb bewußtlos liegen, der verfolgende Gendarm rannte davon, wohl schuldbewußt, obwohl er doch unschuldig war. Ich blieb, noch ein paar von uns blieben, der Abgestürzte rührte sich nicht, Blut war nicht zu sehen, kein Blut. Erwachsene kamen dazu, schimpften, wir sagten nichts. Ein Herr rief eine Pferdedroschke heran, und weil ich wußte, wo der Verunglückte wohnte, wurde ich zu dem immer noch Bewußtlosen in den Wagen gesetzt, und wir fuhren los. Ich saß zum erstenmal in meinem Leben, ich war sechs Jahre alt, in einem Fuhrwerk. Es war dunkel in der Droschke, es roch merkwürdig darin, nach Pferdedecken und Leder, es schaukelte, und ich fuhr stolz dahin. Ich kam mir wie ausgezeichnet vor, erhöht, belohnt, vom Schicksal ausgewählt. Der Abgestürzte lag bleich auf dem abgeschabten Lederpolster, der Wagen wackelte, wir wackelten mit, ich und der Ohnmächtige. Ich sah ihn nur hin und wieder an. Meist sah ich durch das Fenster auf die Straßen, wo die Leute vorbeigingen, von denen ich nur die Köpfe und die Oberkörper sah, und ich machte ein stolzes Gesicht, wenn man mich ansah, denn wenn man in einer Droschke sitzt, in einer Pferdedroschke, muß man stolz und würdig schauen, dachte ich, und so tat ichs. Die bekannten Straßen kamen mir so verändert vor, als führe ich durch eine fremde, reiche, menschenwimmelnde Stadt. Hier in der Droschke war es so ruhig und still, der Abgestürzte atmete kaum, und draußen regte es sich wie in einem Ameisenhaufen. Die Fahrt dauerte lange. Endlich hielt der Wagen, ich konnte die Tür nicht öffnen, der Kutscher tat es. »Er wohnt im zweiten Stock«, sagte ich, »der Abgestürzte«, und der Kutscher ging ins Haus, um die Unglücksbotschaft zu überbringen, und hieß mich, bei dem bleichen Bewußtlosen zu bleiben. Aber kaum war er im Haus verschwunden, lief ich schnell davon, lief heim, es war nachmittags um vier Uhr, und erzählte daheim nichts von dem Vorfall, blieb den Rest des Tages still auf meinem Platz. Wie war meine Mutter erstaunt über ihren willigen und ruhigen Sohn, der sanfte Spiele spielte und sich nicht rührte und der sich möglichst unauffällig zu machen suchte, wie nicht vorhanden.

Der Sturz war übrigens harmlos, erfuhr ich am andern Tag, und davon wollte ich ja auch gar nicht erzählen, sondern von einem späteren Abenteuer, das ich am Dom erlebte, als ich schon fünfzehnjährig war, fast junge Herren waren wir schon, mit Stehkragen und Bügelfalten in den Hosen.

Es war Ende Juli, ein heißer Tag folgte dem andern. Die Donau fiel täglich, ihr Wasser war hellgrün, nackte weiße Steine traten am Ufer aus der Flut. Ich hatte einen Freund, mit dem ich viel zusammen war. Er wollte Arzt werden, ist es dann später auch geworden, und er hatte damals eine heftige und wißbegierige Liebe für Gifte: wir wollten zusammen ein Buch über Gifte herausgeben, er sollte den wissenschaftlichen Teil bearbeiten, ich sollte dem Buch den nötigen Schliff des Stils geben. Das Buch ist natürlich nie geschrieben worden, aber wir berieten schon, wie der Einband auszusehen habe, rot, das war klar, fliegenpilzrot, und die Schrift darauf mit grünen Lettern, mit grasgrünen, giftgrünen. Wir sahen viel Brodelndes, Gärendes, Schlammiges in uns, wenn wir in uns hineinsahen, und der Umgang mit Giften schien uns kühn und verbrecherisch schön zu sein, und wenn wir auch wirkliche, todbringende Gifte uns nicht zu verschaffen wußten, Wein kaum kannten, kaum Tabak, so nahmen wir seelisches Gift, täglich, eine Zeitlang, eine Art Rauschgift war es, das uns unerhörte Spannungen und Aufregungen gab und tiefe Erschöpfungen.

Hinterm großen Dom ist ein grüner Domgarten, der im Schatten hoher Bäume liegt. Hier steht die kleine Domkapelle, uralt, und der dunkle Eingang düstert unheimlich. Vor dem Goldaltar brennt das ewige Licht, schwimmt in einer mit Öl gefüllten Glasschale ein winziger Docht. Rötlich schimmert das Lichtlein, den Frommen auffordernd zur immerwährenden Anbetung.

Da schlichen wir nun, wir zwei Fünfzehnjährigen, über den Domplatz, bogen in den grünen Domgarten, traten durch das Steinportal in die Kapelle. Kühl schauerte es hier, Gold glänzte ungewiß. Heilige standen steif und steinern, und der rötliche Glanz des ewigen Lämpchens flimmerte. Minutenlang standen wir unbeweglich, nachdem wir das Knie gebeugt hatten und das Kreuz geschlagen, wie es sich für fromme Beter ziemt.

Ich wußte, heute mußte ich es tun. Ich zitterte, ging nahe an das Lämpchen heran, der Docht schwankte vor meinen Augen auf und ab, elfenbeinfarben, wie ein Schiff in einem rötlichen, seltsamen Meer. Ich hielt den Atem an, stieß ihn aus und blies das Licht aus. Langsamen Schrittes, unauffällig, ganz unauffällig, verließen wir die Kapelle, waren im Domgarten, gingen langsam, aber am liebsten wären wir wild gerannt, gingen langsam an der langen, grauen Mauer entlang, sahen allen uns Begegnenden fest und unschuldig in die Augen, verließen den Garten, bogen in eine Quergasse und wieder in eine und schlugen einen Haken und noch einen, daß kein Schutzmann und kein Polizeihund unsere Fährte hätte verfolgen können.

Wir saßen auf den Bänken der Anlagen, erschöpft von dem Abenteuer. Wenn man uns erwischte! Man hätte uns von der Schule verwiesen, vielleicht wären wir sogar ins Gefängnis gekommen, vielleicht sogar ins Zuchthaus, Gotteslästerung, murmelten wir mit bleichen Lippen. Wir dachten an unsern dicken, gutmütigen Religionslehrer, wie große Verbrecher fühlten wir uns, und das gab uns eine Haltung, die uns unterschied von unsern Schulkameraden. Und dann fingen wir von dem Giftbuch an zu reden, das wir schreiben wollten, von wilden und gefährlichen Giften, von schnell wirkenden und von schleichenden, von Pfeilgiften und von Giftschlangen.

Und morgen nachmittag kam dann Hans daran, das ewige Licht kirchenschänderisch zu löschen, das jedesmal, wenn wir wiederkamen, still und rötlich brannte, von dem unermüdlichen Mesner immer wieder neu entzündet.

Eine Woche lang trieben wir es so. Jeden Tag wurde die Tat gefährlicher, unsere Spannung größer, denn es war damit zu rechnen, daß man versuchen würde, die Übeltäter zu erwischen, daß man Beobachtungsposten aufstellte.

Manchmal, wenn wir die Kapelle betraten, kniete schon jemand vor dem Lämpchen. Dann standen wir schweigend
daneben, beteten scheinbar und gingen wieder, um nach einer Stunde wieder zu kommen und um dann, wenn die Kapelle still und fromm dämmerte, unsere schlimme Tat zu tun.

Es nahm dann ein Ende. Wir waren nachmittags gegen zwei Uhr gekommen. Wir schlugen das Kreuz und knieten, und heute traf es mich, das Verbrechen auszuführen. Es war dunkel in der Kapelle, man sah anfangs nicht viel, wenn man aus der Sonne in das Steindämmernde trat, wir knieten, und da stand ich auf, trat schon einen Schritt auf das Lämpchen zu, sah nach rechts und sah, daß dort ein Mann im Schatten stand und mit großen schwarzen Augen mich fest ansah. Ich erstarrte. Das war der Wächter, der Aufpasser, der Lauerer. Ich glitt schnell in die knieende Stellung zurück. Hans hatte jetzt den Mann auch gesehen. Wir rührten uns nicht, ich fühlte den starren Blick des Mannes in meinem Rücken. Nun war alles aus. Sofortige Entfernung von der Schule, Schande, Gefängnis, Schmach ohne Maßen, es war entsetzlich! Vor mir flimmerte das rote, gnädige Lichtlein. Da begann ich inbrünstig zu beten. Zu flehen, daß diesmal noch alles gut vorbeigehen möge, daß der Fremde kein Spion solle sein, daß er, wenn er einer sei, für diesmal noch möge Gnade für Recht ergehen lassen! Fordernd, stürmisch fordernd betete ich, alle Glaubenskraft holte ich aus mir heraus zum rettenden Gebet. Und das Lämpchen vor mir zuckte bald höhnisch: Nein!, bald brannte es still und tröstlich und sagte: Ja! Minutenlang war das so, es war wie ein Rausch, und da ging der fremde Mann, nachdem er das Kreuz geschlagen hatte.

Wir warteten noch eine Weile. Dann gingen wir zur Tür. Niemand war zu sehen. Es war irgendein Beter gewesen, kein Spion, ein Mann ohne jeden Argwohn, ein Frommer. Da glitt Hans noch einmal schnell ins Dunkle, löschte das Lämpchen noch einmal.

Aber das war das letzte Mal, daß wir es taten. Wir gingen an diesem Nachmittag über die steinerne Brücke, gingen donauaufwärts, bis das Weidendickicht begann. Hans, der sehr geschickt war, schnitzte sich eine Weidenflöte, wir lagen im Gras, über uns der blaue Himmel. Und dann begann Hans zu blasen auf seiner Flöte:

Schön ist die Jugend,
Sie kommt nicht mehr.
Sie kommt nicht mehr zurück . . .

Bis zum Abend lagen wir, und Hans blies immer wieder dieses Lied, und wir Fünfzehnjährigen waren traurig und spürten, daß wir einmal würden Greise sein, weißhaarig, knöchelschwach und von Erinnerungen angefüllt. Und wie das einst sein würde, alt sein, müd sein und auf seine Jugend zurückschauen, das nahmen wir uns jetzt schon vorweg, dieses Greisengefühl, dieses abendsüße – aber wie war das unterbaut von dem triumphierenden Wissen, daß wir noch jung, jung, o wie jung waren, fünfzehnjährig waren, während wir komödiantisch sangen und bliesen:

Drum sag ichs noch einmal
Und sag es tausendmal:
Schön ist die Jugend,
Sie kommt nicht mehr!

Das Ferkelgedicht

Im Jahre 1872, der Himmel war noch blauer damals, erzählte mein Onkel, und die Donau grüner als heut, und die jetzt dicke, alte Bäume sind, fett und narbig und knorrig, die bogen sich in jedem Wind, da begegnete man in den Straßen unserer Stadt oft einem kleinen, schwarzkinnbärtigen Herrn, und das war ein ehemaliger Unterfeldwebel des französischen Heeres, Rancourt mit Namen. Der war im Krieg gefangen genommen worden, in der Schlacht bei Sedan, so sprach man, und das Schicksal hatte ihn in die Donaustadt verschlagen, und er hatte gefunden, daß die Donaustadt eine schöne Stadt sei, und war geblieben auch nach Friedensschluß, und trug noch lange zu seinem bürgerlichen Rock die mohnroten Hosen des Soldaten. Ein gelbes, biegsames Stöckchen ließ er lustig kreisen, und stand an der steinernen Brücke und sah den Anglern zu, und sah zu, wie die selten, aber doch hin und wieder einmal, einen Silberfisch aus dem Wasser holten. Und wir Kinder, sagte mein Onkel, wir blickten nicht den Fisch an, ein Rotauge oder eine Brachse, die hatten wir oft gesehen, wir blickten verstohlen auf die roten Hosen des Herrn Rancourt, auf sein schmetterlinggelbes Wippstöckchen, und weil das alles, die flammenden Hosen und der Ziegenbart und das bewegliche Stäbchen im Wasser noch einmal sich darboten, so starrten wir voll heftiger Neugier auf die bunte Spiegelung, um den Mann selber nicht allzudreist mustern zu müssen. Und der Leiter der Bürgerschule der Stadt, in der man natürlich auch die französische Sprache lehrte, war der Meinung, daß die fremden, schweren Worte leichter auf die Zungenspitzen der Schüler zu bringen seien, wenn ein echter, unzweifelhafter, lebendiger Franzose das versuche – dieser Bürgerschulleiter also stellte an den Herrn Unterfeldwebel Rancourt das Ansinnen, einen Lehrposten für Französisch an der Anstalt zu übernehmen. Der Herr Rancourt willigte gerne ein, kehrte nicht mehr in sein Vaterland zurück, blieb bis an sein Lebensende, und ging eifrig und auf ein wenig gebogenen Beinen durch die Krummgassen der Donaustadt, immer noch aber das senffarbene, das schmetterlingsfarbene Stöckchen wippend.

Das war damals, erzählte mein Onkel, als es noch schöner war zu leben, und als dort noch grüne Wiesen waren und eine Felsenkellerwirtschaft, wo heute das städtische Pfandhaus steht, damals, als das braune Bier so dick und honigklebrig war, daß, wer mit dem Ärmel am Verschütteten hängen blieb, einen Stofflappen opfern mußte, um wieder loszukommen. Da lachte mein Onkel, als er das erzählte, und sagte auch, daß der Mond, wenn er an Juniabenden über dem Dom emporstieg, so groß gewesen sei wie ein Wagenrad, zum Fürchten groß, und seiner Schätzung nach mindestens doppelt so groß als heute.

Da lachten wieder wir, und glaubten es nicht, und forderten ihn auf, heute, am Abend, zur Stunde des Mondaufgangs, mit uns vor die Stadt zu gehen und mit uns zu warten, bis die gelbe Scheibe aus der dampfenden Abendebene zwischen Hügelrücken und roten Kaminen sich emporarbeiten würde, und dann im Angesicht des glühpunschfarbigen Lichtträgers, ja, Aug in Aug mit ihm, seine Rede zu wiederholen.

Um wieder auf diesen Rancourt zu kommen, sagte aber mein Onkel, so hatte der säbelbeinige Mensch sich so bei uns eingewöhnt, daß es wahrhaft zum Staunen war. Er trank bald mehr Bier als irgendein Ortsansässiger und aß im Wirtshaus Kalbsbraten mit Kartoffelsalat und schwärmte für Leberknödel und Grießnockerln. Er lernte auch deutsch zu sprechen, aber er brauchte sehr lang dazu, und jahrelang radebrechte er es in der entsetzlichsten Weise.

Nun war damals jeden Mittwoch in der Wahlenstraße Spanferkelmarkt. Da kamen die Bauern und Bäuerinnen aus der Umgebung und brachten in Körben die quiekenden Tiere. Die waren meist rosafarben und wunderlieblich behaart, manche auch waren schwarz, und besonders schön ist es, wenn ein Ferkel um die Schultern herzförmig schwarz ist, während das Hinterteil bis zur Schwanzmitte gelbweißbeflaumt schimmert und die Schwanzspitze lustig und unerwartet wieder teufelsmäßig dunkel sich ringelt. Die Käufer packten das Tier bei einem Fuß und hoben es hoch, daß es laut aufschrie und den prallen, runden Leib hin und her warf, und mindestens fünfzehn hob man auf und beschaute sie, bis man sich zum Kauf von einem entschloß, so daß es an den Markttagen ziemlich laut herging in der Wahlenstraße. Es roch auch ganz besonders in der Straße und auch noch in den Nebenstraßen an diesen Mittwochvormittagen, gut eigentlich, so nach Stall und Stroh, und recht gesund.

Und damals, fuhr mein Onkel fort, als natürlich noch keine Straßenbahn durch die Stadt mit grellen Glocken läutete, nur Bauernschlitten an Wintertagen durchs Jakobstor klingelten, damals traf man oft Buben und Dienstmädchen, auch wohl den Hausvater selber, wie sie vom Bäcker kommend, schmale Bretter auf den Schultern trugen. Die waren von der Backofenhitze angeröstet, hatten schwärzliche Rillen davon, und auf die Bretter waren genagelt die gebratenen Ferkel. Sie lagen auf dem Bauch, wie spielend alle Viere von sich, und den schmalen, listigen, lustigen Kopf dicht auf das Holz geduckt und schwebten so hochgetragen strahlend dahin. Sieht man das heute noch? murrte mein Onkel. Aber dann lächelte er und erzählte weiter: Der Rancourt nun wollte natürlich auch einmal sein Spanferkel haben und fand sich also in der Wahlenstraße ein, ahmte die anderen Käufer nach, hob Ferkel nach Ferkel am Bein hoch, sah lachend auf die Quietschenden herab und ließ sie wieder in den Korb fallen, wo die Tiere, weiter schimpfend, sich ins Stroh zu den Kameraden schmiegten, tief und aufgeregt atmend. Schon das siebente oder achte gefiel ihm ausnehmend, er fragte, mehr mit den Händen als mit Worten, nach dem Preis, zahlte und nahm das Tier zärtlich auf die Arme, um es zum Metzger zu tragen. Es lag so rosig auf seinen Ärmeln, daß er der Versuchung nicht widerstand, es zu streicheln, aber das bekam ihm schlecht. Das Ferkel zappelte wütend, er stolperte, fiel, das Tier war frei und hell rufend raste es davon, Ringelschwanz hoch, schnell wie der Blitz, ohne sich umzusehen. Der Herr Rancourt lief hinterdrein, feurigen Auges, säbelbeinig, und das Ferkel war schon um die nächste Ecke. Der Franzose fluchte, fluchte alle gewalttätigen und abscheulichen Flüche seiner Soldatenzeit, bog um den Prellstein, war in der Seitengasse, aber das Ferkel war nicht mehr zu sehen. Quiekte es nicht fern zärtlich und lockend und höhnisch? Aber zu erblicken war es nicht, nur ein Dienstmädchen kam ihm entgegen. Er wollte es fragen, ob es dem Ausreißer nicht begegnet wäre, aber damals, 1872, da war er erst knapp über ein Jahr in der Stadt und konnte nur wenig Deutsch, und er war auch zu aufgeregt, um sich die Frage sauber zurechtzulegen, und so schrie er zappelnd, mit drehenden, malenden, erklärenden Handbewegungen ergänzend, was ihm an Worten fehlte, so trompetete er aufgeregt
der Dienstmagd etwas zu und das war so: »Fräulein, aben Sie nicht gesehen kleine Person, vorne oi, oi, hinten dirrididldi?«

Es steckte eine schöne und kräftige und sehr anschauliche und einprägsame Beschreibung des flüchtigen Rosatieres in den Worten, aber die Magd verstand sie trotzdem nicht gleich, die schwerfällige Person begriff erst später den Sinn, aber da hatte er das Ferkel schon wieder gefunden, das sich in einen Hausflur geflüchtet hatte.

Aber die Stadt, Gott, wie anspruchslos war sie damals, sie freute sich noch lange über die Sprachkünste des Ferkeljägers! Oh, wie er das Ringelschwänzchen, das ewig bewegliche, geschildert hatte, das lustige, das keck und naseweismutig wie ein fleischerner Lerchentriller war, das sang, ja, sang, wers zu hören verstand, überwältigend dummdreist und unverfroren das Lied dirrididldi! Und oi, oi quiekte die Schnauze, der Rosarüssel, tiefer im Ton als die Schwänzchenflöte, die biegsame, helle.

Und, sagte mein Onkel, er hat später noch oft Kalbsbraten mit Kartoffelsalat und Leberknödelsuppe gegessen, der Herr Rancourt, und auch Spanferkel und lernte auch noch regelrichtig Deutsch und wurde sogar Professor.

Aber als er so weit war und die fremde Sprache, wie man so übertreibend sagt, beherrschte, drückte er sich in ihr so richtig und nüchtern aus, wie wir das alle tun, in langweiligen und trockenen Sätzen ohne Klang und Glanz, glatt und ohne Stockung redend, wie Wasser von der Röhre läuft, und nie wieder, natürlich, ist ihm ein so schönes Gedicht gelungen wie das Ferkelgedicht. Das gelingt auch uns allen nur, die wir keine Dichter sind, solange wir Kinder sind, denn wie ein Kind, süß lallend, irrte der erwachsene französische Mann damals taumelnd im Dunkel des mächtigen, zauberischen Sprachurwalds, und nur im geheimnisreichen Dämmern ist dem Gedichte wohl.

Mein Onkel hatte sich in die Ecke des Zimmers zurückgezogen, in den schwarzen Ledersessel, der dort stand, wer weiß, wie lange schon? Die Dämmerung wollte schon kommen, draußen, wo die alte Stadt lag mit den vielen Türmen, wo der Strom floß, der grüne, der rauschende.

Und, sagten wir, du glaubst, daß damals der Mond größer und gelber war? Geh heut abend mit uns auf die Donauinsel, heut abend um acht Uhr kommt er, der gelbe Wanderer, sieh ihn dir an!

Ja, sagte mein Onkel, der Mond, der vielleicht, aber das Bier?

Der unflätige Hirte

Er ging, ich sah ihn oft, durch die Straßen, immer in hohen Röhrenstiefeln, bei jedem Wetter trug er sie, sommers und winters, er ging, ich sah ihn oft, mit etwas torkelndem Schritt, er setzte Fuß vor Fuß so dicht, daß die Spitze des einen und die Ferse des andern Stiefels sich streiften, dann wackelte er, aber er stürzte nicht, so ging er stundenlang durch die Straßen der kleinen Stadt. Er hatte ein ledernes, faltiges Gesicht, zwei kleine, graue Augen drin, er trug keinen Bart, war immer schlecht rasiert, seine Kleider glänzten schmierig, vom vielen Fett, das er dran hingeschmiert hatte. Er benutzte die Gabel nicht, wenn er in einer kleinen Wirtschaft sich einen Leberkäs bestellt hatte oder einen Preßsack. Er schnitt das Fleischerne mit seinem holzgriffigen Metzgermesser, aß mit den Fingern und wischte sich die Finger ab am Rockärmel. Viehtreiber war er von Beruf, Aushilfsviehtreiber, hatte nur an großen Markttagen zu tun.

Aber seinen Viehtreiberstecken schwang er stets, wenn er die Stadt unermüdlich durchlief. So kam er des Wegs, der Einfältige, schwankend, aber nie stürzend, setzte den Stock, wirbelte den Stock, ging durch die abendlichen Gassen, und dann tönte sein Schrei, daß zusammenfuhr, wer ihn hörte, den Ton, rauh und gurgelnd, tierisch, röhrend, trompetend, sein gewaltiges: Hoi!

Der Einfältige mit den blinzelnden Schweinsaugen schaute nicht links und nicht rechts, er merkte es nicht, daß sein Ruf die Spaziergänger schreckte, der Hirte, er ging, und die Kuh, die er trieb, die man nicht sah, für ihn war sie da. Die Häuser waren nicht da, die ewige Landstraße nur, und der ewige Himmel, er ging durch den Regen, torkelnd, durchnäßt, er dehnte sich wohlig im Regen, ließ den Regen sein Gesicht waschen, das er sonst nie wusch, trieb die Kuh vor sich her, der ewige Hirt, straßenauf, straßenab, und ließ schallen sein mächtiges: Hoi!

Die in den Schenken kannten ihn, die Metzgerburschen und die Viehhändler, und neben ihnen saß er auf den Bänken und trank das Bier, das sie ihm zahlten, und aß den Preßsack, den sie ihm bringen ließen, und sprach nichts und merkte nicht, daß sie ihre Späße mit ihm trieben, und trank aus und wischte sich die Finger an den Rockärmeln, und ging in den Abend wieder hinaus und sah den Kuhschwanz vor sich und schrie sein: Hoi!

Er nächtigte in den kleinen Ställen der Vorstadt, schlief tief und fest und selig im raschelnden Stroh, die Röhrenstiefel an den Füßen, den Stock in der Hand, wandernd und rufend noch im Traum.

Die Militärmusik spielte am Sonntag, am Domplatz, die Städter gingen auf und ab, in wehenden, weißen und gelben Kleidern die Mädchen, und er kam einher, torkelnd, stoppelbärtig, und sein Hoi! schallte über den Platz, daß die Mädchen zur Seite sprangen vor dem Hirten, und dann lachten und ihm lachend und zwitschernd nachsahen, und ein Grauen doch über ihre helle Haut lief, vor dem Anblick des stinkenden Hirten, der von den Wäldern und Wiesen gekommen war in die Stadt.

Er hieß »der Hoi« in der Stadt, und die Kinder liefen ihm nach, die unguten und vorwitzigen und bösen, und liefen ihm nach und torkelten wie er, und manche fielen, wenn sie seinen Gang nachahmten, er aber fiel nie, und: hoi! hoi! Ahmten sie ihn nach, mit hellen Kinderstimmen. Er sah sie gar nicht, er trieb seine Kuh vor sich her und schwang seinen Stock, und wenn sein Hoi! aufschallte, warum zuckten die Kinder doch zusammen, und erblaßten und schwiegen beklommen, kurz, ehe sie mit hohen Stimmen ihm nachschrien das Spottwort?

Und wenn den Metzgerburschen das Geld locker saß, dann bestellten sie dem Hirten nach dem Preßsack noch einen Leberkäs und nach dem Leberkäs noch ein paar geräucherte Würste und dann noch einen Emmentaler und zahlten ihm eine Maß Bier und noch eine Maß Bier, und der Hirte aß und trank, kaute langsam und mit Genuß, mit seinen wenigen gelben Zähnen hinter den gelben Lippen und trank langsam und mit Genuß, und saß mager und ausgedörrt auf der hölzernen Bank vor dem hölzernen Tisch in der Schenke und schlug sich den Bauch voll, und der schwoll sichtlich an, daß er die Hosen lockern mußte, schwoll an, der Bauch am magern Leib. Und dann sagten die Metzgerburschen: »Hoi, du kriegst noch eine Maß und noch einen Preßsack, wenn du ihn dir aufbügeln läßt!«

Dann stand der Hirte auf, ohne zu schwanken, wischte sich die Finger ab am fettigen Rockärmel, blinzelte mit seinen Schweinsaugen, – wer weiß, wohin er damit sehen konnte, er sah doch ständig eine Kuh vor sich, aber er sah auch anderes –, und ging, die Metzgerburschen hinter ihm drein. Und er ging in seinen Röhrenstiefeln zu einem der vielen kleinen Bügelgeschäfte, drin weißgekleidete Frauen unermüdlich das heiße Eisen schwingen, riß die Türe auf, und drehte sich um, zeigte den bügelnden Frauen seinen Rücken, bückte sich schamlos, sah mit kleinen, blinzelnden Augen auf die Metzgerburschen, tat das Unflätige, das unanständig Schallende, langgezogen und tiefdonnernd, Bier und Preßsack hatte er ja im Bauch, und drehte sich wieder und sagte den Frauen im Laden: »Waschen und aufbügeln, morgen hol ich ihn wieder ab!« Er hörte wohl nicht die entsetzten Schreie der Frauen, hörte wohl nicht, wie sie riefen: Hinaus, du Sau! und sich die Nase zuhielten, beachtete nicht das Gröhlen der Metzgerburschen, ging schwankend seinen Weg zurück zur hölzernen Bank vor dem hölzernen Wirtshaustisch, die Maß Bier und den Preßsack erwartend für seine Tat, der unflätige, einfältige Hirte Hoi.

Das Haus zur heiligen Dreifaltigkeit

Dies Haus beschützet allezeit die allerheiligste Dreifaltigkeit – plappert fromm und zärtlich und geschwätzig und einfältig und voll Gottvertrauen und auch ein wenig vorlaut und herausfordernd die Steintafel im Giebel, und die fadendünnen, flattrigen, geschwungenen Buchstaben wollen schwanken, wenn der Fluß einen Atemstoß Wind herschickt. Denn das kleine Haus steht im Donautal am Rand der Stadt und spiegelt sich im grünen Wasser. Gleich hinter dem Haus taucht, wie eine Natter aus dem blattbesetzten Weiherspiegel, ein Landweg aus dem mit Rundsteinen gepflasterten Platz empor und macht drei Biegungen und ist im nächsten Dorf, wo die roten und blauen Bauernblumen schnatternd über den Zaun hinweg zu den schnatternden Gänsen schreien. Und hinterm Dorf schwingt silberrändig ein Hügelkamm.

Vor Jahren, vor nun schon manchen Jahren, besaß das Haus zur heiligen Dreifaltigkeit, so nannte es jedermann, Herr Full, ein Mann um die fünfzig, mit einem wehenden Ziegenbart, immer mürrisch, drohend, grämlich, ein König in der Verbannung, ein Papst ohne Kirchenstaat, ein entgleister Apotheker, der es mit dem Rest seines Vermögens gekauft hatte, um sich eine Drogerie drin einzurichten. Die Töchter, Elisabeth und Magdalena, konnten nicht mehr wie früher, in den schönen und reichen Zeiten, Stöckelschuhe tragen und breitrandige Florentinerhüte, von denen wippend eine Garbe von Blumen wogte. Magdalena, die lustige, lachende, lockend mit gehobener Oberlippe, verkaufte Seidenblusen in einem Warenhaus, Elisabeth, die sanfte, säumig und sittig, war bei der Post angestellt. Die Mutter hielt die kleine Wohnung im Stand, immer hingen ihr Haarsträhnen über die Augen, und wenn sie schnaubend durchs Zimmer schoß, war sie wie ein niedriges, russisches Pferdchen und
blinzelte hungrig. Am Finger trug sie einen alten, goldenen Ring, ein Erbstück von ihrer Großmutter. Das Mittagessen vereinigte die vier um den runden Tisch. Der Vater zerschnitt das zähe Rindfleisch, die Mutter wischte sich das Haar aus dem Gesicht, Elisabeth erzählte schwermütig von ihren Vorgesetzten, und lerchenhell und blumenheiter plauderte Magdalena. Stand der Vater auf, warf das Mundtuch auf den Tisch, ging in seinen Arbeitsraum, blieben Frau Full und Elisabeth noch sitzen bei einer großen Schale hellen Kaffees, aber Magdalena säumte keinen Augenblick, und der Gemüserest auf ihrem Teller rauchte noch, hörte man sie schallend die Tür ins Schloß werfen. Frau Full hob die Ringhand, schob sich die Haare aus der Pferdestirn, und das uralte Gold leuchtete, wie eingesetzt dem Kopfschmuck einer Tatarenstute.

Schon manchen Mann seines Faches hatte Herr Full reich werden sehen, manchen klugen Mann, der Hühneraugensalben herstellte und segensreiche Pflaster und bittere, braune Tropfen. Auch er war klug und wollte wieder in die Höhe kommen, und die beiden Mädchen mußten ihre sie demütigenden Stellungen aufgeben, seine Frau in Seide gehen und er alle Tage den schwarzen, hohen, steifen Hut der Ehren auf dem Kopf haben. Den wollte er dann nur knapp lüften vor dem stolzen Bürgermeister, dem Gockel, dem Pfau, der sich spreizte und plusterte vor ihm, dem armseligen grauen Sperling! Er hatte ein Viehmastpulver gemischt, davon sollten die Schenkel der Säue fett und rosigblühend werden und kernspeckig und prall! Die Schweinezüchter mußten rot vor Gier werden nach dem Mittel, das den Hunger der Tiere anstachelte und sie zwang, das Futter schleunigst in herrliches Fleisch zu verwandeln. Seit einer Woche erhielten es versuchsweise die Rüsselträger eines kleinen Angestellten, der am anderen Donauufer wohnte und Schweine aufzog, um so zu einem billigen Schinken zu kommen. Noch war von der Wirkung nichts zu spüren, die Zeit war wohl noch zu kurz.

Herr Full stand am Ladentisch, blinzelte träg in die Sonne und träumte. Über die Wiese trabte und torkelte ein Trupp Säue. Die kleinen, boshaften Augen wurden fast überschwemmt vom Fett der Backen, und die Bäuche wackelten und schwappten und ließen sich kitzeln von den Grashalmen.

Und die hundert und die tausend Ringelschwänze wippten und fügten sich aneinander und stiegen wie eine große gedrehte Feder, und oben saß er, den schwarzen Röhrenhut und Ehrenhut im Genick, und auf und nieder hupfte er wie der August im Zirkus, auf und nieder schnellte ihn die ringelschwänzige Spirale.

Herr Full trat vor die Ladentür. Die Sonne kochte die runden, kleinen, weißen Pflastersteine, daß sie heiß wurden und hart wie gesottene Eier. Der Himmel war ganz hellblau, fast grün, und wölbte sich wie ein riesiges Salatblatt. Die Donau floß wie ein spritziger Wein. Und wie im Schlaraffenland sah er jeden Pflasterstein sich spalten, und statt des Eigelb blinkten runde Goldmünzen.

Er trug etwas in seinen Büchern nach, da klingelte es scharf und kurz, die weinende Magdalena trat ein, hinter ihr ein älterer Herr mit einem dicken Rohrstock. Es war ein fester, hellbrauner Stock, und der Griff aus Elfenbein zeigte einen geschnitzten Löwenkopf, dem eine rote Zunge, eine blutrot angemalte gespaltene Zunge, aus dem Maule hing. Es stellte sich heraus, daß Magdalena im Geschäft Blusen gestohlen hatte. Der Herr war von der Polizei und kam, um Haussuchung zu halten und die Eltern zu vernehmen. Nein, er wisse von nichts, sagte Herr Full, und sah mit tausend Augen zu Magdalena hinüber. Nun stürzte die Mutter herbei, erfuhr, ihre Haare flogen. Und der Beamte tat seinen Dienst, und der war schnell getan, und er fand nichts, der Beamte, und ging bald wieder.

Herr Full verließ den Laden, stieg die Treppe empor auf den Dachboden. Nun konnte er den hohen, schwarzen, spiegelnden Hut nie mehr tragen, und wenn er fünf Fabriken bauen mußte mit zehn roten Schlöten, um genug Mastpulver herstellen zu können. Und der Bürgermeister, der Gockel, der Pfau, der Truthahn, der ihn nur nachlässig grüßte, würde kollern und sich spreizen und plustern und ihn ganz und gar übersehen. Er knüpfte sich die Waschleine um den Hals, sah die Säue dreist und feist und rund werden und mit den Ringelschwänzen wippen. Auf einem schwarzen, wütenden Eber ritt er ins Jenseits.

Frau Full sah den toten Mann, ließ die Hand der Tochter nicht los, weinte kaum und zog Magdalena zum Haus hinaus, zog sie hinter sich her, immer hinter sich her, wie man ein kläffendes Hündlein am Lederriemen nachschleift. Feldarbeiter sahen, wie sie lange am Flußufer irrten. Bis zu den Knien stand Frau Full plötzlich im Wasser, mächtig sich sträubend Magdalena im Kies, die Füße tief stemmend in die lockeren Steine. Aber Frau Full zog und zog. Sie legten die Hacken und Rechen hin, die Feldarbeiter, und griffen sich erschrocken ans Herz. Der Himmel spannte sich vor ihnen wie die Leinwand im Lichtspielhaus. Und wie im Lichtspielhaus hörten sie nichts und sahen nur die schwarzen Figuren und sahen, wie Frau Full noch einen Schritt nach vorn tat, Magdalena mitriß. Nun nahm sie die Strömung auf, ein Frauenrock blähte sich, drehte sich, dann waren sie verschwunden. Die Uferpappeln wackelten schwarz und mächtig. Die Bühne war wieder leer. Eine alte Frau unter den Feldarbeitern, die stumm dem stummen Schauspiel zugesehen hatte, öffnete mühsam den Mund, der sich nicht öffnen wollte, und schrie einen lang anhaltenden Schrei. Das war nachmittags um drei Uhr.

Hundert Meter unten fischte man die beiden Frauen heraus, die sich bei der Flußbiegung im Gesträuch gefangen hatten. Man trug sie ins Haus, und die Wassertropfen zischten auf den heißen Schlaraffenlandsteinen. Dann lagen die drei nebeneinander, Frau Full und Magdalena triefend naß, aber Herr Full hübsch trocken. Und der hellgrüne Salathimmel zitterte nicht.

Das war nachmittags um drei Uhr gewesen, und um vier Uhr kam Elisabeth vom Dienst. Der Verwalter, dem die aufgekrempelten Hosen vornehm die Knöchel peitschten, hatte sie unfreundlich angefahren wegen einer fehlerhaften Berechnung. Sie hatte geweint. Sie liebte den groben, gut angezogenen Menschen, der merkte es aber nicht einmal und quälte sie mit Kleinigkeiten. Traurig war sie über die Brücke gegangen, und daß die Leute ihr auswichen, fiel ihr nicht auf. Fern stand der Scheuchenberg im Dunst, niedrig, langgestreckt, wie ein grauer Bär, und kleine Wolken stieß er wie seinen Atem aus. Sie sah über die Steinplatten der Brüstung ins Donauwasser, das blaugrün an den Pfeilern sich brach. Sie hörte, wie das Wasser plärrte und schwätzte, und sie bog sich tief hinunter, schärfer zu hören, aber aus dem Plätschern und Wispern wurde sie nicht klug. So ging sie heim und sah im Zimmer wie drei Kerzen nebeneinander Vater, Mutter und Schwester liegen, und wie Wachs, das von den Kerzen rinnt, war zu den Füßen von Mutter und Schwester ein dunkler Wasserfleck zusammengeronnen. Sie ging in den Laden, nahm aus einem hohen Glas ein weißes Pulver, das sie gut kannte. Das schmeckte zwar bitter, gallenbitter und scharf, aber es tat nicht einmal so richtig weh, wie sie das gefürchtet hatte in ihrer Feigheit, nicht immer tut der Tod weh, das muß man Ängstlichen sagen, zum Trost, was man auch immer sonst erzählen mag. Als sie gelb wurde im Gesicht, aber das sah sie nicht, suchte sie sich einen Ort zu sterben, und wenn dazu auch jeder Platz gut genug ist, sie wußte sich keinen bessern, und es gab wohl auch keinen bessern, als neben Vater, Mutter und Schwester. Sie streckte sich neben sie, auf den harten Fußboden, und daß er hart war, spürte sie nicht mehr, im Tode wird alles anders, alles, und lag nun wie eine vierte Kerze neben den dreien, und war bald stumm und steif wie sie.

Aber wenn aus einem vierarmigen Leuchter die Kerzen, vom Wind umgeblasen, wackeln und fallen, so bringt sie eine rasche Hand und ein pfauchendes Zündholz wieder knisternd zum Leben. Diese vier stummen und steifen Wachsstangen entzündete niemand mehr. Es waren eben doch keine Kerzen, sondern wächserne Leichen.

Als der schweinezüchtende Angestellte merkte, daß das Pulver den Tieren gut bekam, ließ er es von einem Mann der Wissenschaft in seine Bestandteile zerlegen, um hinter das Geheimnis der Wirkung zu kommen. Das gelang leicht, und der Züchter war unternehmend genug, die Herstellung und den Vertrieb in die Hand zu nehmen. Das Geschäft ging glänzend, er war in zehn Jahren ein reicher Mann, ließ mächtige Schlöte rauchen und baute sich ein schloßähnliches Haus in einem alten Garten.

Und während eine fette Sau grunzend am Trog steht und ihre rosafarbene Schwarte in der Sonne glänzt und sie schlappend und schlampend und schlürfend ihre Abendsuppe säuft, protzt am Ufer der Donau die Fabrik, der Wind trägt Ruß und Rauch über den Strom, hinüber zu dem kleinen Haus, das sich im grünen Wasser spiegelt und ungerührt vom Giebel den herausfordernden und einfältigen Satz plappern läßt, der für das Haus ja wohl seine Richtigkeit hatte, einstweilen wenigstens, wenn auch nicht für seine am Selbstmörderfriedhof modernden Bewohner. Aber so wirksam ist keine Formel, wie sie auch laute, solche Zauberkraft haben Worte nicht, wie sollte das auch sein! wie heidnisch wäre das! daß sie allein schon genügten, vor Leid und Schuld zu bewahren! Sie mußten es jetzt wissen, die Gott verlassen hatte, vielleicht, so scheints, aber was begreifen schon wir Menschen! – sie mußten es jetzt am besten wissen, die Toten, was es mit dem Spruch auf sich hat, der keine vorwitzigfreche Sicherheit ausdrücken darf, das niemals, nur einen frommen Wunsch und eine zitternde Erwartung, die sich demütig unter das Schicksal stellt, und der hier am Ende stehe, wie er am Anfang stand: Dies Haus beschützet allezeit die allerheiligste Dreifaltigkeit.

Fischfrevel an der Donau

Mein Vater, war eine Zeitlang Angler, später ließ er es, ich weiß nicht warum, war also eine Zeitlang Angler, sogar leidenschaftlicher Angler, und viele seiner freien Abende und die meisten seiner Sonntage verbrachte er damals am Wasser, an der Donau, der grün und mächtig strömenden, auch am bräunlichen, traurigen, stillen Regen, an der schwarzen, funkelnden Naab und der bläulich schillernden Laaber. Er hatte es gern, wenn ich ihn begleitete, in den Uferstauden saß, zu seinen Füßen, mit ihm den Korkschwimmer belauerte, mit ihm hoffte, daß ein Fisch den Köder nähme, aber an schlechten Tagen drehte sich der Schwimmer nur höhnisch um sich, und oft gingen wir mit leeren Händen heim, und dann schämte sich mein Vater, und es war da doch gar nichts zu schämen, wenn die Fische eben keine Lust hatten, zu beißen.

Am liebsten begleitete ich ihn, wenn er sich zu den Altwässern an der Donau aufmachte, einer grünen Wildnis von Weiden und verfilztem Gestrüpp. Da saßen wir auf dem lehmigen Boden, eine Weide, krumm, hing über dem schwarzen Spiegel, und all die vielen Blätter spiegelten sich im Wasser. Wasserjungfern, grün, mit Glasflügeln, schwebten, surrten, seltsam starr, als seien sie nicht aus Fleisch, wie Maschinen waren sie. Schilf stand am Ufer, stach aus dem Wasser, gelbes und grünes, und es roch schlammig.

Wenns mir zu heiß wurde an dem moorigen Tümpel, schlich ich mich weg durchs rauschende Gebüsch, bis zum steinernen Damm, der die Altwässer von der Donau trennt. Da wehte es auch schon kühl her, das war der Strom, da floß er, grün, breit, wallend, strudelnd manchmal. Ich hängte die Beine ins Wasser, die Schuhe hatte ich bei meinem Vater gelassen, und sah lange auf das Strömende hinaus, und so unruhig ich sonst war, hier konnte ich eine halbe Stunde lang sitzen und schauen, nur schauen. Vom Dorf gegenüber krähte verloren, verschollen ein Hahn, die Turmuhr schlug ihren Schlag, die Sonne lag auf den roten Dächern, alles war wie träumend, der große Strom floß, und weiße, dicke Wolken schwammen am blauen Himmel.

Abends gingen wir dann heim, im Fischnetz trug ich die Beute, zwei, drei Fische, vom Vater totgeschlagen, mit glasigen Augen und Blut vorm Maul, und die Fische gabs dann meistens als Abendessen, aber ich machte mir nicht viel daraus, hatte Angst vor den Gräten, kostete nur gerade und hielt mich lieber an ein Butterbrot.

Mein Vater hatte sich eine Angelkarte gelöst, was sage ich, zwei, drei Angelkarten, die ihn zum Fischen in verschiedenen Flüssen berechtigten. Ich hatte keine Karte, sie wurden ja auch nur an Erwachsene abgegeben, aber manchmal hieß mich mein Vater die Gerte halten, damit er sich etwas Bewegung machen könne, und ich hoffte und fürchtete dann in einem, daß ein Fisch anbeißen könnte, denn ich traute es mir nicht recht zu, so ein zappelndes Tier aus dem Wasser zu schleudern, hoch im Bogen, kunstgerecht, wie ichs beim Vater oft gesehen hatte. Aber als es mir einmal gelang, schrie ich vor Begeisterung, als der silberblitzende Befloßte am Ufer im Sand sprang, auf und nieder sprang, am Haken noch hing. Mein Vater kam herbeigeeilt, löste vorsichtig den Haken aus dem gemarterten Schlund, hielt den Fisch fest in der Hand, bis ich das Netz öffnete, der Fisch hineinplumpste. Das Netz wurde dann ins Wasser gehängt mit dem lebenden Tier.

Das hatte mich stolz gemacht, Jägerfreude war in mir, daß ich abends wie ein Alter neben meinem Vater heimging, das Fischnetz trug wie immer, und hin und wieder hinsah auf meinen Fisch, den ich aus der Flut geschleudert hatte, und der nun tot und verkrümmt in den Maschen hing, neben den beiden, die Vater sich noch geholt hatte, aber meiner war der größte von heute.

Das war in den großen Sommerferien. Und als ich zu Bett ging, immer noch stolzgeschwellt über mein Jagdglück, überfiel es mich, morgen allein zum Fischen zu gehen, in aller Frühe schon mich aus der Wohnung zu schleichen und unbemerkt wieder zurückzukommen, ehe alles aufgestanden war. Es war zwar polizeilich verboten, ohne Karte zu fischen, »schwarz« angeln hieß man das, und man mußte vor jedem Schutzmann achtgeben, aber ich wußte auch, dort hinaus, in das Gestrüpp vor der Stadt, geriet so leicht kein Wächter, wir hatten noch nie einen gesehen und waren schon dutzendmal dort gewesen. Ich schlief schlecht, fuhr immer wieder im Bett hoch, aber immer wieder und immer noch sah die Nacht schwarz zum Fenster herein. Als es etwas nach drei Uhr war, ich war zum Fenster getreten, hatte in die tiefe Stille hinausgeblickt, glaubte ich im Osten einen schwachen Lichtschimmer zu sehen, und da kleidete ich mich kurzentschlossen an, schlüpfte auf Strümpfen zur Tür, zog im Hausflur die Schuhe an, ging die hallenden Straßen zur Donau hinab. Es fröstelte mich, Nachtkühle schauerte, die Donau rauschte und trug kleine Nebelfetzen auf ihrem Rücken dahin. Die Dämmerung kam, noch waren die Sterne am Himmel, keine Wolke. Ich war wohl noch nie in meinem Leben so früh auf den Beinen gewesen, alles sah merkwürdig und anders aus, die bekannten Umrisse von Häusern und Bäumen verschwammen undeutlich im Grau, die Ufersteine waren naß vom Tau, wenn ich mich umsah, rötete sich der Himmel, das Grau über der Donau lichtete sich, ein hellerer Schein legte sich über die Hänge am jenseitigen Ufer.

Der Damm begann, die Sträucher rechts und links wischten mir feucht ins Gesicht, warfen mir Tropfenketten über die Ärmel, das nasse Gras, das kümmerlich zwischen den Dammsteinen wucherte, machte mir die Stiefel glänzend schwarz. Da war die Stelle, wo wir gestern die Angelgerte versteckt hatten, ich bog die Weiden auseinander, da stand sie, ich nahm sie, nun brauchte ich noch Köder. Ich wußte einen Platz, wo es Würmer gab, grub mit einem Stück Holz in der weichen Erde, um diese Stunde waren sie am leichtesten zu erwischen, bald auch hatte ich genug bläulichrot schimmernde Regenwürmer, nur solche mittlerer Größe nahm ich, die waren die besten, die schmeckten den Fischen am besten. Ich tat die Schlängeltiere in eine Tüte, die ich mir aus einem großen, feuchten Blatt drehte, und ging zu dem Weiher, wo ich gestern meinen ersten Fisch geangelt hatte.

Die Würmer auf den Haken zu spießen, das tat ich ungern, es trat ein weißlicher Saft aus den Ringelleibern, wenn das scharfe Eisen hineindrang, und es war mir unangenehm, daß ein Wurm gleich dreimal oder viermal durchbohrt werden mußte, bis er wie ein zuckendes Geflecht am Haken hing, aber es mußte sein, und ich meinte mich zusammennehmen zu müssen, und die Schwäche kam mir knabenhaft und unmännlich vor.

Dann schleuderte ich den Köder klatschend auf das Wasser, er sank unter, und der Korkschwimmer lag unbeweglich auf dem schwärzlichen Glanz. Nie war es hier sonst so ruhig gewesen. Keine Wasserjungfer surrte, Mücken tanzten nicht wie sonst, auf den Sträuchern blitzten die Tautropfen, das Schilf stach feindselig in die Luft, kein Wind ging. Der Schwimmer rührte sich nicht, ich warf den Köder an eine andere Stelle, geschickt genug, daß er in eine Art von Bucht niederfiel, wo Fische gern stehen, aber keiner machte sich an den Wurm.

Mit einem Ruck holte ich den Köder heraus, der Wurm drehte sich immer noch am Haken, und ich ging auf dem Damm eine Strecke zurück und hinüber zur Donau.

Hier war das Licht schon mächtiger geworden, der Himmel glänzte grünsilbrig und war bestrebt, blau zu werden. Das Dorf drüben lag noch im Grau, wie immer krähte ein Hahn herüber, kalt wars und immer noch dämmerungsfrüh.

Es war kein sehr hoher Wasserstand in diesem Sommer, große Steine, vom Uferbau übriggeblieben, ragten aus der Flut, still rauschte das Wasser um sie, die bemoost waren, und ich zog meine Schuhe aus, um auf einen dieser Klötze zu steigen. Kalt schlug der taufeuchte Stein gegen meine fröstelnden Fußsohlen, mit der Angelgerte das Gleichgewicht suchend stand ich schaukelnd, trat auf einen anderen Block hinüber, der wie ein Tierrücken aus dem Wasser sich wölbte.

Neben diesem Stein ging das Wasser tief hinunter, es war ein Baggerloch vielleicht, deutlich sah ich am Boden des Kessels die flachen, grünlichen Donaukiesel und sah noch etwas, etwas so Erschreckendes und Erstaunliches, daß ich den Atem anhielt, unwillkürlich. Ich kniete auf dem Stein nieder und brachte mein Gesicht dicht über das Wasser, daß ich die Kühle spürte, die aus der Tiefe aufstieg, und geheimnisvoll und seltsam lautlos, ja, die Lautlosigkeit fiel mir besonders auf, obwohl sie doch ganz und gar natürlich war, lautlos und wie schwebend glitten viele Fische in dem Kessel hin und her, schwammen schräg nach oben, wendeten, ließen sich nach unten sinken, standen kurz, rührten ein wenig die Schwanzflossen, strichen umeinander her. Es waren dickköpfige Barben darunter, Eiteln, Brachsen mit breitgequetschten Leibern, Weißfische blitzten, wenn sie sich auf die Seite legten, wie sie es gerne tun. Es war ein verwirrender Anblick, es war wohl ein Dutzend Fische, vielleicht mehr, vielleicht weniger, ich konnte sie nicht zählen, weil sie sich unaufhörlich bewegten. Ich wäre auch zu aufgeregt gewesen, sie kaltblütig zu zählen.

Ich sah weg von dem geschmeidigen Gegleite: da war die Donau, mächtig, wie in Stößen schien sie manchmal schneller zu fließen, drüben waren die Wiesen, das Dorf war da, die Hügel jenseits, der Himmel über mir, ein paar Schwalben schossen dicht überm Wasser hin, die Sonne war schon heraufgekommen, wärmte noch nicht, leuchtete noch bloß, und als ich wieder hinabsah in den Fischkessel, da schwamm und stieg und glitt und blitzte immer noch das Fischdutzend.

Sie sahen sehr groß aus, die Fische, das Wasser war trügerisch, wußte ich, ließ die Dinge größer und verzerrt erscheinen, aber auch wenn ich das abrechnete, mußten es immer noch stattliche Tiere sein, die sich hier versammelt hatten.

Sie mit der Hand zu fangen, wie es fast möglich schien, wollte ich doch
nicht versuchen, aber hier konnte man angeln auf die einfachste Art, ohne Gebrauch des Schwimmers, hier konnte man dem Fisch den Köder dicht vors Maul halten und zusehen, wie er schnappte. Ich ließ also den Haken mit dem sich noch immer drehenden Wurmknäuel in das Loch gleiten, mitten zwischen die Fische. Ich sah die dünne Angelschnur schräg im Wasser wie eine grüne Wasserpflanzenfaser schwimmen, aber zuerst beachteten die Fische den Köder nicht, streiften die Schnur, daß sie sich bog, und ich zog den Köder hin und her, um einen der Fische zu verlocken, ihm nachzuschwimmen, um ihre Neugier zu reizen, aber die blauschwarzschimmernden Tiere waren gar nicht neugierig, lautlos, immer wieder erregte es mich, daß sie lautlos waren, stumm und geheimnisreich zogen sie ihre Bahn.

Eine große Brachse stand fast am Boden des Lochs, und da ließ ich den Köder noch tiefer sinken, bis er dicht vorm Maul des scheibenflachen Tieres hing. Der Fisch stieß ein paarmal mit dem Maul gegen den Köder, schwamm rückwärts, als nehme er einen Anlauf, schoß vor, schnappte zu, ich riß die Angelgerte entgegen der Richtung des Stoßes der Brachse, damit der Haken fest in ihren Gaumen dringe, schon straffte sich die Schnur, ich spürte den Ruck, ich sah den Fisch sich winden und krümmen, sah, wie blitzend, silberne Perlen werfend, die anderen Fische nach oben schossen, aus dem Loch herauszukommen, dicht aneinander, eine flüchtende Schar, drängend ins offene Wasser, sah das Loch leer, nur eine zappelnde Brachse schlug Wellen, und dann schleuderte ich sie heraus ans Licht und ans Ufer.

Ich sprang über die Rücken der großen Steine ans Land, zog den schlagenden Fisch an der Schnur heran, um ihn vom Haken zu holen. Ich schauderte, als ich das Tier, zweimal handlang, naß, in die linke Hand nahm, spürte, wie seine Muskeln sich spannten, mußte fest zugreifen, daß es mir nicht entschlüpfte, und versuchte nun, wie ich das oft bei meinem Vater gesehen hatte, den Haken aus dem Gaumen herauszudrehen.

Aber es gelang mir nicht. Ich zitterte, als das Eisen sich nicht löste, als hellrotes Blut dem Tier aus dem Maul drang, und so wollte ich den Fisch zuerst töten und ihn dann vom Haken nehmen, um ihm Schmerzen zu sparen. Ich schlug seinen Kopf ein paarmal fest gegen einen Stein, aber meine bebende Hand hatte keine Stärke, der Fisch lebte, rutschte mir aus den Fingern, zappelte und sprang am Boden.

Ich stürzte mich von neuem auf ihn, klatschte den Kopf wieder gegen einen Stein, und weil der Fisch nicht sterben wollte, schmetterte ich ihn in meiner Verzweiflung gegen, den gepflasterten Damm, immer wieder, tobend, Tränen der Wut und des Mitleids und der Beschämung im Auge, immer wieder, fünfmal, sechsmal. Aber der Fisch lebte, seine Sprünge wurden kleiner zwar, matter, aber tot, tot war der Fisch nicht.

Es war schrecklich, am liebsten wäre ich davongelaufen, ich hatte noch nie in meinem Leben ein Tier getötet, ja, einen Käfer vielleicht einmal zertreten, eine Spinne, aber das Tier hier war halb so lang wie mein Unterarm, und starb nicht. Seine Schuppen hingen schon am Damm, es war mit Erde beschmiert, daß es nun wüst und schwärzlich aussah, sein silberner Glanz war weg, den scharfen, blauen Eisenhaken hatte es im Maul, wieder warf ich es zu Boden, aber es lebte.

Ich setzte mich zu Boden, den Rücken gegen den Fisch, sah auf die Donau hinaus, saß mit schlagendem Herzen, der Fisch mußte doch von selber sterben, das war jetzt meine wahnwitzige Hoffnung, er mußte doch ersticken, aber ich wollte ihm dabei nicht zusehen, das wenigstens wollte ich nicht. Jetzt gerade kam ein kleiner Flußdampfer ratternd gegen die Strömung gekeucht, in der Strommitte, ich war selbst mit dem Dampfer schon manchmal gefahren, er arbeitete sich nur langsam voran, er war nur mäßig besetzt, sah ich, bei dieser Morgenfahrt. Jemand auf dem Schiff hatte mich Frühaufsteher sitzen sehen, winkte mit einem weißen Tuch einen Gruß herüber, wie betäubt zog ich auch mein Taschentuch, winkte zurück, war entschlossen, nicht umzusehen nach dem lautlosen Todeskampf hinter mir, bis der kleine Dampfer um die Strombiegung verschwunden sein würde. Die ersten Wellen, die das Schiff warf, kamen gegen das Ufer gerannt, klatschten gegen den Damm, schäumend, das Schiff war nun nicht mehr zu sehen, sein Keuchen noch schwach zu hören, die Wellen verliefen sich, die Donau strömte wie immer.

Ich drehte mich um, der Fisch zuckte immer noch, ich glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, der blaue Himmel über mir sah unbarmherzig zu, in den Weiden ging ein leichter Wind, die Morgenstille war friedlich, freundlich sah das Dorf herüber, und der Fisch, der Fisch lebte.

Da tötete ich ihn, wie die Tiere, die ich schon je getötet hatte, die Spinnen und die Käfer: die hatte ich zertreten! Ich zog meine Schuhe an, sprang auf den Fisch und sah ganz geradeaus dabei, sah nicht auf meine Füße hin, rutschte, trat wieder zu, drückte und stampfte, hämmerte mit den Absätzen, zerquetschte und zermalmte ihn, bis ein schmutziges, blutverklebtes, unförmiges, geschupptes Stück Fischfleisch auf den Steinen lag. Dann zog ich den Haken heraus, jetzt ging es leicht, warf den Fisch weit ins Wasser, reinigte, rieb und schabte die Schuhe im Gras, reinigte mir die Hände in der Donau, wusch sie lange und gut und unermüdlich, ließ sie im Wasser hängen, wohlig, ließ sie von dem grünen Donauwasser umspülen, konnte mir nicht genug tun mit dem Waschen, als müßte ich Vieles und Schlimmes und Ekelhaftes abwaschen. Die Angelgerte versteckte ich wieder am alten Platz und machte mich dann auf den Heimweg und fing plötzlich zu laufen an, lief lange, bis ich atemlos war.

Es gelang mir, unauffällig in die Wohnung zu kommen, es war mir den ganzen Tag, als sei der Boden unter mir nicht fest, und als ich nachmittags, es waren ja Ferien, im Gras lag und ein Butterbrot aß, fand ich an meinem Schuh, zwischen Oberleder und Sohle, eine Schuppe, eine getrocknete, spröd gewordene, undurchsichtige, stumpfweiße Schuppe. Die rieb ich zwischen den Fingern, legte sie auf das Brot, biß kräftig ab und aß die Schuppe mit dem Brot hinunter. Warum ich das tat, weiß ich nicht.

Brudermord im Altwasser

(gesprochen von Georg Britting)

Das sind grünschwarze Tümpel, von Weiden überhangen, von Wasserjungfern übersurrt, das heißt: wie Tümpel und kleine Weiher, und auch große Weiher ist es anzusehen, und es ist doch nur Donauwasser, durch Steindämme abgesondert vom großen, grünen Strom, Altwasser, wie man es nennt.

Fische gibt es im Altwasser, viele; Fischkönig ist der Bürstling, ein Raubtier mit zackiger, kratzender Rückenflosse, mit bösen Augen, einem gefräßigen Maul, grünschwarz schillernd wie das Wasser, darin er jagt. Und wie heiß es hier im Sommer ist! Die Weiden schlucken den Wind, der draußen über dem Strom immer geht. Und aus dem Schlamm steigt ein Geruch wie Fäulnis und Kot und Tod. Kein besserer Ort ist zu finden für Knabenspiele als dieses gründämmernde Gebiet. Und hier geschah, was ich jetzt erzähle.

Die drei Hofberger Buben, elfjährig, zwölfjährig, dreizehnjährig, waren damals im August jeden Tag auf den heißen Steindämmen, hockten unter den Weiden, waren Indianer im Dickicht und Wurzelgeflecht, pflückten Brombeeren, die schwarzfeucht, stachlig geschützt glänzten, schlichen durch das Schilf, das in hohen Stangen wuchs, schnitten sich Weidenruten, rauften, schlugen auch wohl einmal den Jüngsten, den Elfjährigen, eine tiefe Schramme, daß sein Gesicht rot beschmiert war wie eine Menschenfressermaske, brachen wie Hirsche und schreiend durch Buschwerk und Graben zur breitfließenden Donau vor, wuschen den blutigen Kopf, und die Haare deckten die Wunde dann, und waren gleich wieder versöhnt. Die Eltern durften natürlich nichts erfahren von solchen Streichen, und sie lachten alle drei und vereinbarten wie immer: »Zu Hause sagen wir aber nichts davon!«

Die Altwässer ziehen sich stundenweit der Donau entlang. Bei einem Streifzug einmal waren die drei tief in die grüne Wildnis vorgedrungen, tiefer als je zuvor, bis zu einem Weiher, größer, als sie je einen gesehen hatten, schwarz der Wasserspiegel, und am Ufer lag ein Fischerboot angekettet. Den Pfahl, an dem die Kette hing, rissen sie aus dem schlammigen Boden, warfen Kette und Pfahl ins Boot, stiegen ein, ein Ruder lag auch dabei, und ruderten in die Mitte des Weihers hinaus. Nun waren sie Seeräuber und träumten und brüteten wilde Pläne. Die Sonne schien auf ihre bloßen Köpfe, das Boot lag unbeweglich, unbeweglich stand das Schilf am jenseitigen Ufer, Staunzen fuhren leise summend durch die dicke Luft, kleine Blutsauger, aber die abgehärteten Knaben spürten die Stiche nicht mehr.

Der Dreizehnjährige begann das Boot leicht zu schaukeln. Gleich wiegten sich die beiden anderen mit, auf und nieder, Wasserringe liefen über den Weiher, Wellen schlugen platschend ans Ufer, die Binsen schwankten und wackelten. Die Knaben schaukelten heftiger, daß der Bootsrand bis zum Wasserspiegel sich neigte und das aufgeregte Wasser ins Boot hineinschwappte. Der kleinste, der Elfjährige, hatte einen Fuß auf den Bootsrand gesetzt und tat jauchzend seine Schaukelarbeit. Da gab der Älteste dem Zwölfjährigen ein Zeichen, den Kleinen zu schrecken, und plötzlich warfen sie sich beide auf die Bootsseite, wo der Kleine stand, und das Boot neigte sich tief, und dann lag der Jüngste im Wasser und schrie, und ging unter und schlug von unten gegen das Boot, und schrie nicht mehr und pochte nicht mehr und kam auch nicht mehr unter dem Boot hervor, unter dem Boot nicht mehr hervor, nie mehr.

Die beiden Brüder saßen stumm und käsegelb auf den Ruderbänken in der prallen Sonne, ein Fisch schnappte und sprang über das Wasser heraus. Die Wasserringe
hatten sich verlaufen, die Binsen standen wieder unbeweglich, die Staunzen summten bös und stachen. Die Brüder ruderten das Boot wieder ans Ufer, trieben den Pfahl mit der Kette wieder in den Uferschlamm, stiegen aus, trabten auf dem langen Steindamm dahin, trabten stadtwärts, wagten nicht, sich anzusehen, liefen hintereinander, achteten der Weiden nicht, die ihnen ins Gesicht schlugen, nicht der Brombeersträucherstacheln, die an ihnen rissen, stolperten über Wurzelschlangen, liefen, liefen und liefen.

Die Altwässer blieben zurück, die grüne Donau kam, breit und behäbig, rauschte der Stadt zu, die ersten Häuser sahen sie, sie sahen den Dom, sie sahen das Dach des Vaterhauses.

Sie hielten, schweißüberronnen, zitterten verstört, die Knaben, die Mörder, und dann sagte der Ältere wie immer nach einem Streich: »Zu Hause sagen wir aber nichts davon!« Der andere nickte, von wilder Hoffnung überwuchert, und sie gingen, entschlossen, ewig zu schweigen, auf die Haustüre zu, die sie wie ein schwarzes Loch verschluckte.

Das Duell der Pferde

Die beiden Pferde, die beiden Hengste, fuchsrot, mit großen Glitzeraugen, wie schlugen sie mit den Schwanzfeuerbränden in die Mückenschwärme, die sie wolkicht umbrausten! Die Schwänze züngelten ihnen im Schwung fast bis zur Brust und im flatternden Bogen zurück dann, steil abstehend, daß sie dem Lenker auf dem Bock des Wagens die Nase kitzelten. Die Bäume flogen, und das Land dehnte sich mit Dächern und Weihern, die blitzend und verstreut lagen, wie Silbertaler auf die Wiesen geworfen.

Seit zwei Jahren standen die Hengste im Gespann, und wenn der Zuruf des Herrn sie traf, schmissen sie die Köpfe hoch und griffen aus, als wollten sie wie im Rennen einer dem andern entkommen, aber die Deichsel blieb zwischen ihnen, und dann stießen sie mutwillig die nassen Mäuler gegeneinander, scherzend, und stampften die Landstraße.

Im Stall polterte ihr träumender Huf gegen die Planken. Wenn eine Tür knarrte, ein Luftzug kam, spitz sausten die Ohren nach oben, erregte Flämmchen, und die Köpfe wendeten sie einander zu, und mit großen, irrsinnigen Augen sahen sie sich an. Das spiegelte rund und glänzend, und das Glänzende ging tief hinein, ein gläserner Schacht, kein Ende, und im Tiefsten ein rotes Funkeln, und wie ein Funke sprangs über, von Aug zu Aug. Dann warfen sie sich mit allen vier Beinen gleichzeitig hoch und weg voneinander, preßten sich eng an die Holzwand, erschrocken, Teufelei in allen Blutbahnen.

Der Besitzer des Gutes hatte im Stall noch zehn und mehr Pferde stehen, Ackergäule mit zottigen Büscheln an den dicken Fesseln, auch Reitpferde, vornehme Geschöpfe mit fahrigen Bewegungen, aber den beiden roten Hengsten gehörte seine ganze Liebe. Es war seine größte Lust, sie im Zügel zu spüren, und da er schon älter wurde, stieg er nicht mehr so oft und so gern wie früher in den Sattel, saß lieber auf dem hohen Sitz des Wagens und rollte auf der flammenden Straße in den dunkelglühenden Sommerabend. Oft auch stand er im Stall bei den Tieren, deren nickende Köpfe kreisten wie die Pendel von Uhren, aber nicht mit Öl, mit Blut genährt.

Wenn die Köchin mit dem Messer dem großen Fisch zu Leibe geht, wie fliegen da die Schuppen, liegen glänzend hingestreut auf dem Brett, silbrig, viele flach übereinander! So lag eine Mappe vorm Herrn von M., dem Besitzer des Gutes, lag wie ein toter Fisch, mit aufgeschlitztem Leib, und weiße Blätter waren verstreut auf dem Tisch, wie Schuppen des Mappenfisches. Da waren Stiche von Dürer, einfältig, kunstvoll und gewaltig, Abbildungen nach Holzschnitten der Meister des großen deutschen Mittelalters, und alle Blätter des Hans Baldung Grien, der sich mit Fäusten, Krallen und Nägeln an das Messer hing, mit dem er das Holz der Platte zerstach und zermarterte wie der Lustmörder sein Opfer im dunklen Waldbusch. Das grelle Licht der Tischlampe überspülte die weißen Vierecke, auf denen zwischen vier schwarzen Grenzlinien das Ungeheuerlichste sich krümmte. Zitternd betrachtete Herr von M. Blatt um Blatt und gab es an die Freunde weiter, die um den Tisch gebeugt saßen und den lustmörderischen Holzschneider belauschten.

Das Krachen von Hufschlägen hämmerte auf den Kopf des Knechtes, aber er erwachte nicht, es war ihm nur ein Dröhnen im Traum. Aber da stach ihn wie eine Nadel ein kurzes, hohes, schrilles Wiehern, und jetzt fuhr er auf und drehte das Licht an. Er hatte Stallwache, sollte er nach den Pferden schauen? Der krankhaft bleiche Leib des heiligen Sebastian, der, eine bemalte Holzfigur, über dem Fußende seines Bettes stand, war mit Pfeilen gespickt, und jeder Pfeil trug am Schaft einen blauen oder roten oder gelben fröhlich flatternden Wimpel. Er erwachte nun erst ganz, angelte sich mit der großen Zehe die Schuhe heran und ging. Als er die Tür schloß, wehten die Pfeilfähnchen des Heiligen lustig und grausam empor.

Auf dem Blatt des Hans Baldung Grien, das Herr von M. eben in der Hand hielt, tobte eine entfesselte Schar von Pferden, von riesigen Rössern und Gäulen, mit runden, kugelrunden, wie aus Stein geschnittenen, menschlichen Augen, mit prallen Schenkeln, auf denen die hervortretenden Muskeln wie Schlangen sich wanden. Die Leiber waren nicht aus Fleisch, nicht aus zuckendem Pferdefleisch, aus weißem Erz waren diese Leiber. Die Gesichter keine Pferdegesichter: Menschengesichter, Fratzen von Dämonen, und die starren Schwänze bogen sich, wie der Wasserstrahl sich biegt, der aus einem Brunnenrohr hart niederfällt. Die langen Leiber wanden sich im Spiel und Kampf und Krampf verschlungen, wie die Strangenden eines aufgedrehten, ausgefransten dicken Stricks.

Im Stall war das so gewesen: Spielend hatten die beiden Hengste die warmen Nasen aneinander gerieben. Und spielend, nachlässig mit dem Schwanz schlagend, begann jener, der einen kreisrunden, schwärzlichen Fleck neben dem Ohr trug, mit spürendem Necken dem andern den Hals auf und ab zu fahren, auf und ab, immer auf und ab. Er entblößte leicht die Zähne, der Gefleckte, und kniff scherzend in das pralle Fell. Unwillig hob der andere den Kopf, stieß zurück, daß dem Gefleckten das runde Stück, das er zwischen den liebkosenden Zähnen gepackt hielt, fast entwischte. Er suchte das Entgleitende, ihm fast schon Entglittene festzuhalten und biß ein wenig stärker zu. Ein wenig stärker nur, aber so, daß es dem andern weh tat. Der schnappte nach dem Rücken des Gefleckten. Der Biß ging tief, ging so tief, daß das Fell platzte und der Zahn ins Fleisch drang.

Da begann das Duell der Hengste. Im Auge des Gefleckten glühte es auf, ganz aus dem Tiefsten. Er stülpte die Lippen vor zu einem Trichter, die beiden Halbbogen der langen Zähne zeigten sich, und wütend biß er in das Fleisch des andern, biß, riß und riß einen Streifen des Fells los, das triefend, schlappend, handlang herabbaumelte. Der Gebissene stieß den hohen, schrillen Ton aus, der den Knecht geweckt hatte. Schon saßen seine Zähne im Rücken des Gefleckten, und schon schlenkerte dem ein armlanger Streifen, ein armlanger roter Fellstreifen klatschend an die Bauchwand. Die Augen rot unterlaufen, die Köpfe Masken des Hasses, standen sie herzschlaglang unbeweglich. Dann setzten sie ihr blutiges Geschäft fort, ohne daß noch mehr als ein Stöhnen aus ihren Gurgeln sich erhoben hätte.

Als der Gefleckte den Zahn des Freundes im Fleisch gespürt hatte, war ihm wie einem Studenten, dem man einen Schlag ins Gesicht versetzt, wie einem Mädchen, dem man die Unschuld geraubt hat. Und ob das beleidigte Mädchen sich Genugtuung verschafft durch Dolch oder Tränen oder durch beides, oder ob die Scham eines Kindvolkes von dem unzüchtigen und neugierigen Finger des Deichselnachbarn berührt wird (die Deichsel ist hier eine bebende Grenzlinie) und hunderttausend blaue Männer auf dieser und hunderttausend rote Männer auf jener Seite aufstehen und sich das Fleisch von den Knochen schälen die beiden Pferde, die beiden roten Hengste, der Gefleckte und der Ungefleckte, gehorchten dem Gesetz wie der Student und das Mädchen und das taumelnde Volk.

Der Knecht riß die Tür auf, ein wilder Dunst schlug ihm entgegen, im ungewissen Licht der Lampe, die von der Decke baumelte, sah er das Furchtbare, und, als wolle er die beiden trennen, hob er die Arme, aber »Jesus und Maria« stammelte er bloß in seiner Verwirrung und lief davon, ließ die Tür offen stehn, lief quer über den Hof zum Herrenhaus, und als er sich einmal umblickte, sah er den viereckigen Türausschnitt rot glänzen und im Ausschnitt ein schwarzes, schiebendes Gewoge. Der Mond tanzte gelb über dem Dach, und ein paar Wasserpfützen schimmerten wie dunkler Samt. Im Zimmer rief er nur: »Die Hengste!«, daß Herr von M. das Blatt des Hans Baldung Grien hinlegte, den Freunden winkte, zu bleiben, und dem Boten folgte.

Blutlachen hatten sich zu den Füßen der beiden Pferde angesammelt. Verzaubert waren sie und kämpften längst nicht mehr wie Kämpfer voll Zorn und Wut, sie taten, als erfüllten sie eine Pflicht und erfüllten sie gut und bis zum letzten. Still hielt der Gefleckte, spürte den krachenden Biß, spürte den fetzenden Riß, der ihm einen blutbeschmierten Streifen von den Rippen löste. Dann biß er zu, der Gefleckte, und schälte dem andern einen Riemen herunter, als ob er von einem Baum die Rinde entferne. Und an ihn kam dann wieder die Reihe, stillzuhalten, und die langen Fetzen schlotterten ihnen von den bloßen Rippen. Als Herr von M. den Stall betrat, war die Handlung, die wie eine blutrauchende Zeremonie stampfender Götter sich abgespielt hatte, zu Ende. Sie standen noch, mit wankenden Knien, blutüberströmt, und als ob sie wie Pferde im Turnier Decken und Schabracken trügen, verhüllte ein blutleuchtender Mantel, verhüllten die herabhängenden Streifen ihre Beine.

Natürlich konnte auch der
Tierarzt nicht mehr helfen, und die Duellanten mußten erschossen werden. Die Freunde fuhren durch die Nacht heim. Am Kreuzweg liefen die vier Wege nach vier Himmelsrichtungen davon, und die Wagen rollten, jeder auf seinem bleichen Band, und der käsgelbe Mond stieg.

Als einer der Heimkehrer, der allein sein Fahrzeug lenkte, und den die geisterfahle Einsamkeit zu bedrücken begann, mit Freude schon den spitzen Kirchturm seines Dorfes hinter einem Hügel aufsteigen sah, vermeinte er ein Geräusch hinter sich zu hören. Er drehte sich um auf dem Bock, und zwei Pferdeskelette, mit Gesichtern von Menschen, mit Schwänzen von Teufeln, trabten hinter ihm drein, und zwischen den nackten Rippen leuchtete das rote Herz und die blaue Lunge, schaukelte der stinkende Knäuel der Eingeweide.

Am andern Morgen lagen die beiden zerfleischten Leichen noch im Stall, und Herr von M., der zu lächeln versuchte, zu lächeln über den Ehrenkodex der roten Hengste, wäre fast ausgeglitten und gestürzt im schlüpfrigen Blut. Da ging er schnell ins Freie.

Die Windhunde

Diese Geschichte spielt in Südtirol, in einem Tal bei Bozen, auf einem Gut in einem Tal bei Bozen, und spielt um das Jahr 1800, aber durch die Täler rannen die Bäche wie heut, und die Berge trugen den roten und weißen Wein, den sie heut tragen.

Der Besitzer des Gutes, ein Herr von Pachold, hielt sich im Zwinger sieben Windhunde von edler Art, deren Pflege und Fütterung er dem zuverlässigsten seiner Knechte anvertraut hatte. Er liebte sie alle sieben, mehr fast, als man Tiere lieben soll, das tun viele Menschen, und mögen ihre Gründe dafür haben. Zwei davon waren ihm vor allem wert, Rubin und Flamme, die rotschnäuzigen, die breitbrüstigen, die flinksten und stärksten in der springenden, schnappenden, heulenden Schar. Und diese beiden nur, Rubin und Flamme, die Verwöhnten, waren auch in den Zimmern des Hauses zugelassen, und sie empfanden mit wildem Stolz dieses Vorrecht und verteidigten es und litten es nicht, wenn frech oder schlau einer der Genossen sich gleiches herausnehmen wollte.

Graue Haare hatte der Herr von Pachold an den Schläfen, und weil er gern gut aß und gern gut trank, war ihm ein kleiner Spitzbauch zugekommen. Aber wie er quer durch den Garten ging, sich schnell und zierlich bückte, die Blume pflückte und kühn weiter schritt, war er kein alter Mann, kein böser, alter Mann. Die Nase saß ihm schief im Gesicht, das war nicht lächerlich, es sah verwegen aus und hochmütig und so lustig, daß jedem das Kichern im Hals erstickte.

In wichtigen Geschäften reiste der schiefnasige Herr nach Verona. Das war eine Reise, die er im Jahre dreimal und viermal und öfter machte, eine Reise, die zusammenhing mit Weinberg und Geflügelhof, mit Wald und Saat und Ernte – und gleichviel, womit sie noch zu tun hatte, er reiste diesmal wie immer unbefragt und ohne Erklärungen abzugeben, südwärts der Ebene zu.

Der junge Vetter, der ihn zu besuchen kam, verfehlte den Gutsherrn. Er kam unangemeldet, der Herr Vetter Johannes, er kam von einer deutschen Hochschule zurück, und weil das Gut Pachold auf seinem Reiseweg lag, machte er ein paar Tage Rast, drei Tage nur, seine Eltern warteten ja auf ihn, und diese drei Tage verbrachte er also allein mit Frau Maria, dem Eheweib des Schiefnasigen. Es schien in der Folge, daß ihm das gerade recht sein mochte, daß er den abwesenden Eheherrn wenig vermißte, gar nicht vermißte sogar, so angenehm machte es sich zu zweien. Ihm war alles wie ein Traum, wie ihm auf Pachold geschah, dem Jungen, und ein wenig träumte auch Frau Maria, und wußte es sich später nicht zu erklären, wie alles so rasch gekommen war, am ersten Tag gleich, und sie hatte es selber, verführt und Verführerin, so gelenkt. Sie redete sich nicht ein, daß sie den Vetter liebe, so verlogen war sie nicht. Sie hatte noch nie gespürt, was Liebe war, oh, sie hatte eine mächtige und süße Vorstellung davon, wie das sein mußte, aber ihr war es versagt geblieben im Leben. Nun, aber dann durfte sie erst recht (wer konnte sie da tadeln? das glaubte sie sich zugestehen zu können,) einen vollen Atemzug nehmen von dem Duft des Frühlings, den ein glücklicher Wind durch ihren Herbst trug. Ja, so drückte sie sich in Gedanken aus, feierlich und in gehobenen Wendungen und ein wenig übertrieben, wie man das leicht tut, um einer schlechten Sache ein gutes Kleid umzuhängen. Durch ihren Herbst, durch den sie an ihres Mannes Seite ging, wie sie an seiner Seite durch ihren Frühling, durch ihren Sommer gegangen war, in der gemäßigten Wärme einer kinderlosen Vernunftehe, in einem gleichmäßigen Dahingleiten der Tage und Monate und Jahre, in einem gegenseitigen höflichen Gewährenlassen, von dem sie bisher wenig oder keinen Gebrauch gemacht hatte, er, vielleicht, auch nicht, oder, vielleicht, vielen. Warum fuhr er so oft nach Verona? Aber das wußte sie nicht, und wollte sie nicht wissen, und vielleicht tat er es wirklich nur der Ernte wegen, der Weinberge wegen und des Geflügelhofes.

Der Geliebte, ach, er war es nicht! lächelte Maria, reiste am vierten Tage wieder ab, und obwohl er sich sehr zusammennahm, der Dienerschaft wegen, die ihm das Gepäck an den Reisewagen brachte: daß seine Stimme zitterte, als er »Lebewohl« und »Auf Wiedersehen« sagte, konnte er nicht verhindern, und daß sie nur »Lebewohl« sagte und nicht »Auf Wiedersehen«, fiel ihm vielleicht gar nicht auf, und ihre Stimme zitterte gar nicht. Der Wagen fuhr an, sie sah sein Gesicht am Fenster, er brachte kein Abschiedslächeln fertig, und eine Abschiedsträne, er hätte sie gern geweint, durfte nicht sein, so sah er verschlossen und fast wie abweisend aus und so sah sie sein strenges Gesicht kleiner werden, und schwankend vergings.

Als Maria sich umwandte, ins Haus zu gehen, sprang ihr Rubin entgegen und drückte seinen Kopf in ihre Hand. Der Hund erschrak, als sie zornig mit dem Fuß aufstampfte und ihm »Marsch! Fort!« zurief. Sie errötete über ihre Unbeherrschtheit und wollte das Tier wieder zurückrufen, aber sie unterließ es. Als sie sich an jenem ersten Abend auf dem Ruhebett aufgerichtet und die verwirrten Haare zurechtgeschoben hatte, war ihr Blick dem Blick Rubins begegnet, der sie unverwandt angesehen hatte, wohl schon eine ganze Weile, weil er, wie oft, auch diesen Abend im Zimmer gewesen war, ein stummer und unschuldiger und unverstehender Zeuge. Sie sah den Hund nicht mehr gern, seitdem.

Ohne Befangenheit ging sie eine Woche später, als der zurückkam, ihrem Mann entgegen. Die Umarmung, mit der er sie begrüßte, war inniger, als es von seiner sonst immer gleichmäßigen Freundlichkeit zu erwarten war. Das Abendessen ließ sie im Garten auftragen. Die Stimmen der Nacht verstummten nicht, ein Vogel schwirrte durchs Gezweig, im Blau schwamm der Mond, und die Rücken der Berge waren wie gewölbte Tierleiber, warm und sinnlich. Der schiefnasige Herr sprach schnell und erregt, und als sie vom Besuch des Vetters erzählte und von seinem Bedauern, ihn nicht angetroffen zu haben, horchte er kaum recht hin. Der werbende Klang seiner Worte setzte sie in leichte Verlegenheit, und als er ihr das Handgelenk küßte, und das hatte er lang nicht mehr getan, und sie seine Lippen beben fühlte, wußte sie, daß er die Nacht bei ihr zubringen würde. Sie hätte am liebsten »Nein« gesagt, aber das erschien ihr lächerlich, und womit hätte sie die Weigerung auch begründen sollen, und so verbarg sie ihre Unruhe und ging lächelnd, und daß sie dabei stolperte, war nur eine Ungeschicklichkeit, warum gab sie nicht besser acht? an seinem Arm die Treppe zu ihren Zimmern hinauf.

Als am andern Morgen, sie saßen beim Frühstück, das Rudel der Windhunde, aus dem Zwinger entlassen, Freudentänze vor ihnen aufführte, johlend, im Spiel nacheinander schnappend, als da Rubin in wütender Zärtlichkeit dem langentbehrten schiefnasigen Herrn die Pfoten auf die Brust setzte und ihm den heißen Atem ins Gesicht stieß, und der scherzend sagte: Nun, mein Guter, erzähl! Was war alles los, seit ich weg war? war Maria rasch aufgestanden, verwirrt und erschrocken. Und als sie ihren Mann bat, Rubin töten zu lassen, und ihn bat, sie nicht nach dem Grund zu fragen, warum sie das wünsche, hatte der Schiefnasige sie erstaunt angesehen. Vielleicht, dachte er, vielleicht hat das Tier sie gebissen, im unerwarteten Ausbruch wilden Triebs, und er wußte, wie das kränkt. Oder es ist eine Laune, dachte er, aber sie hat sonst keine Launen, und sie bittet mich selten um etwas, und da will ich es ihr nicht abschlagen, und es sei wie es sei, aber schade ist es um das schöne Tier, und dabei winkte er schon einem Knecht. Sie fütterten am Teich die Schwäne, die langhalsig und eitel ihre Kreise zogen, da fiel ein Schuß. Maria bebte nicht, als sie im Weitergehen die Hand auf den Arm ihres Gatten legte. Rubin war tot. Es gab nicht mehr zwei lebendige Augen, und wenn es auch nur Hundeaugen waren, auf deren Grund sich ein Bild spiegelte, das niemand sehen sollte. Der Morgenwind rauschte in den Büschen und die verschleierte Luft versprach einen schönen Tag.

Der schiefnasige Mann hatte gut gespeist, wie er das liebte, und den schweren roten Wein seines eigenen Wachstums dazu getrunken, vielleicht ein wenig zu viel getrunken an dem heißen Mittag, und nun lag er im kühlen Zimmer auf dem niederen Lager und sah durchs Fenster ein Stück knallblauen Himmels und graugrün schimmernde Weingärten, und meinte die kochende Luft zu sehen, die über den Hängen in Wellen stieg. Er war mißmutig, ohne Grund, schien ihm, und er drehte sich auf dem Lager, und erblickte Flamme, den Hund, der in der Ecke lag, den Kopf auf den vorgestreckten Pfoten, und ihn unverwandt ansah. Wo ist der Rubin jetzt? fragte er den Hund, der eine unverständliche Antwort mit dem Schwanz auf den Boden klopfte. Warum wollte sie das Tier tot haben?
Es war unrecht von ihr und von mir. Ich hätte ihr nicht nachgeben sollen. Nur ein Tier bist du, murrte er, bist nur ein Tier, schrie er Flamme an, den Hund, der kurz und beleidigt zurück bellte. Ach was! Wein! schrie er, indem er die Tür aufriß, an der Schelle zog. Anna! Einen Krug Wein! rief er schallend in den Flur hinaus, und das Echo ahmte ihn nach.

Sie kam mit dem Wein und stellte ihn auf den Tisch und wollte wieder gehen dann, aber er ließ sie nicht gehen. Er sah ihre dunklen, verschwimmenden Augen und sagte: Gieß ein! und sagte: Trink! Sie trank, und er trank auch, und sie wollte wieder zur Tür jetzt, aber er hieß sie bleiben, und sie blieb. Er lachte, und sie lachte und ihr Mund war rot und trocken, und er war sonst nicht der Mann, der sich mit Mägden abgab, mit Mägden im eigenen Hause nicht, und das eigene Nest reinhalten, das wenigstens sollte man, ging ihm durch den Kopf, als er den Arm um sie legte und ihre Bereitwilligkeit spürte und dann nicht mehr widerstand, in keiner Weise.

Er war eingeschlafen dann, und als er erwachte, sah er Flamme, den Hund, in der Ecke liegen, wo er vorher gelegen war, den Kopf auf den vorgestreckten Pfoten und die Augen auf ihn gerichtet. Herr von Pachold zog die schiefe Nase kraus.

Da stand der Wein noch, er trank, da hatte die Magd draus getrunken. Er hob das Glas hoch, es zu Boden zu werfen, und er wußte nicht, warum er auf den Hund damit zielte und den Schwung gerade noch so bremsen konnte, daß nur die Scherben dem Tier auf den Kopf prasselten und nicht das Glas selber ihn traf. Der Knecht war an die Launen der Gebietenden gewöhnt, (was ging es auch ihn an? Sollten sie!) und er dachte nicht viel dabei, als er den Befehl vollzog und im Garten, an der Mauer, da wo der Holunderbusch stand, da wo er gestern einen Hund niedergeschossen und ihn auch verscharrt hatte, heut einem zweiten eine Kugel in den Kopf jagte. Die Grube war nicht tief und war leicht wieder zu öffnen, einen zweiten Kadaver dazu zu legen. Und dem Holunderbusch, sicher, würde das gut bekommen, die Erde verwandelt alles und macht aus Eklem noch gute Speise.

Maria rief den Hunden. Als die Tiere sie umspielten und sie sah, daß nicht nur Rubin fehlte, sondern jetzt auch Flamme, als sie das sah und nach dem Grund fragte und sie von dem Knecht erfuhr, was geschehen war, verstummte sie tief. Der Kiesweg lief in schnellen Windungen zu dem kleinen Tempel empor. Sie setzte sich auf die Steinbank, stützte die Hände auf die sonnenwarmen Platten und träumte in das Wipfelneigen. Sie verbot ihren Gedanken, sich mit dem Schicksal der beiden Windhunde zu beschäftigen. Wofür mußten die zwei schönsten des Rudels sterben?

Nun, nun, sie waren tot, und das war gut so, und sie würde ihren Mann so wenig nach dem Grunde fragen, als er sie danach gefragt hatte.

Sie hatten sich ja auch sonst gegenseitig nicht viel gefragt, hatten vieles und das meiste unausgesprochen gelassen, was sollten sie nun viel miteinander reden darüber, was es mit dem Geheimnis der beiden Hunde für eine Bewandtnis hatte. Sie spürte, und fast mit Schmerz und Scham, daß es Menschen gab vielleicht, oder gegeben hatte, tiefer und mächtiger Gefühle fähig, bei denen es nicht so wie bei ihnen im Spiel am Rand der großen Leidenschaften abgelaufen wäre. Sie erkannte wohl auch, daß sie klein waren, weil sie dergleichen so leichthin abtaten, aber so waren sie nun einmal beschaffen, und es gab auch kein Gesetz, das streng über ihnen geherrscht hätte, glaubenslosen Kindern einer glaubenslosen Zeit, und für sie beide war schon viel, was sie an Sühne getan hatten, wenn es auch nur wenig gewesen war.

Man erinnert sich vielleicht, daß es im Mittelalter die Einrichtung der Prügelknaben gegeben hat, daß, wenn der Prinz Strafe verdiente, der Spielgefährte sie bekam. Hier wurden zwei Hunde in Stellvertretung getötet, hier luden Menschen die Sühne für ihre Schuld ab auf die vierbeinige, nichtsahnende Kreatur, im Sinnbild wurde einer Gerechtigkeit Genüge getan, die, gegen Menschen geübt, allzu streng erschienen wäre.

Die Geschichte der Monika

Der große Krieg hatte den bekannten unglücklichen Ausgang genommen, Deutschland lag besiegt am Boden, schämte sich seiner Niederlage, begriff sie nicht, tat Buße dennoch, wand sich in Schmerzen und jubelte ingrimmig über seine Not in selbstanklagender Lust. Bruderkampf tobte durch das ausgehungerte Land und eine Teuerung erhob sich, in Ausmaßen, wie man es nie für möglich gehalten hätte, deren Ursache niemand ganz klar sah, am wenigsten das einfache Volk, dem mit dem lateinischen Wort Inflation auch nichts Rechtes gesagt war, und nur spüren mußte, daß ein Pfund Schweinefleisch bald so viel kostete wie einst die ganze Sau. Vergnügungsreisende der Siegerstaaten fielen in Schwärmen über deutsches und österreichisches Gebiet her. Die Geldkurse ihrer Länder standen hoch und sie praßten mit Wenigem schlaraffisch in Berlin und München und Wien. Und wie drollige und schwarzbefrackte Stelzraben wippend und lärmend die Beutewiese abschreiten, abhüpfen, abflattern, schlaue Aasvögel, von überall her eingefallen, so taten sie, die Reisenden, und so klapperten von Bambergs Kirchenwänden fremde Zauberworte zurück und gelbhäutige Menschen beäugten spöttisch und staunend in Würzburg Mauer und Tor.

In Schwarzenbach, einem Dorf der bayerischen Berge, lebte die Witwe eines im Kriege gefallenen Postboten mit ihrer achtzehnjährigen Tochter von den kargen Bezügen der Hinterbliebenenfürsorge. Es reichte nicht dahin und nicht dorthin, die Schuhe hatten durchwetzte Sohlen, Schmalhans war Küchenmeister, die beiden Frauen mußten sich nach einer Erwerbsmöglichkeit umtun – und was wäre näherliegend gewesen im Alpenland als der Gedanke, aus dem Fremdenverkehr Nutzen zu ziehen?

Mit dem Frühjahr kamen nicht nur die Schwalben wieder und die Schlüsselblumen, auch voreilige Fremde tauchten auf, lagen an den Wiesenrändern herum, sich bräunen zu lassen. Der Haselstrauch rauschte mit grünen Blättern im Wind und weiße Frauenfinger probten, wie saftgeschwellt und bebend die weggebogenen Äste schnalzend in die Ruhelage zurücksprangen. Und die runde Frühsommersonne ging nicht mehr unbeachtet, aus Wäldern aufsteigend, in Wäldern untersinkend, ihren rosigen Weg. Die Fremden schmeichelten ihr wie der Primadonna einer großen Bühne und es hätte nicht viel gefehlt, daß sie in die Hände klatschten, wenn sie bezaubernd lächelnd abends unterging.

In dieser Zeit setzte die Witwe ein Zimmer ihrer kleinen Wohnung in den besten Stand, wischte und putzte, ließ keinen Kasten ungehoben, befestigte Vorhänge an den Fenstern, stellte einen Strauß Wiesenblumen auf den Tisch, nagelte einen Zettel: »Zimmer zu vergeben« an die Haustür, und, wie die Katze auf die Maus, lauerte sie auf einen Mieter. Sie hatte Glück über Erwarten, denn schon ein paar Tage später konnte sie einen hochgewachsenen Herrn im hellen Reisemantel über die krächzende Stiege in den ersten Stock geleiten. Der nahm den Hut nicht ab im Zimmer, warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, griff sich eine Blume aus dem blaubemalten irdenen Gefäß, steckte sie sich ins Knopfloch und während er sich prüfend in dem kleinen Spiegel betrachtete, sagte er: Gemietet! Dann lachte er ohne Grund schallend auf, sich immer noch im Spiegel musternd, drehte sich scharf um dann, schrie: Der Preis? und schlug die Witwe mächtig auf die Schulter, indem er sie belustigt anstarrte. Die Witwe nannte ihn, sie nannte ihn zögernd und mit ein wenig schlechtem Gewissen, er schien ihr reichlich hoch, aber er erlegte ihn seelenruhig für eine Woche im voraus und ließ sich auch nicht herausgeben auf den Schein, mit dem er zahlte, obwohl der Rest den Betrag der Miete für weitere zehn Tage gedeckt hätte.

Der Hochgewachsene war ein Deutsch-Amerikaner, hieß John Smith und sprach so gut und besser deutsch als mancher Berliner, der schnarrend sich nach dem Weg zur Bärenspitz erkundigte. Die Bärenspitz war ein hoher Berg, und wenn der Amerikaner aus seinem Zimmer den Arm streckte, konnte er ihn greifen, so dicht lag er vorm Fensterbrett: Die Tannen standen zierlich und nadelgerade, und auf den handtellergroßen Waldblößen lagen die gefällten und geschälten Stämme kreuz und quer und über- und durcheinander wie Zündhölzer. Herr Smith fühlte sich wohl in seiner Einsamkeit. Mit seinen klaren, grünen Augen beobachtete er, wie Rehe vorsichtig sich vom Waldrand lösten, und mit seinem vortrefflichen Feldstecher hinüberlugend saß er, die Beine unterm Tisch, fast erschrocken Aug in Aug mit den Tieren. Aber wenn er in die Hände klatschte, sie zu verscheuchen, merkte er, daß viele tausend Meter hinüber waren, und daß der armselige Schall grad noch über die Straße flog, Spatzen aufwirbelte und dann in der blauen Luft zerging.

Monika, die Tochter des Hauses, brachte ihm jeden Morgen Milch, Butter und Brot aufs Zimmer. Oft hieß er sie bleiben, und wenn die Sonne lustig auf den weißen Brettern tanzte, er seine Buttersemmel kaute, die süße Milch trank und abwechselnd die Bärenspitz betrachtete, die vorm Fenster glänzte, und wiederum das frische Frauenzimmer, das ihm gegenüber saß, wurde er strahlender Laune, lachte und plauderte, daß die Witwe einen Stock tiefer in der Küche es hörte und dachte: Gott sei Dank, er ist zufrieden und bleibt wohl noch eine Woche.

Das Mädchen ließ sich erzählen, wies drüben über dem großen Wasser zugehe, und John erzählte gerne. Von dem sagenhaften Geldkönig mit dem zerknitterten Apfelgesicht, der nur Reisbrei aß, nichts sonst als Reisbrei, aber auf goldenem Teller gereicht, der seinem Hund ein Haus gebaut hatte, größer als das, in dem sie beide jetzt saßen, und der eine große, gelbe, feuergelbe Katze sein eigen nannte, die er mit Kanarienvögeln fütterte. Die Vögel, erzählte John Smith, hockten
trillernd auf einem künstlichen Baum, und während der sagenhafte apfelgesichtige Geldkönig seinen Reisbrei vom goldenen Teller löffelte, sah er zu, wie die feuergelbe Katze die feuergelben und trällernden Vögel sich vom Baum pflückte. Dann erstarrte Monika vor Schrecken, und die grünen Augen des flachshaarigen John schienen ihr zu leuchten wie die Augen der bösen Katze, aber sein trompetendes Lachen holte sie in die Wirklichkeit zurück und sie lachte befreit mit.

Drei Wochen blieb Herr Smith. So plötzlich, wie er gekommen war, reiste er wieder ab. Die Witwe war traurig, einen so guten Gast bekam sie so bald nicht wieder, und auch Monika lief einige Tage mit geröteten Augen herum. Aber sie hatten gelernt, wie einträglich es sein konnte, Fremde zu beherbergen, und stellten in der Folge noch ein zweites Zimmer zum Vermieten bereit, während sie sich selber mit der Küche als Wohnraum begnügten und zusammen in einer Kammer schliefen. Zwar so viel wie der Amerikaner zahlte niemand mehr und es gab oft ein wüstes Feilschen des Preises wegen und Unzufriedenheit auf beiden Seiten.

So verging der Sommer, der Herbst kam, ein früher und kalter Herbst, und der Oktober brachte schon Schnee. Die Fremden saßen längst wieder in den großen Städten. An einem weißen Februarmorgen kam aus der Küche ein dünnes, zartes Winseln, wie von jungen Katzen, wie von jungen Katzen, denen die Augen noch verklebt sind, kurz zuerst, stoßweise, und dann ging das Winseln in ein langes, fadengleich sich hinziehendes zittriges Weinen über. Türen schlugen auf und zu, Frauenstimmen wisperten aufgeregt, der Boden knackte, das Winseln vertröpfelte, aber in Pausen meldete es sich immer wieder, hoch und fast wie triumphierend jetzt. Nicht junge Katzen lagen im Stoffrestenest auf der Ofenbank, nein, der Monika ein Kind im Arm. Die Witwe weinte und jammerte, während sie Windeln wusch und Krankensuppen kochte, knurrte böse die Tochter an, während sie ihr die Kopfkissen zurechtschüttelte, schrie zornig auf die Ungeratene ein, die bleich und matt im Bett lag und stumm alles über sich ergehen ließ. Der Vater war weit, weit in Amerika, über dem großen Wasser drüben, wie sollten sie dahinkommen? Leute, die John Smith hießen, gab es viele, Johann Schmidt: wie häufig ist der Name! und wie groß ist New York, groß und unabsehbar! Nach kurzem Bemühen gaben es die beiden Frauen auf, den Mann zu finden, der wohl nicht einmal ahnte, wenn er durch die schwarzen Wolkenkratzerschluchten hastete, daß in einem grünen Tal der bayerischen Berge ihm ein Sohn heranwuchs.

Der Unwille der Witwe gegen den ungebetenen kleinen Gast saß wohl nicht sehr tief, sonst hätte sie ihn nicht so eifervoll betreut und wohl auch nicht so glücklich gelacht, wenn der kleine Hans sie mit festen Fäusten ins Gesicht schlug. Und bald, nach Großmutterart, trieb sie es völlig närrisch mit dem Kind, und war von Herzen froh, daß es da war, und hätte es sich gar nicht mehr wegdenken können. Zornig nur wurde sie, nach der Weise der einfachen und sparsamen Leute, wenn sie bedachte, wie billig der flachsköpfige und mädchenverführende Amerikamann da zu einem Kind gekommen war, für das er nichts zu zahlen hatte, obwohl man doch sonst im Leben nicht das geringste umsonst bekam und für jeden Hund tief in die Tasche greifen mußte.

Monika, die junge Mutter, saß in der ersten Zeit viel am Fenster und sah in den Schnee hinaus, lange, und wenn sie den Blick dann wendete zum Ofen, von dem die Funken flogen, dachte sie vielleicht an die Geldkönigkatze und die feuergelben Kanarienvögel. Den kleinen Hans nährte sie an der Brust, und er gedieh, und die ersten Worte, die er sprach, waren nicht amerikanisch, er sprach deutsch und bayerisch und war vergnügt und kugelrund.

Ein Jahr ging dahin und ein zweites und drittes. Von der Witwenpension und dem Geld, das sie im Sommer durch Vermieten einnahmen, konnten die beiden Frauen gemächlich und sorgenlos leben. Hans lief schon auf kurzen strammen Beinen über die Dorfstraße, und daß er keinen Vater hatte, bekümmerte ihn vorerst wenig.

Vielleicht aber bekümmerte es Monika, die Mutter, doch die Quelle des Kummers, wenn sie ihn empfand, mußte tief und versteckt sitzen, wie eine stille Gewalt, nicht nennbar und nicht genau zu erspähen. Mit Mühe fast besann sie sich, daß in Amerika ein Mann war, flachshaarig und mit grünen Augen und einer Stimme wie eine Trompete, und daß da ein Kind herumlief, krähte wie eine Kindertrompete, das ihr Kind war und seins. Nur drei Wochen war John Smith dagewesen? Hatte sie ihn geliebt? War das gestern gewesen oder vor drei Jahren, kam er wieder oder kam er nie mehr wieder oder war er gar schon tot? Monika war von einem Gleichmut, der die Witwe manchmal erboste, daß sie sich oft sogar fragte, ob die Dahinträumende ihr Kind wohl liebe, wenn sie die ruhige und wie verdrossene Art sah, in der sie mit dem Hans umging, als sei er irgendein Kind und nicht ihr eigenes.

Wie eine Schnecke war sie, Monika, das Mädchen, Monika, die Mutter, ein Traumgehäuse um sich gewölbt, drin saß sie, von den zauberischen Wänden geschützt, durch nichts berührt, und das Leben, das wirkliche Leben, kam nur bis ans Gehäuse, pochte dran, klopfte dran, rüttelte dran. Monika lächelte und blieb drinnen und hörte nur wie im Halbschlaf die Kindertrompetenstimme des kleinen Hans.

Eine Gehstunde von Schwarzenbach entfernt liegt das Dorf, wo alle zehn Jahre von den Bewohnern der Leidensweg Christi im Spiel vorgeführt wird. Heuer traf es sich, daß gespielt wurde, und das war ein großes Ereignis, denn die bäuerlichen Künstler genossen viel Ruhm, aus aller Welt kamen Zuschauer und auch Leute aus dem Lande von jenseits des großen Wassers, von denen sogar besonders viele. Monika und ihre Mutter brauchten nicht zu fürchten, ihre beiden Zimmer nicht an den Mann zu bringen. Die Nähe des Spieldorfes war verlockend und sie hatten schon frühzeitig für den ganzen Sommer vermietet.

Wie einmal Monika im Garten arbeitete, kamen die Dorfstraße daher zwei Damen, eine junge und eine ältere, offenbar Mutter und Tochter. Sie waren gut und ein wenig auffallend gekleidet, Ausländerinnen anscheinend, wie es deren diesen Sommer viele zu sehen gab. Vor dem Hause der Witwe blieben sie stehen, besahen es sich genau, und als sie die Hausnummer gelesen hatten, sagte die Junge: »Das ist es wohl! John hat es mir oft beschrieben!« Sie sagte es auf deutsch, ein wenig hart, im Tonfall unserer Landsleute, die sich drüben seßhaft gemacht haben. In diesem Augenblick kam Hans herangetrabt. Die Junge lachte, fuhr ihm über den blonden Kopf und die beiden Damen, die Monika gar nicht gesehen hatten, gingen weiter. Monika schaufelte noch ein weniges, dann begann sie nachzudenken, und es kam ihr in den Sinn, daß die junge Dame die Schwester ihres amerikanischen Liebhabers sein mochte, der ihr weiß Gott was von Schwarzenbach und seinem Aufenthalt dort erzählt hatte. Gewiß hatte er von ihr, von Monika, nicht gesprochen, und vielleicht war die Junge gar nicht seine Schwester, vielleicht war sie seine Braut oder gar seine Frau.

Seine Frau, dachte sie, und richtete sich auf und blieb gestützt auf die Schaufel stehen, bewegungslos. Seine Frau vielleicht, dachte sie, sicher seine Frau, und warf die Schaufel hin, und ging, ein wenig taumelnd zuerst, in die Richtung, in die sich die beiden fremden Damen gewandt hatten. Sie erblickte sie dann und das war schon ein Stück außerhalb des Dorfes, und der Anblick schien ihren wankenden Knien Kraft zu geben, sie zitterte nicht mehr, sie spannte sich, und mit langen Sätzen, daß ihre Röcke flogen, wie eine Jägerin auf der Jagd, hetzte sie hinter den beiden her, auf dem Weg, der entlang einem nicht breiten, aber tiefen und lautlos strömenden Bach führte, und auf der grünlichen Flut sah sie ihr Spiegelbild, vorwärts stürzend, Sprung auf Sprung, und auch die Röcke flatterten ihrer geisterhaften Begleiterin auf dem Wasser. Nun war sie bei den Damen, und tat noch einen Sprung, nun war sie vor den beiden Damen, und wandte sich um und sagte: »Sie kennen einen John Smith?« Die Junge sah erstaunt und erschrocken auf die Keuchende und sagte etwas zu der Älteren, was Monika nicht verstand, es mußte Englisch sein. »Ob Sie Herrn John Smith kennen?« wiederholte sie ihre Frage und ihre Stimme klang dunkler als sonst. Nun lachten die beiden verlegen und ungewiß, was sie von der Fragerin halten sollten, und die Junge antwortete: »Ja.« Das »Ja«, das die Junge mit klarer Stimme gesprochen hatte, traf Monika wie ein Stoß vor die Brust, daß sie fast getaumelt wäre. »So« , sagte sie, »Sie kennen ihn? Dann wissen Sie vielleicht auch, daß ich ein Kind von ihm habe?« Die ältere Dame zog die Junge an sich. »Komm!« sagte sie, »das ist vielleicht eine Wahnsinnige.« Und die Junge sagte: »Nie würde John das getan haben.« Und die Ältere sagte noch: »Wir wohnen drüben in X.«, und sie nannte den Namen des Spieldorfes, »und ich heiße«, und sie sagte einen Namen, den Monika nicht verstand, sie horchte auch nicht recht zu, sie horchte auf etwas ganz anderes, schiens. »Wenn Sie uns was zu sagen haben, so suchen Sie uns dort auf«, sagte die Ältere noch, und dann setzten die beiden ihren Weg fort.

Die Ältere trug ein dunkelblaues Kleid, das in einem runden Ausschnitt den braunen Nacken freilegte, einen festen, fleischigen und gesunden Nacken. Der Jungen Kleid war gelb, war viereckig ausgeschnitten, und die Haut ihres Nackens war weiß, mit Flaum besetzt, wie mit Goldhärchen. Von Nacken zu Nacken sah Monika, ohne sich vom Fleck zu rühren, vom braunen fleischigen zum weißen goldflimmernden, vom runden zum viereckigen Ausschnitt, so wendete sie den Kopf hin und her und her und hin. Dann hob sie einen faustgroßen Stein vom Boden auf, sah noch, wie ihr Spiegelbild das auch tat, und sprang den beiden nach und versuchte der Jungen mit einem wilden Schlag den Kopf zu zerschmettern. Sie traf
daneben, traf nur die Schulter, was schmerzhaft genug sein mochte, denn die Überfallene schrie hell und entsetzt auf. Als Monika Miene machte, abermals zuzuschlagen, drangen die Amerikanerinnen im Gegenangriff mit den Sonnenschirmen auf die Rasende ein. Sie erhielt einen Hieb über den Kopf, wich zurück, rutschte aus, schwankte, fiel in den Bach und klammerte sich an einem Strauch fest, der seine hängenden Gerten über das Wasser breitete. Die Junge hatte wieder aufgeschrien, als sie Monika stürzen sah, aber die Ältere griff mit kräftigen Fäusten zu und zog das Mädchen auf die Böschung herauf, daß sie nur mit den Beinen noch im Wasser hing. »Weg! Weg!« schrie Monika, und die beiden gingen und die Liegende blickte ihnen nach, bis sie hinter einer Bodenwelle verschwunden waren.

Ihre Beine waren noch im Wasser, das war kühl, und nun ließ sie sich tiefergleiten, ganz langsam nur, und hielt die biegsamen Weidengerten gefaßt und hing nun wieder bis zur Brust im Wasser. Und wie sie hing und die kleinen Bachwellchen munter gegen ihre Brust schlugen, zerging das Traumschneckenhaus, in dem sie verkrochen gesessen hatte all die Zeit, alle Wärme ging von ihr, und nackt und frierend wie ein armer Regenwurm, wie eine triefend nasse Wasserpflanze schaukelte sie langausgestreckt. Mit einem Schlag sah sie, was sie sonst nie gesehen hatte, sah klar und überscharf ihr Leben, wie unterm übermäßigen Licht eines Scheinwerfers, sah im unerträglichen Weiß einer gespenstischen Landschaft das Spiel, das gespielt wurde, in dem sie mitspielte, in dem ihr mitgespielt wurde, und sah die riesigen tintenschwarzen Schatten, den die Spieler warfen. Lustig, daß die Braut von John Smith sie in den Bach stieß! Lustig, da hing sie nun und dort gingen die Siegerinnen! Einen Scherz erlaubte sich mit ihr das Leben, einen Scherz von stürmischer und bitterer Art, und die teuflischen, grellen Scheinwerfer waren auf sie gerichtet, daß ihr die Augen brannten von dem allzuvielen Licht, und daß sie sehen mußte, was sie nicht ertrug zu sehen, und so schloß sie die Augen und wie erlöst versank sie wieder in Schlaf und Traum. Das Schneckenhaus wölbte sich wieder, sie dehnte sich, fast behaglich, und weil ihre Arme schmerzten, ließ sie den Strauch los, die Weidenruten sprangen zurück, der Bach trug die Müde gern, nahm sie gern mit. Sie ging unter, die Flut brauste um sie, sie tauchte noch einmal auf, sie drehte sich, ihr Rock blähte sich, und dann schwamm sie, das Gesicht ins tröstliche Wasser gedrückt, wie eine große Luftblase bachabwärts.

Das klatschnasse Stoffbündel, das der Schmied an einer langen Stange, an dem scharfen, krummen Eisenhaken der langen Stange ans Ufer zog, die plätschernde und rieselnde Gewandkugel barg tief innen, wie die Nuß den Kern, Monikas lächelnde Leiche. Sie lag im Gras, und eilige Rinnsale, Bäche und Flüsse schlängelten sich und wanden sich und flossen und schossen fort und dahin. Eine Graskuppe, groß wie eine Faust, nicht größer, wurde von zwei sich zweimal kreuzenden Wasserfäden zur Insel gemacht. Der schillernde Goldkäfer, der auf seinen Wegen und in jeder Richtung immer wieder auf das Strömende stieß, summte leise, summte laut, breitete die Flügel, flog hoch und davon über Gras, Insel und Fluß.

So verhielt es sich mit der Monika, so lief ihr kurzes Leben ab, so starb sie, wie wir alle sterben müssen und wissen auch nicht, ob wir mehr tun als nur träumen. An die Witwe, die den Enkel aufzog, und die ihn auch vor dem Gesetz an Kindesstatt angenommen hatte, kamen in der Folge viele Briefe mit ausländischen Marken, und da zeigte es sich, daß der Amerikamann doch so seine Vermutungen haben mußte, was die Möglichkeit betraf, in Schwarzenbach einen Sohn zu haben, und die Witwe wußte es sich nicht zu erklären, wieso ihm die Ahnung davon auf einmal aufgestiegen war. Aber er erfuhr aus ihren Antwortbriefen, daß er das Richtige glaube, und er erfuhr so auch von dem Tod des Mädchens Monika, und er schickte von da an reichlich Geld, was die Monika zwar nicht wieder lebendig machte, aber dem lebendigen Hans sehr zugute kam.

Und eines Tages dann ging ein Herr im hellen Reisemantel über den kleinen Friedhof von Schwarzenbach, überragte hoch die vielen moosbewachsenen Gedenksteine, wie eine Pappel war er über dem geduckten Unterholz der Kreuze, und vor einem niedrigen Grabstein stand er lange, und was er sich dachte, als er so darauf niedersah, das ist seine Sache. Später ging der Hellbemantelte ins Postbotenhaus und sprach freundlich mit dem kleinen Jungen, aber als er der Witwe anbot, das Kind nach Amerika mitzunehmen, wollte die es nicht, und warum sollte er das Kind nicht der alten Frau lassen, die sonst nichts hatte auf Erden, aber er hatte noch zwei Kinder.

Er saß dann in seinem alten Zimmer im ersten Stock, die Bärenspitz grau und leuchtend vor sich, und sah mit seinen klaren grünen Augen hinüber. Er sah ein Gewitter aufziehen, dunkle Wolken kamen, schwarz wallend, und verdeckten die Bärenspitz bald, und über den Sattel herein triebs wie graugrüner, weißlicher Rauch, der säumte schön und drohend die schwarzen Wolken. Unruhiges Licht rührte sich dahinter, die ersten fahlen Blitze zuckten, denen kein Donner folgte, dann rauschte der Regen nieder. Der Regen ging in Hagel über, weiß schäumte es durch die Luft, die Schloßen knatterten, schlugen auf das Fensterbrett, harte, spitzige, böse Körner. Dann fielen keine Körner mehr, an ihrer Statt kamen bläulichschimmernde, durchsichtige Kugeln, haselnußgroß und größer. Der Eiswirbel wurde heftiger, es krachte und strudelte wild, und Kühle drang durchs offene Fenster in die Stube zu dem unbeweglich sitzenden Mann. Ein Schwall der Eisgeschosse wogte zu ihm herein, wehte in weißen, langgezogenen Streifen schräg in die Stube. Von der Welt draußen, dem Dorf, den Bergen, dem Himmel war nichts mehr zu sehen, der grünäugige Mann saß allein, und nur das unendliche, fließende, stürmende, himmlische Eis war um ihn. Tags darauf, unter einem wieder blauen Himmel, reiste John Smith ab, nach Amerika.

Flandrischer Fasching

In Flandern geht immer Wind, im Krieg wenigstens war es so, ich erlebte es nie anders. Und durch Flandern laufen viele Landstraßen, und die beiden Seiten dieser Landstraßen säumen hohe Bäume, Pappeln natürlich, und der Wind beugt die Pappeln, daß sie nach vorn geneigt, wie Bittende, unter dem wolkenverhangenen Himmel stehen. Und einmal sah ich im Wind vier Männer eine Bahre auf einer dieser Landstraßen tragen – aber das gehört jetzt nicht hierher, das ist kein rechter Anfang für diese Geschichte, davon will ich erst am Schluß sprechen. Weg also Landstraßen und Pappeln, und einen anderen Schauplatz her!

Jeder feste Tritt wirbelte modrige Staubwolken auf, und da wir nicht gewohnt waren, leise aufzutreten, unsere genagelten Stiefel waren auch nicht dazu angetan, so hing wie Rauch der Staub in der Luft. Der kleine, zierliche Reismüller, aufgeregt wie immer, eine tapfere Zappelpuppe mit einem weißen Knabengesicht, schrie: »Legts euch doch endlich hin!« Seine helle Befehlsstimme, auf die er, der ehemalige Unteroffiziersschüler, so stolz war, fuhr wie ein scharfer Peitschenschlag durch den Saal. Aber es nützte natürlich nichts, es gehorchte ihm niemand, und er hatte hier und jetzt auch gar nichts zu befehlen.

Zwei qualmende Öllampen baumelten von der Decke herab und gaben gerade so viel Licht, daß nicht einer dem andern ins Gesicht trat. Von der Galerie, die in halber Wandhöhe rund um den Saal lief, scholl ein langanhaltendes Donnergepolter: ein Berg aufgetürmter Stühle war ins Rutschen gekommen und eingestürzt.

Einzelne lagen bereits am blanken Boden, den Tornister oder den Brotbeutel als Kopfkissen, und versuchten zu schlafen. Aber das wollte ihnen nicht so recht gelingen. Nicht weil Boden und Tornister zu hart gewesen wären, dem Müden ist jedes Bett weich, aber im Auge und im Herzen trug jeder noch die Bilder der letzten Tage, und die wehrten es den schläfrigen Lidern zu sinken.

Von der Bühne herunter trompetete der Reismüller schon wieder und immer noch: »Ruhe! Ruhe! Hinlegen!« Er hatte sich seinen Schlafplatz auf einer halbaufgerollten, grün bemalten Leinwand zurechtgemacht, einer Wiese, er hockte auf der Wiese zwischen den Blumen, den Rücken an die Windmaschine gelehnt, und verzog ärgerlich sein trotziges Bubengesicht. Ich saß im Einsagekasten, und wenns auch etwas eng war da drunten, dafür war es warm, und ich war für mich allein in meinem kleinen Haus, und das war auch etwas wert. Heinrich, der Lange, ging witternd und schnüffelnd, eine brennende Kerze tragend, mit der Hand sie vorm Luftzug schützend, zwischen den verstaubten Versatzstücken umher. Ich legte die Hände aneinander gleich zwei aufgeschlagenen Buchseiten, tat, als läse ich im Buch, tat, als sei ich im Amt, und als er eben an mir vorbeistrich, den Kopf wie suchend zum Boden geneigt, flüsterte ich ihm zischend zu: »Heinrich, mir graut vor dir!«

Aber dieser Heinrich, wohl ein Teufelsbeschwörer wie jener Heinrich Faust des Schauspiels, war wie durch Zauberei plötzlich verschwunden. Neugierig kletterte ich aus dem Kasten, fand die Tür an der Bühnenrückwand, trat hindurch, zu ihm, der einen Spieß schwang. Blechhumpen standen herum, silberne Kronen, Schwerter und Sturmhauben. An verrosteten Nägeln hingen Perücken, zerzauste, verstaubte, graue und schwarze und blonde, und falsche Bärte, verfilzt, und im flackernden Kerzenlicht wars wie in einer Menschenfresserhütte in der Südsee, bei Kopfjägern, wo abgeschnittene Feindschädel an Lederstricken baumeln. Eine Spinne hatte ein Netz gesponnen zwischen einem langen, spitzen, pechdunklen Bart und einem hellfarbenen Mädchenscheitel mit Hängezöpfen. Das schaukelte, das Netz, im Luftzug, und Heinrich sagte: »Das Vieh!« und hielt die Kerze unter das
reglose Tier, das unter dem Feuerstich auf einmal viele Beine bekam, zappelte, zu zappeln aufhörte, ein Klumpen wurde, zerschmolz mit dem Netz, das stinkend verglomm, keine Flamme gab, sich nur in der Glut zusammenrollte, verging. »Hier schlafe ich«, sagte Heinrich und stützte sich auf seinen Spieß. Nun, wie er wollte, warum nicht hier?

»Gib auf das Licht Obacht«, sagte ich, stieß mit dem Fuß an einen Helm, der scheppernd aufschrie und eine Strecke weit rollte, ließ den Mann bei den Zöpfen und Bärten, und ging.

Es war kalt im Saal, und ich hatte auch Hunger, aber keinen Bissen zu essen, gar keinen Schlaf, und so stolperte ich dem Ausgang zu. Es war zwei Uhr nachts, stockdunkel draußen, es regnete, und der Wind pfiff. Ein Reiter klapperte die Straße daher, den Mantelkragen hochgeschlagen. Schwarz tauchte er vor mir auf, unförmig, Pferd und Mensch in eins verfließend, und als es unterm Huf des Gauls blitzte, ein Funke aus dem nassen Stein sprang, wie sah das tröstlich aus, das warme, gelbrote, kleine, trockene Lebendige! Ich wollte ein Gespräch mit dem Reiter beginnen, es trieb mich, ihm etwas zu sagen, irgend etwas, ich Schwarzer, der unter der Tür stand, vorm Regen geschützt, ihm, dem Schwarzen, der durch die Nachtgassen ritt, zwischen Häusern, unter einem unsichtbaren Himmel, im nassen Mantel und auf nassem Gaul. Vielleicht, wenn noch ein Funke gesprungen wäre unterm Huf, ein trockener, roter, ich hätts getan, aber das Pflaster antwortete nicht mehr feurig, nur schallend, und der Schall verlor sich, und ich trat wieder in den Saal zurück.

In einem strohgeflochtenen Korbsessel lag, die Beine weit von sich gestreckt, der Wachhabende, und es kostete ihm Mühe, die Augen offen zu halten. Die Ausdünstung der vielen nassen Uniformen roch widerlich. Es war ein schauerlicher Anblick, die vielen wie im Tod hingestreckten Schläfer. Manche hatten den Mund halb offen und röchelten schwer im Traum. Die meisten hatten die Knie hochgezogen, die Hände in den Taschen vergraben und sich wie Hunde zusammengekrümmt. An der einen Längsseite des Saales waren die Gewehre zusammengesetzt. In der Ecke, auf ein Paar Zeltbahnen, schlief der Offiziersstellvertreter Ketteler, mit einem Mantel zugedeckt. Er war der einzige unverwundete Säbeldienstgrad der Kompagnie und führte sie.

Wir waren den ganzen Tag im Gefecht gewesen, gegen Engländer. Die Teufel waren unglaublich zäh. Sie trugen flache, kleine, schüsselähnliche Eisenhütchen und waren langbeinig, das fiel uns auf, alle langbeinig. Die mageren Waden der langen Beine waren mit gelben Binden umwickelt und außen an den enganliegenden Uniformröcken waren Brusttaschen angebracht. Aufregend waren sie für uns, die Brusttaschen, die bei uns nur an Generalsröcken zu sehen waren. Und diese langbeinigen, gelben Generale, keinen Dicken hatten wir gesehen, so schien es uns, waren alle tapfer, und so waren wir den ganzen Tag uns im Schlamm gegenüber gelegen und hatten geschossen und hatten getroffen und waren getroffen worden, und als der Abend kam – und das hatten wir schon gemerkt, hinter jedem, aber hinter jedem Tag kam ein Abend – und als er also kam, der Abend, waren wir abgelöst worden, und nun waren wir hier im Alarmquartier, in diesem kleinen flandrischen Ort, aber jeden Augenblick konnte es wieder losgehen.

Ich wünschte dem Wachhabenden »gute Nacht« und wand mich vorsichtig zur Bühne vor. Im Schlaf schrie einer laut und wirbelte mit den Armen. In das gähnende schwarze Loch des Kastens ließ ich mich hinabplumpsen, zog meine wollene, wärmende Tuchhaube über die Nase und schlief ein.

Da war die Spinne wieder in der Menschenfresserhütte, und die spann zwischen zwei Schädeln, aber kein Netz spann sie, sie spann ein Seil, ein graues, dickes, ekelhaftes Seil, und das Seil begann zu schaukeln, hin und her zu schaukeln, und auf einmal legte es sich um meinen Hals. Ich zappelte mit vielen Gliedmaßen, wie die Spinne unter dem Kerzenfeuerstoß in der Gerümpelkammer, ich hing wie an einem Galgen, und die toten Fratzen grinsten, und ein Häuptlingskopf fing an zu reden, der tote, abgeschnittene Kopf, aber natürlich verstand ich nichts, er redete irgend etwas Negerisches, und die Schlinge um meinen Hals zog sich immer enger zusammen, und der Häuptlingsschädel schrie immer lauter. Was wollte er nur von mir, der Bursche, der ozeanische, der grinsende? Und weil ich ihn immer noch nicht verstehen wollte, wurde er wütend und sagte wütend tocktocktock zu mir, und jetzt verstand ich und wachte auf, durch das helle, klatschende englische Gewehrfeuer. Ich fuhr aus meinem Kasten, taumelnd aus dem Traum in die Wirklichkeit.

An mir vorbei schoß der kleine Reismüller, schon feldmarschmäßig hergerichtet, den Helm auf dem Kopf, den Sturmriemen um das Kinn, den Tornister auf dem Rücken, als habe er so, in voller Ausrüstung, geschlafen. Die Lampen an der Decke glänzten matt im Dunst. Mitten im Getümmel stand mit weißem Gesicht der Offiziersstellvertreter Ketteler und schrie mit überschnappender Stimme: »Gewehr in die Hand nehmen und auf die Straße!«

Geschrei und Staub und Aufregung. Farblose Augen im sommersprossigen Gesicht, stand unschlüssig einer, das Gewehr am langen Riemen über die Schulter gehängt, und mit der linken Hand streichelte er die Wand, zärtlich und wie abschiednehmend. Die Verzauberung war ihm geschehen, deren wir uns alle in schlimmen Stunden erwehren mußten. Und er war ihr jetzt gänzlich verfallen, sah man an seinem ratlosen und furchtsamen Gesicht. Der kahle, staubige, ungemütliche Saal hatte sich ihm in eine lauwarme, rosigbeglänzte Höhle verwandelt, und die harten Bretter des Bodens, auf denen er eben noch geschlafen hatte, lockten ihn wie weiche, schwellende Polster. Auf ihnen liegenbleiben dürfen bis zum jüngsten Tag: wie schön wäre das! Ja, nur hier so stehenbleiben dürfen, und die Wand streicheln: welch ein Glück! Er seufzte, und dann sah er auf, sah ein paar verspätete Männer zur Tür hasten, die ihn gar nicht beachteten, genug mit sich selber zu tun hatten, sah in ihr trauriges und abweisendes Gesicht, und denen schloß er sich nun an.

Sie mußten durchgebrochen sein, die Langbeinigen, mit den flachen Eisenschüsseln auf den Köpfen, und den dünnen Lippen in den glattrasierten Gesichtern, und mußten schon im Ort sein. In der Luft gingen die Kugeln, das klang dünn, wie wenn man Papier mit einer Nadel ritzt. Es war schon zum Handgemenge gekommen, das die Kraft ihres Anlaufes gebrochen und zersplittert hatte. Sie mußten sich zurückdrängen lassen, die Englischen, das ging langsam, aber es ging. Nur am Ortsrand klammerte sich ein Trupp an, der die Straße verrammelte, ein Hindernis auftürmte aus Schränken und Tischen und Matratzen und allem möglichen Hausrat, und obwohl wir ihnen mit Handgranaten kamen, sie hielten sich.

Da raste hinter uns im Morgengrauen eine Gestalt die Straße herauf, und das Pflaster klapperte wild unter den Stiefelschlägen. »Ein Hanskasperl!« schrie einer. Wie eben von einem Maskenball kam da der Kerl, in einem weiß und rot gewürfelten Clownanzug, nur die spitze Zuckerhutmütze fehlte, und kletterte, der Hanswurst, auf die wackelnde Barrikade. »Hei! Hoi!« heulte er, der Närrische, und warf Handgranaten, die wir ihm zureichten, und zappelte und warf und heulte die Engländer an. Wirklich, so war es, und so ist es tatsächlich geschehen, so tat ein Vermummter, im allerersten Tagesgrauen, ein weiß- und rotgefleckter Kerl, und die Engländer, die dabei waren, wenn von denen einer noch lebt, und das ist ja durchaus möglich, die wissen es noch, so wie wir es noch wissen. Der Maskierte sang irgend etwas, in langen Tönen, als wärs ein Vergnügen, und war doch kein Vergnügen, aber er sang, niemand weiß warum, er sang, an dem kalten Februarmorgen, im Jahre neunzehnhundertsiebzehn. Und dann war auf einmal eine Stille. Nicht lang, so fünfzehn, so zwanzig Sekunden, aber das ist sehr lang, da knallte es nicht, bei uns nicht und drüben nicht, jeder nestelte wohl neue Handgranaten los. Der Rotweiße sang nicht mehr, stand oben auf dem Schrank, ich stand tiefer. Vor meiner Nase tanzten die roten und weißen Rechtecke der Narrenhose. Die weißen waren grau, heller als das Grau des Morgens, und die roten waren blutrot, rot wie Blut, ein anderer Vergleich fiel mir nicht ein in diesem Augenblick der vollkommenen Stille. Und jetzt duckte sich der Hanswurst in die Knie, und ich fühlte, er bereitete sich zum Sprung, und das Bein ging weg von meiner Nase, und die Barrikade war leer, und er, der Kerl, war jetzt drüben und drunten bei den Generalen mit den modischen Röcken und den vornehmen Brusttaschen. Wild knallte es von allen Seiten, das Tagesgrauen wurde lichter, brüllend und lachend hüpften wir dem Scheckigen nach, und dann war der Ortsrand wieder unser.

Ja, das war Heinrich, der Lange, der hatte in der Theaterrumpelkammer, sich zu wärmen, und auch um sich einen Spaß zu machen, den Hanswurstanzug übergestreift, und hatte ihn so schnell nicht wieder herunterkriegen können, und hatte so kostümiert mitgefochten, und lag nun mit uns im flachen Graben, den wir, wenig belästigt, rasch aushoben.

Wir duldeten auch nicht, daß er sie wieder auszog, die Narrenhülle. Einer hatte entdeckt, daß heute Faschingsdienstag sei, das hatten wir ganz vergessen gehabt, was wußten wir vom Kalender? Aber es war wirklich Faschingsdienstag, wir rechneten nach und es stimmte. Nachmittags brachten die Feldküchen zum Essen, zum Büchsenstampf, Schnaps, reichlich Schnaps, einen fürchterlichen, braunen, beißenden Fusel, und den tranken wir gierig.

Und später sah ich eine große Spinne am Grabenrand, groß und grau, wie so ein englischer Schüsselhut. Ich wollte sie töten, aber als ich zuschlug, prallte meine Faust nicht, wie sie es erwartete, auf einen weichen, zuckenden, blutspritzenden Leib. Sie polterte auf Hartes, es dröhnte, es war natürlich nur so eine Helmschüssel,
und der Kopf mit dem glattrasierten Gesicht war nicht darunter. Es war ein harmloser Helm, und der Verlierer mußte sich hinten vom Kammerunteroffizier (der mag geflucht haben!) wieder einen andern geben lassen.

Ja, es war lustig in unserem Graben, in unserem flachen, neugebackenen Graben, und es regnete nicht, und das war eine große Gabe Gottes, die wir zu schätzen wußten. Nur einmal, nachmittags, wehte ein weißer, hageliger Schnee über uns weg, der aus einer bräunlichen Wolke fiel, während gleichzeitig die Sonne fahl leuchtete. Die spitzen Kristalle knisterten wie Sand, und wie Sand trieb sie der Wind in kleinen, drehenden Säulen von uns fort, in die Luft wieder, und es blieb keine feuchte Spur von ihnen zurück.

Die langbeinigen Generale drüben schossen nicht her, und so schossen wir auch nicht hin, so ritterlich waren wir schon, wenn wir auch keine Generalsröcke trugen, und Heinrich-ohne-Furcht, der rot-weiß-gefleckte, hatte den meisten Schnaps zu fassen gekriegt und war wohl betrunken und schrie immerzu: »Morgen ist Aschermittwoch!«

Die kleine Puppe, Reismüller, der Unteroffizier, der in diesen Tagen zu seinem Stolz vertretungsweise unsern Zug führen durfte, sah mit scheelem Aug auf Heinrichs närrischen Anzug. Er war sowieso immer der Meinung, daß wir ja, vielleicht, soweit ganz gute Feldsoldaten sein mochten, aber für gewisse Selbstverständlichkeiten des militärischen Wesens keine Empfindung besaßen. »Morgen ziehst du aber den Kittel wieder aus«, sagte er zu Heinrich, »so läuft kein deutscher Soldat herum!«

»Ja, ja, ist schon gut, reg dich nur nicht auf, Korporal!« sagte Heinrich, ohne den Kopf zu ihm zu heben. Der kleine Reismüller zuckte zusammen bei dem Wort Korporal, das an Stelle der Bezeichnung Unteroffizier üblich geworden, aber ihm verhaßt war, als vorschriftswidrig und allzu vertraulich. Aber er wagte auch nicht, es sich zu verbitten, man hätte ihn nur ausgelacht. Heinrich lag auf dem Bauch im Graben und wühlte mit der Hand eine kleine Mulde aus dem Boden. »Gute Erde, das«, sagte er, »sie bekommt so vieles von uns zu trinken, allerhand Zeug, von unserm Blut, von unserer Notdurft auch, brav schluckt sie alles.« Er grub die Mulde tiefer, ein kleiner, spitzer Trichter entstand, dessen Wände er mit den Fingerspitzen glättete. Dann schüttete er aus einem Feldbecher vorsichtig in den Trichter etwas Schnaps, der drin wie in einem Sektglas schäumend und Bläschen werfend stand. »Sie soll auch davon haben«, sagte er und füllte den kleinen Trichter wieder mit Erde zu, drückte sie ebnend fest, daß man die Stelle nicht mehr erkennen konnte. »Denn heute ist Faschingsdienstag«, sagte er, »und morgen ist Aschermittwoch!«

Der war morgen und sollte seinem trüben Namen alle Ehre machen, aber das wußten wir heute noch nicht, heute, heute tranken wir Schnaps, und gaben der guten flandrischen Erde davon ab, und waren lustig und es war Grabenkarneval.

Und wenn ich die Gabe des zweiten Gesichts hätte, die ich aber nicht habe, so könnte ich nun etwas schildern, was einen Tag später war, und was ich dann einen Tag später mit natürlichen Augen sah, aber heute, am Faschingsdienstag, nicht sehen konnte.

Da ist also eine flandrische Landstraße, und die eine Hälfte der Straße ist mit runden Steinen gepflastert, die andere Hälfte ist ungepflastert, und naß glänzt es auf beiden Hälften. Hohe Bäume, Pappeln natürlich, hier in Flandern, stehen die Landstraßen entlang, und natürlich geht ein Wind, hier in Flandern, und er biegt die Pappeln, daß sie alle gebeugt stehen, alle nach einer Richtung gebeugt stehen, in einer bittenden Haltung. Um was bitten sie den grauen, wolkenverhangenen Himmel, denn nur ihn können sie um etwas bitten, wen denn sonst noch? Die Straße ist lang und hört wohl nimmer auf und geht durch ebenes Land, das wie ein Meer ist, ein Landmeer, als Schiffe hier und da ein Bauernhof, steuerlos dahintreibend. Und jetzt kommen die Straße daher vier Männer, die tragen eine Bahre, und auf der Bahre liegt etwas Verhülltes, etwas in einer braunen Decke Verhülltes, so mit einer alten, braunen Schützengrabendecke verhülltes Längliches. Die Männer gehen mit dem Wind, der sie beugt, wie er die Pappeln beugt, und das Langgestreckte auf der Bahre rührt sich nicht. Das ist etwas Totes, etwas unwiderruflich Totes, das sieht man an der braunen Schützengrabendecke, an ihren Falten: wer einen Blick dafür hat, der sieht es, daß unter solchen Falten nur Totes sich bergen kann. Ein Windstoß, ein besonders heftiger, jagt die Straße herauf. Die Pappeln wackeln, beugen sich knarrend, die Männer beugen sich nach vorn, und die schamlosen Finger des Windes heben einen Zipfel der braunen Decke, und man sieht etwas Rotes, etwas viereckiges Rotes, dann fällt der Zipfel wieder darüber, und was man sah, war Blut, würde jeder denken, der um diese Zeit, an diesen Tagen solche Bahren durch Flandern tragen sah.

Es war aber nicht Blut, der tödliche Steckschuß ins Herz gab kein Blut, gar kein bißchen Blut, nur den trockenen Tod. Es war nur ein rotes Viereck von Heinrichs Hanswursthülle gewesen, das der Wind entblößt hatte, an diesem Aschermittwochnachmittag des Jahres neunzehnhundertundsiebzehn.

 

Editionsnotiz

für die Prosabände 7 bis 16.

Als Druckvorlage diente diesen Bänden die Ausgabe »Georg Britting – Gesamtausgabe in Einzelbänden« der Nymphenburger Verlagshandlung, München.

Zu den Bänden 13, 14 und 16:

Diese Bände enthalten die Beiträge des Bandes „Anfang und Ende“ der zuvor genannten Ausgabe, der nach dem Tod von Britting im Jahr 1964 erschien und folgende Nachbemerkung enthält: Mit diesem Band ist die Gesamtausgabe der Werke Brittings abgeschlossen.

Sechs Bände sind vom Dichter in den Jahren 1957 bis 1961 noch selbst redigiert worden, sozusagen als Ausgabe letzter Hand. 1965 erschienen und dem Titel »Der unverstörte Kalender« [Band 6 unserer Ausgabe] zunächst die Gedichte aus dem Nachlaß. Nunmehr wird der erzählerische und dramatische Nachlaß Brittings in Buchform zusammengefaßt. Wie schon der letzte Gedichtband, enthält er Werke aus allen Schaffensperioden: zunächst Erzählungen, sodann Bilder, Skizzen und Feuilletons, [unser Band 13] die Britting bisher in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hatte, das Fragment eines größeren erzählerischen Werkes aus der Spätzeit, »Eglseder« [unser Band 16] und schließlich drei dramatische Arbeiten aus den zwanziger Jahren. [Unser geplanter Band 14] Das dichterische Werk Georg Brittings liegt damit, abgesehen von einigen wenigen peripheren Arbeiten, in acht Bänden vollständig vor.

Ausführlichere Informationen unter: www.britting.de

 

Impressum

Band 7
Hrsg. von Ingeborg Schuldt-Britting

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Informationen über den Dichter und sein Werk in www.britting.de.

Alle Rechte vorbehalten
© 2012 Georg-Britting-Stiftung
83101 Höhenmoos
Wendelsteinstraße 3
Satz u. Layout: Hans-Joachim Schuldt
Made in Germany
Gedruckte Taschenbuchausgabe:
ISBN 978-3-9812360-0-2 (Sämtliche Werke – Prosa)
ISBN 978-3-9812360-1-9 (Die Windhunde)