Bd. 16 – Eglseder

Erzählung
[ein Fragment]

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Anhang
Drucknachweise und Anmerkungen

Der kleine, schnellfüßige Mann mit den feurigen Augen war der uneheliche Sohn einer Dienstmagd aus dem Bayerischen Wald. Auf einem Einödhof, nahe der böhmischen Grenze, hatte er das Licht der Welt erblickt. »Das Licht ist aber ziemlich dunkel dort«, sagte er, »schon mehr eine Finsternis!« Maria Walburga Theresia Eglseder, die Mutter, die bald nach der Geburt gestorben war, am Kindbettfieber, hatte den Namen des Kindsvaters nicht zu nennen gewußt, oder sie hatte ihn nicht nennen wollen. »Vielleicht war der ein Böhmak«, vermutete Eglseder, »ein Mausefallenhändler oder ein wandernder Musikant.« Das war ohne Wichtigkeit für ihn, er hatte keinen Ahnenstolz. Daß seine Mutter gleich drei Vornamen gehabt habe! sagten wir. »So ists, so stehts in meinen Papieren«, antwortete er, »aber sonst hatte sie wenig, das heißt, sie hatte nichts. Sie war arm wie eine Kirchenmaus. Ich muß mich mit einem Vornamen durchs Leben schlagen, so sparsam war sie, in dieser Beziehung wenigstens, oder es war Bescheidenheit. Auf den Namen Georg bin ich christkatholisch getauft. Es hat aber nicht viel genützt«, sagte er, »das Wasser machte mich nur naß.« Er lachte.

Die Frucht der Sünde, mit des Drachentöters Namen, wurde in einem Waisenhaus aufgezogen, fromm und fröstelnd, und lernte das Einmaleins und sein Bett selber zu machen und das Rosenkranzbeten. Mit vierzehn Jahren wurde Eglseder in die Schneiderlehre getan. »Man fragte mich nicht lange«, sagte er, »was ich Lust hätte zu werden, wir waren alle armer Leute Kinder, man verfuhr mit uns, wie man nur eben wollte, und zu einem Schmied, weiß Gott, hätte ich auch nicht getaugt! Ein schmächtiges Knäblein war ich, könnt ihr euch ausmalen, aber zum Zwirneinfädeln, dazu reichte es, und ich war dann sogar gern ein Schneider, und kein schlechter.«

Als Eglseder die Lehrzeit hinter sich gebracht hatte, schon das gewaltige, mit Holzkohlen geheizte Bügeleisen mühelos schwang, arbeitete er noch drei Jahre als Geselle, bei einem andern Meister als seinem ersten. Der zwar wollte ihn auch behalten, und war, nehmt alles nur in allem, kein übler Mann, still und in sich gekehrt, bienenfleißig, und schlug ihn nie – aber er war ihm zuwider geworden mit seiner ewigen Schnupferei. Immer bröselte ihm der Tabak traurig aus den Nasenlöchern, und seine blauen oder roten riesigen Taschentücher waren stets feucht wie die Windeln in der Kinderwiege, und des Niesens war bei ihm kein Ende – es klang wie Donnerschall! Und ständig zog er seine rutschenden Hosen hoch: weder mit Hosenträgern noch mit einem Gürtel waren sie befestigt – das ist aber bei den meisten Schneidern so!

Genau noch sehe er, sagte Eglseder, seines ersten Meisters Schnupftabaksgefäß vor sich. Aus venezianischem Glas sei es, brüstete der stolze Besitzer sich. Der Lehrling glaubte ihm, damals, heut meine er, es sei böhmischer Herkunft gewesen. In ihm ringelten und schraubten sich vielfältige Schlangen, purpurn und blau und gelb spiralig empor, und auf dem Holzstöpsel, der die Öffnung verschloß, wehte wie ein Flämmchen ein rosa Flederwisch.

Von Venedig, sagte Eglseder, habe er schon eine Vorstellung gehabt, mit seinen Marmorpalästen, und dem Meere, und den Gondeln darauf, von einer Abbildung in seinem Schullesebuch, schwarz auf weiß und nüchtern war es da, aber er träumte es sich, wie es in Wirklichkeit sein mußte, aus Gold und Feuer, wie die Schlangen im Tabakglas. Haifische sogar, träumte er sich hinzu, die in der salzigen Wassertiefe jagten, und die Wogen röteten mit dem Blut der wehrlosen Sanftmut.

Den Tabak, einen Schmalzler, fett und braun, mußte Eglseder bei einem Schuster in der Nachbarschaft holen, der ihn im Nebenerwerb herstellte: viele Schuster tun das. Hausgemachter Schmalzer also war es, mit Zwetschgenbrühe gesalbter, mit Eigengeschmack, nach einem alten Rezept – und besser als der, den die Fabriken liefern für jedermanns Nase. Der traurige Meister war ein Kenner!

An dem neuen Arbeitsplatz nun verdiente der eben es gewordene Geselle schon ganz ordentlich, war ein freier Mann, speiste im Wirtshaus nach Laune und ging abends auf die Tanzböden zu den kichernden Mädchen: schön schmetterte die Blasmusik! Die Paare drehten sich im Walzertakt, oder zu einer Mazurka, oder einem Ländler, im gehörigen Abstand von einander blieb man und machte ernsthafte Gesichter wie bei einer feierlichen Handlung, und sittsam legte der Tänzer ein weißes Tuch auf die Schulter seiner Tänzerin, die Glut seiner führenden Hand sie nicht fühlen zu lassen, auch um die Bluse zu schonen. Schöner noch waren die Sonntagsausflüge mit den Dienstmädchen und vornehmen Näherinnen, und der Heimweg in der Dämmerung, wenn der Mond heraufstieg über den Wäldern und die Grillen sangen im Gras und die Unterröcke der Frauenzimmer rauschten – sie trugen deren viele damals, einen über den andern, wie Rosenblätter.

Dann litt es den Jüngling nicht mehr in der Heimat, und er begab sich, wie es das Herkommen verlangte, auf die Wanderschaft, auf die Walz. Bis hinauf nach Schleswig Holstein, meerumschlungen, war er geeilt, fremde Welt zu erfahren und fremde Schneiderkunst, und hinab durch Gebirg und Tal bis Verona und Venedig. So sah er die Stadt mit Augen, von der er oft geträumt, die Markuskirche und die Lagunen. Ein bißchen Italienisch war ihm davon geblieben, ein paar Redewendungen und Flüche zumal.

Schauderhafte Flüche kannte er und abscheuliche Redewendungen, die er im südlichen Land vernommen: es ist nicht wiederzugeben, wie ausschweifend – unflätig sie waren – ein erwachsener Mann konnte erröten, wenn er sie hörte! Sie bezogen sich fast immer, wenn ein Streit entbrannt war am Wirtshaustisch, Tisch gegen Tisch, und die Schimpfworte nur so herumprasselten, als werfe der erzürnte Vesuv feurige Steine aus, auf die Mütter, die Großmütter, die Tanten der Zankenden, auf deren entfernteste Ahnfrauen, auf den Lebenswandel der längst Verstorbenen und eheliche Treue und voreheliche Bettvergnügen, merkwürdiger- und unbegreiflicherweise.

In Verona, in einer Vorstadtschenke hatte der Fremdling aus dem Norden es erlebt, und nicht zum erstenmale und nicht zum letztenmale, wie die Männer wüst und schamlos gegeneinander tobten, vom roten Wein erhitzt, wie da manche Hand schon zur Messertasche griff, aber ohne den blanken Stahl zu rücken, wohlweislich!

Er, Eglseder, mußte seiner Mutter gedenken, wehmütig und demütig, sie verteidigend in seinem sie verehrenden Herzen, und in den Zank habe er sich nicht gemischt – er hätte sich auch nicht verständlich machen können mit seinem geringen Sprachschatz.

Übrigens, sprach er, habe er sich einmal auch den Einödhof angesehen, indem er geboren worden war. Von einer baumbestandenen Anhöhe aus habe er zu ihm hinuntergeschaut, im warmen Nadelgestreu sitzend, den Rücken an einer Tanne, und unschlüssig sei er gewesen, ob er sein Vaterhaus, sein Mutterhaus vielmehr, betreten solle. Hart und rauh war die Rinde der Tanne, und es habe ihm wehgetan im Kreuz, an ihr zu lehnen. Mancherlei sei ihm dabei durch den Kopf gegangen. Der Wald roch süß und vertraut, wie ihm immer bekannt. Eine geraume Weile sei so verstrichen, und lustig und traurig zugleich sei ihm zumute gewesen in dieser langen Stunde. Der schindelgedeckte Hof lag finster in der Nachmittagssonne, still und verlassen, nur einmal drang das Brüllen einer Kuh zu ihm herauf, die angekettet im Stalle stehen mochte, das Kälbchen neben sich. Als er, der Waisenknabe, das Auge wendete von dem Gehöft, und er nach oben blickte, sei er eines Eichhörnchens gewahr geworden, das über ihm im Geäst saß, zum Greifen nahe. Das Tier sah ihn unverwandt an, mit schlauen, kleinen Perlenaugen und rührte sich nicht. Es hatte ein braunrötliches Fell, ins Schwärzliche sich verfärbend, und einen buschigen Schwanz, der war aber fast ganz schwarz. Es konnte ihn lange schon beobachtet haben. Er sah es atmen; da sprach er es an und fragte es etwas. Aber es antwortete nicht, nur den Schwanz bewegte es leicht hin und her – es sah verneinend aus. Du hast recht! habe er gesagt, und sei aufgestanden und gegangen.

Im Gardasee, berichtete er uns, hatte er gebadet, im Valpolicelli die riesigen, blauen Weintrauben bestaunt, und diebisch davon geschmaust, hatte in Rom den heiligen Vater betrachtet, den alten Leo XIII., klein war der und spindeldürr, aber im Golde schimmernd vom hohen Balkone, und er hatte sich von ihm segnen lassen. Das konnte auf keinen Fall schaden«, sagte er – seine Waisenhauserziehung machte sich geltend!

In Venedig war Eglseder mit einem Gondoliere befreundet gewesen, trotz der Sprachschwierigkeiten, die sie miteinander hatten. Gaetano hieß der, Gaetano Coco, konnte nicht lesen und nicht schreiben, und hatte ers je gelernt gehabt, so hatte ers wieder vergessen. Aber gewitzigt war der wie ein Advokat im Feilschen, wenn es um den Fahrpreis ging, war ihm keiner der Genossen über, obwohl die auch tüchtig waren. Der Gaetano war sehr eifersüchtig auf den deutschen Freund, ohne Grund, leider, seine Frau war tugendhaft! Sie hieß Lucia und hatte zwei Kinder, einen Buben und ein Mädchen. Der Bub war schwarzlockig wie ein Pudel, das Mädchen hellhaarig, mit blaugrünen Augen, als sei es aus Hannover. Das ereignet sich manchmal. »Die Bambini«, sagte Eglseder, »du guter Gott waren die verzogen! « Die Lucia ging täglich in die Frühmesse, ein selbstgehäkeltes Spitzentuch über den Schultern, und ein Tüchlein auf dem Kopf, gesenkten Blicks, wie eine Heilige.

Haifische hatte Eglseder nie zu Gesicht bekommen, die schwammen, wenn es überhaupt vor Venedig welche gab, tief drunten im Meer. Aber Tintenfische hatte er essen müssen. Auf dem Markt hatte er, neben Krebsen und stachligen See-Igeln und sonst sonderbaren Wassergeschöpfen die grau-schleimigen Tiere gesehen. Sie waren nicht billig, hatten ekelhafte Fangarme und waren schwarz gefleckt, als habe man ein Tintenfaß über sie ausgegossen. »Aber sie schmeckten gut«, sagte er, »wie unsre Schmalznudeln, so ungefähr.«

Es konnte Eglseder nicht verborgen bleiben, daß der Gaetano seine Frau betrog, mit einer Wäscherin, und die Lucia ahnte es wohl auch, aber ohne ein Wort darüber zu verlieren zu ihrem Gemahl. Vielleicht war sie deswegen eine so eifrige Kirchgängerin, um auf der Betbank zu erfahren, daß dem Sünder seine Sünde vergeben werden möge, und daß er sich bessere! Er tat es aber nicht, vorläufig. Und seine Kinder küßte und liebkoste sie desto inbrünstiger.

Bevor sich Eglseder wieder aufmachte, nach Norden, über den Brennerpaß, hatte er von seinem letzten Geld eine Perlenkette auf der Rialtobrücke eingehandelt. Er hatte der Lucia, die sich dazu bücken mußte – er war klein und sie war groß – die Kette um den stolzen Hals geschlungen. Ihren Brustansatz hatte er dabei sehen müssen, das hatte ihn nicht wenig verwirrt. Gaetano, der Gondoliere, war zugegen gewesen, als er die Lucia so schmückte mit zitternden Fingern und hatte es, sein Bärtchen zwirbelnd, mit einem gnädigen Lächeln geduldet – es galt ja dem Abschied, da mochte es sein!

In Italien sei er nie wieder gewesen, erzählte Eglseder. Er habe seine Wander- und Bettlerschaft im deutschen Vaterland weitergeführt, ein paar Jahre noch, wie es manchem Walzbruder geschah, der das ungebundene Leben nicht mehr lassen mochte und dem es im nassen Straßengraben zu sterben gelüstete, statt im weißen Spitalbett.

Solches und vieles andere wußte Eglseder zu berichten von der vergangenen Zeit, da noch die Kunden über die Landstraßen trabten, im Sommer im Heu nächtigten, Hemden und Socken im Wiesenbach wuschen, und es Himbeeren in Fülle gab, an jedem Waldrand, groß wie die Haselnüsse, und süßer als Honig! Wenn dann auch die Brombeeren reif wurden, ahnte man das Ende der schönen Tage. Aber noch war es nicht so weit. Noch grüßte man bei den Herren Meistern das Handwerk und war froh, wenn die einem nicht Arbeit zumuteten, sondern einen Zehrpfennig schenkten. Den verwandelte man in einen scharfen Schnaps und bettelte sich bei den Bauern ein Stück Brot dazu, und bekam zu dem Brot, manchmal, wenn man der Bäuerin listig liebliche Augen machte, ein Stück Geselchtes dazu. Das gelang aber nur ganz ausnahmsweise.

Im Winter freilich, klagte er, mußte man bei dem schäbigsten Flickschneider in Stellung gehen. Lohn gab es nicht, nur eine schlechte Kost und einen Strohsack unterm Dachbalken für die Nacht, und die Mäuse wisperten das Schlaflied. Über den Feldern draußen lag der Schnee, weiß wie die Hauben der Schwestern im Waisenhaus. An die mußte er oft denken. »Eine hatte einen Schnurrbart«, sagte er, »wie ein Husar. Aber sie war der mildesten eine. Die Sanftgesichtigen«, sagte er, »hielten nicht immer, was ihr Gesicht versprach.«

Beim ersten Tauwetter kündigte man und machte sich wieder auf die Reise. Ade, krummer Flickschneider! Und der schaute mürrisch drein und mürrischer seine kropfige Frau. Am Morgen waren die Wasserlachen noch gefroren, und trat man darauf, knisterte es zart, es erinnerte an den Mäusegesang. Aber gegen Mittag waren sie geschmolzen und glänzten veilchenblau, und die Weiden hatten silberne Kätzchen. Die Nächte waren noch schlimm, es regnete viel, aber man war jung, die Tage wurden jeden Tag länger, ein Hagel fiel dazwischen, die Sonne kam wieder und wärmte – so war es damals. Und solche Morgenröten habe er nicht wieder gesehen. Einmal bei Parma sei es gewesen, als quetsche ein Engel am Himmel eine Blutorange aus, so rann es auf die Stadt hernieder. Man hätte sich einbilden können, es zu riechen! Er müsse eben früher aufstehen, sagten wir, die Morgenröten hätten sich nicht viel verändert. Er sei ein rechter Nachtvogel geworden, gestand er. Aber die Abendröten wenigstens, sagten wir, stünden zu seiner Verfügung, und rot sei rot! »Aber nicht das Rot von Parma«, sagte er und seufzte.

Eglseder schneiderte sich seine Anzüge selber, auch noch als er Schriftleiter geworden war an der Arbeiterzeitung. Man sah ihn nie anders als schwarz gekleidet, immer passend angezogen zu sein für eine Beerdigung oder eine Ratsversammlung, darüber zu berichten. Der Anzug, der einzige, den er besaß, nur teilweise immer erneuert, einmal die Joppe, einmal die Hose, war von vollendetem Geschmack. »Er hat so was«, sagten wir. Das Lob schmeckte ihm.

Oft sagte er, er habe zu seiner Zeit auch Gehröcke zu machen gehabt und Havelocks und seidengefütterte Fräcke aus englischem Tuch. Dann tadelte er uns und zupfte uns an der Schulter: »Wie sitzt denn das? Das ist Pfuscherarbeit!« Womit er durchaus recht habe, sagten wir, aber wir hätten nicht das Geld für einen erstklassigen Schneider, wie er es sei, er möge es gnädig verzeihen! Unter buschigen Brauen lachten seine Augen uns an. Die Schmetterlingsschleife, die er immer trug, gab ihm etwas jugendlich Verwegenes.

Ein flachkrempiger, runder Künstlerhut saß auf seinem Kopf; man hätte ihn für einen Kapellmeister halten können. Ein solcher wär er gern geworden. Musik hatte er im Blute, vielleicht von seinem böhmischen Vater her, meinte er selber, der doch wohl kein Mausefallenhändler gewesen sei. »Ein Drehorgelspieler!« schrien wir. Er wehrte ab. »Ein Harfenist! « Ein bißchen Ahnenstolz hatte er also doch! Er hatte ein hochempfindliches Ohr, und keine Oper versäumte er, und kein Konzert, vorn an der Brüstung stehend, mit glühenden Blicken jede Bewegung des Stabmeisters verfolgend, ein schmerzverzerrtes Gesicht zeigend, wenn eine Stelle unrein kam, und empört stampfte er dann wie ein zorniges Roß mit dem Fuß auf und sagte: »Die patzen heut wieder!« Was wir waren, wir nahmen es nicht so genau, wie auch mit den Anzügen nicht, Egidi ausgenommen, was die Anzüge betrifft, wenigstens.

Im Kaffeehaus hatte ich Eglseder kennengelernt. Da saß er vorm Marmortisch, betrachtete sorgenvoll seine Hand, wendete sie hin und her, und forderte uns auf ihm zu sagen, wie sie uns heut gefiele. Er glaubte an ihrem Aussehen ablesen zu können, wie es mit seiner Gesundheit stehe. Es stand nicht gut mit ihr, davon war er überzeugt. Aber nie ging er zu einem Arzt. Sein Magen, sagte er, sei seine Achillesferse. So gebildet konnte er daherreden.. Er bestellte drei Eier im Glas und zog aus der Westentasche ein Fläschchen, das verdünnte Salzsäure enthielt: die allein helfe ihm! Er träufelte genau abgezählte Tropfen davon in den Handteller und leckte sie auf wie ein Kätzchen die süße Milch. Gleich war ihm wohler.

Eglseder ist dann weit über siebzig Jahre alt geworden, behend und geschmeidig bis zuletzt, überdauerte zwei Weltkriege, nur zahnlos war er geworden, aber er trug kein künstliches Gebiß, und wenn er nicht die Treppe eines Lichtspielhauses hinabgestürzt wäre, schriebe er heute noch an seinen Berichten. Der Sturz war an der unzuverlässigen Hand nicht abzulesen gewesen. Er liebte Damengesellschaft und war zu jeglichem weiblichen Wesen, niederen oder gehobenen Standes, und jeden Alters von sich gleichbleibender Ritterlichkeit. Nur den gnädigen Frauen die Hand zu küssen, lehnte er ab. Das sei slawisch und sklavisch, sagte er, und er sei ein freier Mann! »Im Rahmen des Möglichen«! sagte Egidi, der Volkswirt.

Die sogenannte große Liebe, von der in den Büchern so viel geredet wird, sagte mir Eglseder einmal, die sei ihm nie begegnet. »Da wird ja wohl auch viel geflunkert«, sagte er, »was meinen Sie?« Es klang ein wenig verzagt. »Auf der Bühne ist das ja ganz schön«, sagte er, »so Tristan und Isolde! « Es ging gerade, es war ein Sonntagnachmittag, ein Reiterunteroffizier vorbei, mit goldenen Borten am Kragen des grünen Waffenrocks, den Schleppsäbel auf dem Pflaster scheppern lassend. Das war zwar verboten, aber es machte sich vornehm. In seinen Arm gehängt war ein Fräulein mit strohblondem Haar. Der Sommerhut, aufgeputzt mit künstlichen Blumen, nickte und wippte auf ihrem Haupte, und der Mohn wippte, und die Gänseblümchen schwankten bei jedem Schritt mit. Das Fräulein sah den klirrenden Reiter verzehrend an. Der zwirbelte seinen Schnurrbart. »Gänserich und Gans«, sagte Eglseder, »haben auch ihre Lust aneinander.« Er streckte sich. »Ein paarmal hats mich auch recht geschüttelt«, sagte er. Es war, als ob seine Augenbrauen sich sträubten. »Bei der Lucia«, sagte er, »wars arg. Wenn die lachte und ihre goldenen Ohrringe schaukelten, tat mir das Herz weh. Ich bin auch nur ein Gänserich. Aber es ging vorüber, alles geht vorüber.«

Weil er von seiner Zeitung Freikarten hatte, ließ er sich selten einen Film entgehen. Damen nahm er dann meist mit. Auch bei seinem letzten Kinobesuch war er nicht allein gewesen, und als er, nach Schluß der Vorstellung, die Treppe hinabstieg, und um seine Begleiterin herumtänzelte und scharwenzelte, und sie beflissen zu führen bemüht war, verfehlte er eine Stufe, und fiel. Ohne das Bewußtsein wieder zu erlangen, starb er zwei Tage später im Krankenhaus. Es war eine Kellnerin des Kaffeehauses, in dem er seine drei Eier im Glas zu essen pflegte, die ihn stürzen sah, ihr unvergeßlich, und oft von ihr geschildert, und ausgeschmückt mit allen Einzelheiten. So ein Gesprächsstoff ist selten und verdient es, ausgemünzt zu werden. Sie münzte ihn aus.

Egidi war es, der Eglseder an unsern Tisch gebracht hatte. Egidi war ein angehender Volkswirt und gedachte später eine Stellung an einer Zeitung zu finden. Dazu kam es aber nicht, weil ihn vorher, im ersten Weltkrieg, in Flandern, bei Ypern die Kugel eines Gurkhas ins nasse Rübenfeld warf, und er stand nicht mehr auf. Ich war dabei und mußte es mit ansehen. Es kann auch ein Sikh gewesen sein, weiße Turbane trugen sie ja alle.

Egidi war der einzige Sohn eines Metzgermeisters, und sein Mütterchen, wie er von ihr nur sprach, betrieb nach dem Hinscheiden ihres Mannes, unterstützt von einem hinkenden Gesellen, das gutgehend«, blutige Geschäft. Er war, Egidi, man maß es sagen, ein rechter und ausgemachter Geck, aber auch ein blitzgescheiter Mensch, immer angezogen wie ein Lord. Selbst Eglseder wußte an seinen Anzügen nichts auszusetzen. Eglseder sah verlegen zur Seite, wenn der Lord sich über die Hand einer Dame neigte, sie zu küssen. Großartig machte er das – wir waren die reinen Tölpel gegen ihn. Die Gläser seines randlosen Zwikkers blitzten mit den lackierten Kappen seiner Schuhe um die Wette. Seine seidenen Socken waren zwetschgenblau und grasgrün und in allen Regenbogenfarben. Später, als der Turbanträger ihn niederschoß, hatte er die seidenen Socken mit dicken, grauwollenen vertauscht gehabt, die ihm seine unauffällige Braut geschickt hatte, und den Zwicker mit einer mächtigen, schwarzen Hornbrille. »Eulenauge!« sagte ich zu ihm. Mit einem Zwicker in die Schlacht zu gehen, war nicht erlaubt.

Egidi war Angehöriger einer schlagenden Verbindung, und wie er uns sagte, hervorragend, ja fast schon eine Berühmtheit, die ausgeliehen wurde, als Unparteiischer bei Säbelzweikämpfen. Manchmal spielte er uns vor, wie er das machte, mit scharfem Wort und Halt! und Säbel dazwischen! mit Adlerblick, ein unbestechlicher Richter! So war er der Stolz seiner Verbindung und hatte selber einen fingerbreiten, tiefen Schmiß auf der linken Backe, einen Durchzieher. Als Volkswirt hatte er natürlich auch Karl Marx gelesen, über den wir ja wohl kein zureichendes Urteil hätten, sagte er herablassend. Lassalle, der Sozialist, sei bekanntlich im Zweikampf gefallen, einer Gräfin wegen. Man dürfe sich diese Männer nicht wie Kleinbürger vorstellen, sagte er, und der Durchzieher auf seiner Backe glühte hochmütig.

Seit kurzem war Egidi verlobt mit der unauffälligen Tochter eines Notars. Mit vergißmeinnichtblauen Augen sah sie ins Leben und sah ihren Verlobten an. Sie hatte vortreffliche Zähne und große Füße. Ihre Lippen waren blaß und dünn, und immer war es, als habe sie eben geweint. Beim allabendlichen Bummel auf dem Altpfarrplatz grüßte er, und grüßten wir mit ihm, hinauf zu dem mit Blumenkästen gesäumten Balkon, auf dem seine Braut saß und die Brauteltern unter dem großen, roten, weißgetüpfelten Sonnenschirm – wie ein ungeheurer Fliegenpilz leuchtete der herab. Dort oben erwartete ihn ein gedeckter Tisch, ein Abendessen auf weißem Linnen, und ein erlaubter Willkommenskuß, bei nickenden Blumenhäuptern, im Familienkreis. Der Wein stand schon im Kühler bereit. Meistens ein Mosel, sagte Egidi. Die Blumen waren Geranien. Egidi mußte sich dann immer bald von uns trennen.

Wir Ungebundenen blieben beisammen. »Fliegenpilze sind giftig«, sagte Eglseder. »Und ein wenig«, sagte er, »habe sie einen Buckel, die bleiche Braut. Buckel«, sagte er, »ist zuviel gesagt, eine hohe Schulter.« Wir gingen zu einem Biergarten, an grün gestrichenen Tischen, unter grünen Bäumen, zu Abend zu essen; einen Emmenthaler oder eine Knöcherlsulz und einen Rettich. Der Kies knirschte, wenn man den Stuhl rückte. Die dicken Kellnerinnen schwitzten, die Steinkrüge schleppend, hoch vor die Brust gestemmt.

In dem Wirtsgarten war oft auch Romuald Gschrey, der Tenor, der Großherzoglich Mecklenburgische Kammersänger, ein Lehrerssohn aus der Umgebung, aus Kareth. So weit hatte der es gebracht! Bei ihm waren fast immer der Vorstand der städtischen Sparkasse mit kahlem Kopf und seine Frau, die den Sänger mit halboffenem Mund anstaunte. Nicht aus Bewunderung allein brachte sie den Mund nicht zu, auch sonst im Leben vermochte sie die Lippen nicht aufeinander zu legen, so war ihr Antlitz gebaut. Gschrey erzählte von häßlichen Prinzessinnen und schönbeinigen Tänzerinnen, und seine Stimme war so tragend, daß man ihn auch an den Nebentischen verstand, was ihn nicht zu stören schien, im Gegenteil. Blondlockig war er, und in seinem Schlips steckte eine Nadel, auf der eine kleine, goldene Krone glänzte. Die Nadel hatte er von dem Großherzog geschenkt bekommen, das war stadtbekannt. Aus der Brusttasche seiner hellen Sommerjacke lugte ein rosiges Tuch. In das schneuzte er sich nicht, dazu holte er ein anderes, ein weißes Tuch aus der Hosentasche. Er verließe jetzt Schwerin, sprach er, er habe gekündigt, sprach er, und sah sich um, ob ihn auch jeder höre ringsum, und ginge nach Darmstadt. Heute habe es sich entschieden. In Darmstadt gäbe es auch einen Großherzog, sprach er. Offenen Mundes vernahm es seine Anbeterin. Ihr Gemahl lächelte und glättete die Haare auf seinem Kopf, die nicht da waren.

Die Spatzen holten sich Wursthäute und Käserinden, die unter den Tischen lagen. Die getigerte Wirtskatze jagte die Vögel, daß sie schimpfend aufflogen. Aber bald waren sie wieder da. Die Donau rauschte herauf, die Krugdeckel klapperten, der Kammersänger schneuzte sich; so war mancher Sommerabend.

Und Egidi, der Metzgerssohn, der schon Tierblut hatte rinnen sehen und Menschenblut, saß derweil unter dem Fliegenpilzschirm und trank Moselwein. Er hatte sich nie darüber ausgelassen, wie es zu der Verlobung mit dem unauffälligen Fräulein gekommen war. Geld hatte er selber. Eine Ehe wurde nicht daraus, der Turbanträger verhinderte es, der zu dieser Zeit ein englisches Gewehr zu bedienen geschult wurde. Der indische Mann wohl nährte sich sittsam und fleischlos. Die Kühe sind heilig in seinem Lande, man schlachtet sie dort nicht, so müssen sie am Ende Hungers sterben. Der Unterschied ist nicht gar groß.

Egidis Mütterchen, ich kannte es, war eine vierschrötige, breithüftige Frau mit gewaltigem Busen und rotem Gesicht, und ihrer Zunge wegen, die nicht weniger scharf war als ihre Messer, gefürchtet rundherum in der ganzen Nachbarschaft. Egidi hing mit kindlich-frommer Verehrung an ihr und ließ nichts auf sie kommen; ihm schien sie trotz der schwarzen Stirnfransen, die bis zu ihren Augenbrauen herabreichten, ein goldhaariger Engel zu sein, dem nur die Flügel fehlten, zart und liebreich, und zu ihm war sie es auch. Die Leute sagten, so sei sie manchmal auch zu dem Gesellen, in stiller Nacht – aber was reden die Leute nicht alles? Im Laden jedenfalls ließ sie sich von ihrer Neigung nichts anmerken. Ich war Zeuge, wie grob sie mit dem Gesellen umsprang, weil er, so schrie sie, seinen Kopf nicht zusammenhalten könne; er hatte einen Ochsenschwanz in einer Wirtshausküche abzuliefern vergessen. Er verteidigte sich nicht, ließ nur traurig die dicke Unterlippe hängen, daß man seine schiefstehenden, gelben Zähne sah. Und daran soll sie, dachte ich, nächtlicherweile ihr Ergötzen haben? Es war verwirrend sich auszumalen, wie er über die knarrende Treppe zu ihrer Schlafstube hinkte – oder vielleicht wars umgekehrt, und sie kam zu ihm, auf nackten Füßen.

Eines Tages, ich hatte Egidi seit einer Woche nicht mehr getroffen, stand im »Volksboten«, der Zeitung, an der Eglseder beschäftigt war, eine schwarzumränderte Anzeige: der Studierende der Volkswirtschaft, Florian Egidi, gebe bekannt, daß sein geliebtes Mütterchen, wortwörtlich so, und rührend-peinlich schwarz auf weiß war es zu lesen, nach kurzem Krankenlager, versehen mit den Tröstungen ihres Glaubens, sanft im Herrn entschlafen sei. Und, fuhr die Todesanzeige fort, er, Florian Egidi, triebe die Metzgerei weiter, und bitte die verehrte Kundschaft, auf ihn das Vertrauen zu übertragen, das sie der edlen Verstorbenen stets entgegengebracht hätte. Er werde es nicht enttäuschen.

Zur Beerdigung war ich nicht gegangen, aber ein paar Tage später machte ich mich auf zu dem Laden des Freundes. Der lag jenseits der Donau, es war ein blauer Sommertag, weiße Wolken segelten am Himmel dahin, oder auch, sie waren weiße Lämmer, die auf der blauen Himmelswiese unschuldig weideten. An der Stirnwand des Metzgerhauses kletterten Rosen bis zum ersten Stock empor, und Rosenblätter lagen vor der Ladentür. Rosen also, dachte ich, rote Rosen waren vor dem Fenster der Schlafstube, aus der Meisterin und Geselle ein Liebesnest sich gemacht hatten. Wie mochte es da geduftet haben in schwüler Sommernacht!

Wahrhaftig, hinter der Fleischbank stand er, Egidi, angetan mit einer weißen, blutbefleckten Schürze, und sein Zwicker blitzte. Er zog gerade ein Messer am Wetzstein ab und schnitt dann ein Stück Ochsenfleisch von einer Rippe, warf es in die Waage, warf einen Knochen dazu: »Ein Pfund und dreiviertel ist es geworden«, sagte er zu der Kundin, »darf es so viel sein?« Es durfte so viel sein. Er wickelte das Fleisch in ein schwefelfarbenes, grobes Papier, die Frau zahlte, ging, die Ladenglocke schrillte hinter ihr drein, nur langsam verzitterte der Ton.

Ich war allein mit dem Volkswirt. Der Boden war mit Steinplatten belegt. In der Ecke stand ein Kühlschrank mit grünen Fliegengittern. Beile verschiedener Größe, riesige und zwergische, lagen bereit, und Ketten und Stricke, und viele Messer. Eines hatte eine Klinge dünn wie ein Efeublatt und nadelspitz zulaufend, so war es zusammengeschliffen. An eisernen Haken hing hinter Egidi das Fleisch, ein rotes Ochsenviertel, Speckseiten mit rußiger Schwarte, hingen Blut- und Leberwürste, in einer Holzschüssel waren Schweinegrieben aufgehäuft, die wie aus Silber schimmerten. Auch ein halbes Kalb war da, dessen Haut bläulichviolett und unangenehm glänzte, der Kopf war noch dran, mit glasig glotzenden Augen.

Ganz still war es im Laden. Es roch nach Blut und Tierhäuten, jägerisch. Das Schweigen dehnte sich aus. Möglich, wir dachten beide jetzt an seine vergißmeinnichtäugige Braut. »Mein Beileid«, sagte ich, und gab ihm die Hand. »Danke dir!« sagte er und sagte: »Schön, daß du gekommen bist!« Ein Lächeln ging über sein Gesicht. Er nahm ein Beil und zerteilte auf dem Hackstock mit sicherem Schlag einen großen Markknochen, daß die gelben Splitter spritzten. Mit einem Strohbesen dann kehrte er den Hackstock sauber. So amtete er, es war eine Lust ihm zuzuschauen. Und das Kalb glotzte unvernünftig.

Ein paar schwarze Fliegen saßen an der weißgekachelten Wand. Egidi hatte ein hübsches, bräunliches Gesicht – er hätte ein Spanier sein können. Wie Schönheitspflästerchen hatte er zwei schwarze, kreisrunde Muttermale, am Kinn und unter dem linken Auge. Ich mußte an einen Stierkämpfer denken.

Am Abend darauf, an unserm Stammtisch im Kaffeehaus, blätterte ich im »Berliner Tageblatt«. Ich war noch allein. Das Blatt berichtete von einem Studenten in einer kleinen bayerischen Stadt, der das durch den Tod seiner Mutter verwaiste Metzgergeschäft übernommen habe, Beil und Messer und Wetzstein handhabe, und die Kunden bediene, ohne jede bürgerliche Hemmung, der Sohn einer neuen, vorurteilsfreien Zeit, in der Klassenunterschiede ihre Bedeutung verloren hätten. Ich hatte die Zeitung noch in der Hand, da kam Eglseder, eiligen Schrittes wie immer, und setzte sich zu mir, und bestellte drei Eier im Glas. Ich zeigte ihm den Bericht, und er war nicht erstaunt. »Der ist von mir«, sagte er, »ich habe ihn an noch ein paar Blätter geschickt.« Er besah seine Hand und war zufrieden mit ihr. Als dann zum erstenmal wieder Egidi erschien, sagte der: »Das gibt heut noch ein Gewitter!« und wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn. Um den linken Arm trug er einen schwarzen Trauerflor. Die Sätze über sich las er, zog die Augenbrauen hoch und sagte zu Eglseder: »Das ist von dir! Da zahlst du jetzt drei doppelte Steinhäger!« Er duzte Eglseder, ich sagte Sie zu ihm. Die Kellnerin brachte den Schnaps, in Gläsern, die überschwappten, und wir tranken ihn auf das Wohl des ehrbaren Metzgerhandwerks.

Es donnerte schon, und Gäste, die eintraten, hatten nasse Flecken auf dem Anzug. Es regnete draußen, man hörte es jetzt auch. Als wir aufbrachen, hatte sich das Gewitter schon wieder verzogen, es war kühler geworden. Sterne waren zu sehen, und über dem Rathausturm stand zwischen den Wolken groß und gelb der Mond. Er glotzt wie ein Kalb, dachte ich, sagte es aber nicht. Da fuhr noch einmal ein verspäteter Blitz über die Stadt hin, von grünlicher Farbe wie das Licht der Leuchtkäfer, daß die Hausdächer moosig erglänzten.

Egidi hatte sich an der Brücke von uns verabschiedet, und ich begleitete Eglseder noch auf seinem Heimweg. Die Gassen waren menschenleer, und unsere Schritte hallten auf dem Pflaster, Eglseder, schweigsam zuerst, begann plötzlich von seinen Waisenhausjahren zu erzählen.

Im Schlafsaal neben im sei der Xaver gelegen, sagte er. Und er beschrieb den Schlafsaal, wie da Eisenbett neben Eisenbett war, schnurgerade ausgerichtet, wie in einer preußischen Kaserne; ich habe zwar nie eine gesehen, bekannte er, aber so müssen die preußischen Kasernen sein, nach Schilderungen, die ich las. Zwischen Bett und Bett war der immer genau gleiche Zwischenraum, darauf wurde streng geachtet, obwohl es bei uns keine Unteroffiziere gab, nur Schwestern in weißen Hauben. Die hatten es aber auch in sich, es genügte uns. Sieben Betten waren in unserm Saal, und der war noch einer der kleineren! Die Betten hatten weißblau-gewürfelte Überzüge, auch die Kopfkissen, und standen schwarz und spinnenbeinig da. »Den Weberknecht«, fragte er, »diese Spinnenart kennen Sie? Wie Weberknechte sahen die Betten aus, grauslich, und zum Fürchten. Wir schliefen auf ihnen.«

Die Zöglinge hatten die Köpfe glatt geschoren, wie Zuchthäusler – aber so waren sie am besten rein zu halten. Und reinlich wars im Waisenhaus, reinlich und kalt, das Gefühl von erkältender Reinlichkeit hatten wir Buben auch im heißesten Sommer. So recht ins Herz hinein fror es uns oft trotz der Julisonne. Die Hitze blieb draußen vor dem Haus.

Der Xaver war erst vor kurzem gekommen und wollte sich gar nicht eingewöhnen bei uns. Er war ein wenig wehleidig, wie es Bauernbuben gerne sind. Stadtkinder sind härter, das hat sich immer gezeigt. Ich hatte kein Heimweh, sagte Eglseder, ich war ja nie daheim. Der Xaver aber hatte Heimweh, und wie, wie! Nach dem schwarzgeschindelten Zwiebelturm seiner Kirche verlangte es ihn, nach den Kühen auf der Dorfwiese, er glaube, sagte Eglseder, nach den rauchenden Kuhfladen sogar, nach den Heckenrosen und den Brennesseln am Grabenrand hatte er Sehnsucht, obwohl die so feurig stachen, daß man weiße Blasen an der Hand bekam und im Gesicht, wenn man beim Spielen hineinfiel oder hineingeworfen wurde. Dem kleinen Xaver geschah das oft, er mußte es leiden.

Einmal erwachte Eglseder, mitten in der Nacht, ohne Grund, oder wenigstens wußte er keinen. Mondschein war, und da sah er den Xaver vor dem Bett knien, barfüßig, im Hemd, und sein geschorener Kopf glänzte. Jede Laus darauf wäre zu erkennen gewesen, wenn er welche gehabt hätte, aber Ungeziefer wurde nicht geduldet in der sauberen Anstalt. Wenn je eine Laus sich zeigte auf einem Kopf, wurde er mit Petroleum gewaschen, das mögen die Läuse nicht. Insoweit war gesorgt für uns, das muß man zugeben. Der Xaver kniete, als bete er, aber wer betet schon mitten in der Nacht. Nur Heilige tun es und Büßer. Der Xaver betete auch nicht, ganz im Gegenteil, sozusagen! Er hatte sich einen Strick um den Hals geschlungen, und der Strick war am andern Ende an seinem Bettgestell befestigt; der Xaver wollte sich erhängen!

Wo er den Strick nur her hat? verwunderte sich Eglseder, das war sein erster Gedanke, und wie der Blitz dann fuhr er aus den Polstern, und kniete sich neben dem Xaver hin, auf dem kalten Steinboden, so waren sie nebeneinander, die zwei Hemdenmätze. Eglseder, selber klein, aber größer als der Xaver und zwei Jahre älter, riß ihm den Strick von dem dünnen Kinderhals, und der Xaver ließ es sich gefallen und sagte kein einziges Wort und sah ihn nur mit traurigen Augen an, aber schon ganz erbärmlich.

Was er da vor habe sei eine schwere Sünde, eine Todsünde, eine himmelschreiende Sünde, sagte Eglseder, und der Xaver käme in die glühbrennrote Hölle, wenn er sich selber umbringe, in siedendes Pech käme er, das die Teufel kochten und das gräßlicher brenne als die Brennesseln, und mit ein paar Brandblasen an den Händen und im Gesicht sei es da nicht abgetan. Denn sie waren zwei fromme Buben und glaubten daran, damals.

Eglseder schüttelte den Xaver, aber tüchtig, und gab ihm einen groben Puff vor die Brust und befahl dem Sünder, gleich wieder ins Bett zu gehen, aber schnell, aber sofort, marsch, marsch! Er befahl es mit Flüsterstimme.

Eglseder mußte flüstern, daß die anderen Schläfer nicht auch wach wurden, das durfte nicht sein. Aber die schnarchten wie die Ratten, so sagt man, aber weiß denn einer, ob die Ratten überhaupt schnarchen? Sie tun es nicht, sagte Eglseder. Der Xaver zitterte am ganzen Leib und bekreuzigte sich ein paarmal hintereinander, aber seine Zähne klapperten nicht, wie sich das gehört hätte, und verkroch sich gehorsam wieder ins Bett. Eglseder nahm sich noch die Zeit, die Finger in den Weihwasserkessel zu tauchen, der neben der Tür an der Wand hing, und dem Xaver mit dem heiligen Wasser die Stirn zu betupfen, und sich selber auch: Dann knöpfte er den Strick vom Bettgestell, was eine Weile dauerte, so fest war der Knoten gebunden, und wahrscheinlich auch bebten seine Finger vor Aufregung. Den Strick nahm er mit unter die Decke.

Der Xaver schluchzte noch heftig, eine Zeitlang, dann wurde er leiser, und dann ganz still – er hatte sich in den Schlaf geweint, nach der Kinder Weise. Der Mond sah zum Fenster herein, er hatte alles mit angeschaut, aber niemand hatte was gehört, Gott sei Preis und Dank! Und der Mond ist ja verschwiegen, man weiß es!

Eglseder hatte eine unruhige Nacht. Einmal war eine Schlange in seinem Bett und wickelte sich ihm um die Beine und um die Hüften und um die Brust und dann um den Hals, daß er keine Luft mehr bekam: das Schlangenvieh wollte ihn erdrosseln, doch noch eine Beute zu haben. Eglseder griff tapfer nach der Schlange und erwachte, da hatte er einen Strick in der Hand. Den Strick schob er unter sein Kopfkissen, da konnte er nicht von ihm gebissen werden. Am Morgen dann bündelte er ihn, versenkte ihn in die Hosentasche, darin er kaum Platz hatte, und schlich sich in den Hof hinunter, zur Mülltonne. Zu oberst in der Tonne waren Heringsbüchsen und goldschuppige Heringsköpfe, vom Freitagabendessen her noch. Die Büchsen schepperten laut, die Heringsköpfe schwiegen still, als er sie aufhob, die Schlange unter ihnen zu begraben. Es habe ihm leid getan um den schönen Strick, sagte der Totengräber, aber ein Mann der Tonnenabfuhr werde ihn schon herausgeklaubt haben aus dem Unflat, ihn nützlich zu verwenden.

So erzählte es mir Eglseder, so ungefähr, als ich ihn nachhaus begleitete durch die mondhellen Gassen. »Übrigens«, sprach er, »bilde ich mir nicht ein, dem Xaver das Leben gerettet zu haben. Die Schlinge um den Hals lautlos zu sterben, hätte er das vermocht? Lärmend um sich geschlagen hätte der Hirtenknabe, ganz sicherlich, und die erwachenden Buben hätten ihn befreit.«

»Der Xaver lebt heut noch, er ist Maurer geworden, ist wie üblich harmlos und in Ehren verheiratet, hat drei Kinder und einen deutschen Schäferhund aus einem berühmten Zwinger. Der Hund war nicht billig, er muß kostbar und vorsichtig gespeist werden, das vornehme Tier. Und auch heut scheint der Mond.«

Wir blickten hinauf zu ihm, der zwischen fliehendem Gewölk herab glänzte, stumm, wie ein Apfel aus Gold.

Wir waren vor Eglseders Haustür angelangt, eine Gaslaterne brannte daneben, und ein bißchen Wind, vom Gewitter übriggeblieben, brachte die Gläser der Laterne zum Zirpen. »Servus!« sagte der kleine Mann, und ich sagte: »Servus!« Und er ging ins Haus. Kurz darauf sah ich die Fenster im zweiten Stock sich erhellen. Er war daheim, in seinem einzigen Zimmer, ich kannte es, wo eine hölzerne Bettlade seiner harrte, und darin ein einsames weißbezogenes Bett.

Nur kurz, einen Sommer lang, betrieben Portugiesen, zwei Brüder aus Lissabon, einen Handel mit Südweinen in der Altstadt in einer finsteren und engen Gasse, die sich zum »Roten Herzfleck« senkt, einem mit Kopfsteinen gepflasterten, fast kreisrunden Platz. Am Schaufenster ihres Ladens war mit Ölfarbe aufgemalt, bunt und prächtig, das Wappen Portugals, und hoch über der Ladentür hing an einem Messingnagel eine riesige Weintraube aus Glas. Die Beeren waren durch einen goldenen Draht miteinander verbunden, ein meisterliches, handwerkliches Stück, fremd und kostbar, das sie aus ihrer Heimat mitgebracht hatten. Am Tag nur funkelte die gläserne Frucht über der Tür, des Nachts wurde sie im Laden verwahrt, vor Dieben sie zu schützen oder Betrunkenen, die es gelüsten konnte, mit Steinen nach ihr zu werfen.

Die Portugiesen waren magere, hakennasige Männer mit hellrötlichen Ziegenbärten am Kinn. Sie hatten auch Ziegenaugen, leicht vorgewölbt, starren Blicks. Weite, ungebügelte Hosen flatterten um ihre Beine, sie trugen absatzlose, weiße Leinenschuhe, grell gemusterte Hemden aus Baumwolle und nie einen Hut. Auch ihre dünnen, in die Stirn gekämmten Haare waren hell rötlich, von der Farbe verblühender Heckenrosen. Sie sahen einander zum Verwechseln ähnlich, Zwillinge waren sie. Und immer hatten sie es eilig, rannten nebeneinander her, im Geschwindschritt, im Trab, der oft in einen Galopp überzugehen sich anschickte, es war beängstigend und lächerlich. Und immer, ja immer, schleppten sie eine großmächtige, mit Stroh umflochtene Flasche mit sich, eine Zwanzig-Liter Flasche, oder eine noch größere, schleppten sie irgendwohin, auf die Bahn, auf die Post, zu einem Wirt. Ich kann mir sie nicht in die Erinnerung zurückrufen, ohne auch die Korbflasche zu sehen, schwer schwankend zwischen ihnen. Ihr Geschäft ginge gut, sagte Eglseder, ihr Wein sei nicht geschmiert und sein Geld wert.

Im Laden brachten sie ihren Wein auch zum Ausschank, ihn im Stehen zu trinken oder auf Fässern sitzend – Stühle und Tische gab es in dem Laden nicht. Auch am Tag war es dämmrig dort. Mit Eglseder und Egidi ging ich ein paarmal hin. Ein Mädchen bediente die Gäste, keine Portugiesin. Sie sei aus einem Dorf aus der Umgebung, hörte ich sie einem dicken Mann am Nebenfaß sagen, sie sah aber gar nicht ländlich aus. Ein wenig stieß sie mit der Zunge an beim Sprechen. Egidi schenkte dem Mädchen keine Beachtung, mir gefiel sie. Er war seit kurzem verlobt, deswegen wohl sein zurückhaltendes Benehmen, erklärte ich es mir.

Waren die Portugiesen wie jagende, schnappende Windhunde, war sie wie eine träge Hauskatze – so ziehen die Gegensätze sich an, dachte ich. Sie trug hochschäftige, geknöpfte Stiefel, das war eben Brauch geworden, die Knöpfe waren grau wie Perlen, wie gefrorene Tränen, kam es mir, ich weiß nicht, warum, in den Sinn: daran war wohl der Wein schuld! Es roch aufregend in dem Laden, nach dem Holz der Fässer, nach Orangen, nach Zwiebeln, nach Knoblauch und scharfem Gewürz.

Einmal wagte ich mich allein in den Laden, ein Glas roten Weines zu trinken. Hinter einer Wand von Flaschen meinte ich es brutzeln zu hören, es zischte und schnalzte, als briete man ein Stück Fleisch in der Pfanne. Dann war es gewiß Hammelfleisch! Die Brüder werden es sein, dachte ich, die sich ein lissabonisches Mahl bereiten, und dachte, sie verwenden sicher duftendes Olivenöl statt der langweiligen Butter! Das Mädchen lächelte unergründlich, als ich zahlte – es machte mich verlegen, und ich gab ihr mehr Trinkgeld, als meine Zeche es erforderte, sie schien es nicht zu bemerken. Ihre Brust bewegte sich bei jedem Atemzug, ihre Lippen waren blaß, aber ihr rotes Kleid glühte. Wie ein Schuß knallte es hinter der Flaschenwand.

Die Portugiesen sprachen ein gebrochenes, kehliges Deutsch, aber sie sprachen nicht viel. Man wußte wenig von ihnen, sie waren ungesellig, hatten keine Freunde, suchten auch keine, lebten nur ihrem Geschäft, so schien es, von früh bis spät auf den Beinen. Sie hausten in einem kleinen Raum hinter der Flaschenwand, empfingen keine Besuche, saßen bei ihren Geschäftsbüchern und Rechnungen, hatten für nichts sonst Zeit und Lust – in ihre Brust konnte ja niemand schauen! Gesang doch hörte man manchmal des Nachts aus dem Laden dringen, wo sie die gläserne Traube bewachten.

An jeder Kirche, an der sie vorbeikamen, und es gibt deren viele in der kleinen Stadt, setzten sie die Flasche zu Boden, schlugen fromm und ausdrucksvoll das Kreuz über Brust und Stirn, und weiter ging es in hitziger Hast. Niemand wunderte sich noch über dieses Benehmen, das man zuerst als übertrieben empfand und es komödiantisch schalt – man hatte sich daran gewöhnt, und selbst die Gassenbuben lachten nicht mehr über sie und ahmten sie nach – die Portugiesen würdigten sie nicht einmal eines Blickes!

Aber eines Nachmittags, erzählte mir Egidi, sei er über den Domplatz gegangen und habe es erlebt, wie die Händler auf einen sie verhöhnenden Buben losgestürzt seien, ihn hochgehoben hätten, als wollten sie ihn auf dem Pflaster zerschmettern, in einem furchtbaren Wutausbruch, und der kleine Missetäter habe entsetzt aufgeschrien, als sei sein letztes Stündlein gekommen. Da wieder nun hätten die Portugiesen gelacht, und das zitternde Kind sanft auf die Beine gestellt, hätten ihm ein Geldstück in die Hand gedrückt, und es sei laut heulend davon gesaust, wie dem Tode gerade noch einmal entronnen, das Geld in der Faust, das ließ das Kind nicht fallen! Er selber, sagte Egidi, habe es allen Ernstes für möglich gehalten, mitten am hellen Tag, vor den Domtüren, Zeuge eines Mordes sein zu müssen.

Traurig war es, die Portugiesen bei Regenwetter zu betrachten, die rosenroten Haare in die Stirn geklatscht, in durchnäßten Leinenschuhen – Lederschuhe zu tragen verschmähten sie, auch wenn es in Strömen herniedergoß über ihnen wölbte sich wohl immer der Himmel Portugals, in strahlender Bläue!

Und dann verließen sie unsere Stadt, Spätherbst war es geworden, gingen, ohne Aufhebens davon zu machen, hatten in der Stille alles Geschäftliche abgewickelt, genau und ordentlich, so rühmte man es, fort waren sie, wie vom Winde verweht, vom selben vielleicht, der sie hergeweht hatte. In ihrem Vaterlande hatte sich Schreckliches ereignet, Umsturz und Gewalttat, alle Zeitungen wußten davon zu melden, und die veränderten Umstände hatten sie heimgetrieben: das waren aber nur Vermutungen! Man zerbrach sich auch nicht lange den Kopf über das Wie und Was und Warum ihres Verschwindens, aus den Augen, aus dem Sinn! und bald waren sie vergessen. Von mir nicht!

Das Wappen Portugals an ihrem Schaufenster wurde entfernt, die Traube aus Glas funkelte nicht mehr über der Tür, noch dunkler war die Gasse jetzt. Ein Schuster hatte seine Werkstatt in dem Laden, man sah ihn klopfen mit dem Hammer und nähen mit der Ahle, und seinen Gesellen und den Lehrling. Ein Farbfleck fehlte fortan auf dem Bilde der Stadt. Gonzales hießen sie.

Auch das schwarzhaarige Mädchen sah ich nie wieder, nur manchmal noch erschien es mir im Traum. Einmal hatte sie die Glastraube in der Hand, hielt sie sich an den Mund und naschte daran, Beere nach Beere mit den blassen Lippen pflückend. Die gläsernen Kugeln knirschten unter ihrem Biß, und ich wunderte mich, daß sie Glas zu essen vermochte. Dann, und da träumte ich zum letztenmal von ihr, stand Egidi lachend an ihrer Seite, hatte den Arm um ihre Hüfte, und ich wußte plötzlich, daß er es gewesen war, der hinter der Flaschenwand ein Stück Hammelfleisch gebraten hatte, uneingedenk seiner Braut!

Der Waller oder Wels ist ein Fisch, der nur mit einem Walfisch zu vergleichen ist – so riesig kann er sein, wenn er seine volle Größe erreicht hat. Der Donauwaller wird bis zu einem Meter lang und darüber und wiegt bis zu zwei Zentnern, und sein festes, grätenloses Fleisch schmeckt dann immer noch gut. Größere noch gibt es in den östlichen Seen und Flüssen, dort jagt man ihn um Mitternacht bei Fackellicht mit dem Wurfspeer.

So wild und verwegen geht es bei uns nicht zu – man fängt ihn mit der Angel und dem Netz am hellen Tag. Wenn es geschah, daß so ein Ungeheuer erbeutet wurde, stand es in der Zeitung zu lesen, unter der Überschrift »Petri Heil!«, und der Name des glücklichen Anglers war rühmlich genannt, und daß es beim Fischhändler Nunner zu besichtigen sei. Der mächtige Glasbehälter im Schaufenster des Geschäfts, in dem sonst Aale sich ringelten und wie die Barben und Hechte unwissend und gelangweilt den Tod erwarteten, war dann für den Waller allein da, der kaum Platz darin hatte.

Zusammen mit Eglseder besah ich einen erst gestern gefangenen Herrn der Donautiefe. Das schwarzglänzende, breitschädlige, specknackige Ungetüm sah aus kleinen Augen still vor sich hin, und seine bleichen, fleischernen Bartfäden spielten in der grünen Flut. Vom Boden des Glaskastens stieg, Perlen werfend, aus einem metallenen Rohrstück ein steter Strahl frisch zuströmenden Wassers.

»So ein Vieh«, sagte Eglseder, »soll sich selbst über Gänse und Enten hermachen, und eines soll bei Maria-Berg sogar einen Schwan beim Hals gekriegt haben und verschwand damit.« Auf der Donau gibt es sonst keine Schwäne. Der von Maria-Berg war von einem nahen Schloßweiher herüber geflogen gekommen, und mit Wallern hatte er nicht gerechnet, der nur Karpfen kannte und sanfte Goldfische. Ich sah den Strudel vor mir, der sich aufbäumte, als der schwarze Räuber den weißen Vogel, der vergeblich mit den Fittichen um sich schlug, mit sich in sein Reich nahm.

Bei Maria-Berg steht eine schön gekuppelte Wallfahrtskirche, die hat fünf Türme mit Zwiebelhauben. Die große Zwiebelhaube inmitten der vier kleinen ist wie eine Gluckhenne anzuschauen, umgeben von vier Küken. Beim Gebetläuten tönen dort fünf erzene Stimmen – die weithin schallende des Mittelturms und die schmächtigen der kleinen Türme. Vielleicht läuteten gerade alle fünf Glocken, als das Entsetzliche geschah.

Was mag der Kerl da vor uns schon alles gefressen haben in seinem Leben«, sagte Eglseder, »und nun kommt er selbst auf die Speisenkarte! Ob er auch den Schwan von Maria-Berg auf dem Gewissen hat? Wahrscheinlich nicht, das heißt, wer weiß das?« Ich klopfte an die Glaswand, der Waller war schwerhörig oder tat wenigstens so und kümmerte sich nicht um mein Geklopf, wie er sich auch um die fünf Glockenstimmen nicht gekümmert haben mochte, und hing seinen Gedanken nach.

»Ja, wie sieht er denn aus?« jubelte Eglseder plötzlich, jetzt habe ichs: wie der Martin von der Schwedenkugel!« Nun sah ich die Ähnlichkeit auch. Der Martin, ein riesen haftes Mannsbild, war ein Schenkkellner und warf die schwersten Bierfässer spielend auf den Schragen, daß es wie Donner krachte. Er hatte die kleinen Augen des Wallers und einen hängenden Schnauzbart, der aber nicht fleischern war, aus Haaren wie jeder Menschenbart. Auch der Speck nacken war da. »Im ›Volksboten‹ dürfen Sie aber nichts schreiben von der Ähnlichkeit!« sagte ich. »Ei, wie werd ich denn«, verwahrte sich Eglseder und lachte, »der Martin schlüg mich ja mit dem Bierschlegel tot.« »Oder er wär noch stolz darauf und freute sich. Das ist ihm zuzutrauen. Eitel ist er!« Eglseder sagte: »Fast tut er mir ein wenig leid, obwohl ers nicht verdient, der Räuberkerl, in seinem engen Gefängnis. Wie mag ihm zumute sein?«

Als hab ers vernommen, blickte der Fisch her zu uns und rührte ein wenig die Schwanzflosse, mehr an Bewegung war ihm nicht verstattet. Ganz taub war er also doch nicht. Übermorgen, am Freitag, gab es ihn in den Wirtshäusern, als Fastenspeise, gewiß auch in der »Schwedenkugel«. Der Waller ist kein billiges Essen. »Wollen wir uns ein Schnitzel von ihm leisten?« fragte Eglseder und sah das Opfer unbarmherzig an, »ich lade Sie ein dazu. Ihr Bier müssen Sie selber zahlen.« Ich sagte: »Einverstanden!« und sagte: »Vielen Dank auch, wenn Sie schon so protzig sind.« Eglseder verdiente gut. Eifriger stiegen die weißen Wasserperlen.

An einem trüben Nachmittag besuchte ich Eglseder in seiner Schriftleitung. Das war ein nüchterner Raum, weiß gekalkt, ein großer Tisch war da und zwei oder drei Stühle und ein halb leeres Büchergestell. Hoch an der Zimmerdecke war ein Spinnennetz. Ich sah hinauf zu ihm. »Diese Putzfrauen«, zürnte Eglseder, »müssen blind sein!« Er saß vor dem Tisch, der mit Stößen von alten Zeitungen bedeckt war, und schrieb mit seiner großen, kindhaften Schrift an einem Bericht. Als es klopfte, rief er Herein! Herein! und es kam eine Frau, auf dem Arm ein Bündel, in Papier eingeschlagen. Das Papier war durch Stecknadeln zusammengehalten, »Ah! die Wäsche! Pünktlich wie immer«, sagte Eglseder zufrieden, nahm der Frau das Papierbündel ab und verschwand damit hinter dem Büchergestell. Wie es ihrem Mann gehe, fragte Eglseder aus seinem Versteck heraus. Es gehe ihm gut, sagte die Wäscherin. Ich hörte ein Rascheln und Knistern hinter dem Büchergestell, ein behagliches Seufzen, dann erschien Eglseder wieder, gab der Frau das Bündel zurück, zählte ihr Geld in die Hand und sagte: »Grüß mir auch den Xaver! « Das werde sie tun, sagte die Frau und ging. Der Xaver, ihr Mann, sei ein Maurer, und ein alter Freund von ihm, sagte Eglseder, noch vom Waisenhaus her. Dann fiel es ihm ein: »Ich habe Ihnen die Geschichte schon erzählt. Sie weiß nichts davon. «

»Das habe ich so eingeführt«,fuhr er fort, »jeden Samstag bringt sie mir die frische Wäsche, ich ziehe sie an, und die getragene nimmt sie gleich wieder mit. Sie ist tüchtig, und flickt mir die Wäsche auch. « – »Ja«, sagte er, nicht ohne Stolz, »ein alter Junggeselle weiß sich eben zu helfen!« Ich unterdrückte meine Verwunderung über dieses Verfahren. Er war ein einfacher Mann geblieben. Blühweiß strahlte das neue Hemd, und im Spinnennetz rührte sich die Spinne. Es hatte sich eine Fliege zu ihr gewagt, zu ihrem Verderben. »Es wird eine Kreuzspinne sein«, meinte ich, in meiner Verlegenheit, um nur irgend etwas zu sagen. »Wahrscheinlich! « stimmte mir Eglseder zu.

Es regnete, als ich ihn verließ, in langen, dünnen Fäden fiel das Wasser vom Himmel. Eine schwarze Lache hatte sich vor der Haustüre gebildet: die alte, enge Gasse war schlecht gepflastert. Zwei Rotschimmel im baumelnden Messing-Geschirr zogen einen mit Teerfässern beladenen Wagen. Der gutmütige Blick der Gäule bekam etwas schräg Tückisches, wie sie durch das weißblonde Stirnhaar herlugten, das ihnen über die Augen nieder hing. Ich drückte mich an die Hauswand vor dem Gefährt, aber es trafen mich doch ein paar Spritzer von der Wasserlache ins Gesicht. Wie Tränen wischte ich sie ab. Den finsteren, gotischen Häusern war der Regen gerade recht, der grau war wie sie, und so war es schon in ihrer Jugendzeit gewesen. Die Kreuzspinne, dachte ich, war vielleicht keine, sondern ein Weberknecht. Von Fliegen nähren sich beide. Die eisernen Weberknechte in Eglseders Waisenhaus kamen mir in den Sinn.

Aus einem Obstladen drang ein Geruch von Äpfeln. Es lagen auch Birnen bei den Äpfeln, aber der Apfelgeruch war stärker. Um die Domtürme flogen Dohlen, boshaft kreischend, und zankten sich, auch der Regen konnte sie nicht besänftigen. Beter nahten sich, alte Frauen zumeist, und Kinder, zur Vesperandacht, unter schwarzen Schirmen. Ungeschützt ging ich nachhaus.

Oft machten wir drei uns, bei schönem Wetter, auf den Weg, vor die Stadt hinaus, durch die Maulbeerbaum Allee nach Ziegetsberg und weiter. Dann hatte der kleine Eglseder es nicht leicht. Seine Schulbildung war gering, nur das Leben hatte ihn gebildet, und was er an Kenntnissen besaß, verdankte er dem fleißigen Lesen von Zeitungen – ein Buch sah man nur selten in seiner Hand. Aber er war von gutem Verstande, witzig und geistesgegenwärtig und wußte sich verblüffend zu halten. Wir waren oft so taktlos, um nicht zu sagen gemein und niederträchtig, Prüfungen mit ihm anzustellen, mit Fragen aus unserm Schulsack. »Wer war Spinoza?« erkundigte sich Egidi. »Ein jüdischer Philosoph«, antwortete Eglseder, wie aus der Pistole geschossen. Nun, Genaueres wußte ich auch nicht von dem Manne, vielleicht Egidi. »Und Euripides?« drängte der Volkswirt, mit drohend erhobener Stimme. Das war viel verlangt. Eglseder sah ihn mißtrauisch an, wie ein Fuchs, der eine Falle wittert, und sagte stotternd: »Ein . . . ein . . . Dichter!« Wir konnten ihm nicht widersprechen, wußten aber, daß er es nur erraten hatte. Eglseder blähte sich. »Ihr Siebengescheiten«, sagte er. Ein Vogel stieg tirilierend ins Blau, und er sagte: »Eine Lerche!« So wollte er uns ablenken. Wenn er nach einem Namen gefragt wurde, von dem er nur eine dämmernde Ahnung hatte, pflegte er in letzter Not zu sagen: »Ein Astronom!« So machte er aus Grimmelshausen einen Sterngucker. Wir lachten und hatten ihn gern, und er uns, auch wenn wir ihn quälten. Und die Lerche sang.

Egidi hatte die Metzgerei im Rosenhaus verpachtet, an den schiefzahnigen, hinkenden Gesellen, und lebte jetzt bei seiner Tante, einer Schwester seines Mütterchens. Wenn uns der Prälat Stoiber begegnete, der einen langen, wallenden Bart trug – das ist einem Priester sonst nicht erlaubt, er durfte es, eines Kehlkopfleidens wegen – grüßte ihn Eglseder tief und ehrerbietig. Der Prälat grüßte lustig zurück, seinen grauen, eingerollten Regenschirm hebend wie einen Feldherrnstab. Sein schwarzer Bart flatterte im Wind. »Sei nicht so unterwürfig«, grollte Egidi, »du Pfaffenknecht!« Eglseder ereiferte sich: »Was wißt ihr denn?« sagte er, »der Mann hat auch was erlebt! Er war in China als Missionar. Er hat auch faule Eier gegessen.« Egidi sah einem Ladenmädchen nach, das auf hohen Beinen vorüber ging, und ihre Röcke rauschten. Auch Eglseder wandte keinen Blick von der jungen Dame. »Faule Eier wären nicht gerade mein Gusto!« sagte Egidi. »Was der Bauer nicht kennt«, sagte Eglseder, »das frißt er nicht! In China mag der Landmann keine Leberwürste.« Das Ladenfräulein war in die Nebengasse eingebogen. Egidi fragte: »Hat der Prälat viele Chinesen bekehrt?« Das wußte Eglseder auch nicht.

Er stand auf vertrautem Fuß mit allen wichtigen Männern der Stadt, selbst mit dem Bürgermeister, auch mit der hohen und niedrigen Geistlichkeit, mit Mönchen und jeglichem Kuttenvolk, er, der scharfe Freidenker! Oft war er zu Gast bei dem Leiter der Kirchenmusikschule. Der wandelte fett und schwer und Virginias rauchend durchs Leben. Eine weiße Weste umspannte seinen Bauch, eine goldene Uhrkette schmückte ihn, und die Hosen hatte er so hoch gezogen, daß man seine Gummistiefel sah. Er selber sah niemand, er war sehr kurzsichtig und tappte bärenhaft dahin. Er sei ein bedeutender Tonsetzer, belehrte uns Eglseder, habe wunderbare Sachen geschrieben, ein zweiter Orlando di Lasso. »Wer war Orlando di Lasso?« drehte er den Spieß um. »Ein Astronom«, hohnlachte Egidi. Eglseder würdigte ihn keiner Antwort. Von Musik verstand er mehr als wir, darüber war nicht zu streiten, und das stellte das Gleichgewicht wieder her.

Auf einem der kleinen Ausflüge, die wir drei fast täglich machten, waren wir in die Nähe der Kreisirrenanstalt geraten, die nicht weit von der Stadt auf einer Anhöhe lag. Das Gebäude war ein ehemaliges Benediktinerkloster und nannte sich jetzt mit sanft-zurückhaltendem Namen: Heil und Pflegeanstalt. Fromm und geistlich wirkte es noch immer. Das große Tor stand weit offen und gab den Blick frei auf einen mit Kies bestreuten Hof, in dessen Mitte ein Kastanienbaum einen kreisrunden Schatten warf. Seine schon abgeblühten Kerzen trugen kleine, grüne, gestachelte Kugeln, deren viele sich zu Füßen des Baums gesammelt hatten, vom Wind herabgeschüttelt. Heut ging kein Wind, und nicht das leiseste Lüftchen regte sich.

Gegenüber dem offenen Tor, unter dem wir standen, war ein kleines, geschlossenes, mit Eisenbändern festverriegeltes, zu dem ein paar Stufen führten. Dort war der Eingang zu einem Bau aus roten Ziegeln, der aus neuerer Zeit stammte. An seinen Fenstern waren gelbe, leinene Vorhänge herabgelassen, die Fensterstöcke freundlich mit kurz gehaltenem Efeu bewachsen. Das Ziegelhaus diente amtlichen Zwecken, hatte man den Eindruck, es war ein Verwaltungsgebäude wahrscheinlich. Links und rechts davon schlossen sich Gärten an, einige höhere Baumwipfel sah man.

Auch die alte Klosterkirche stand noch im Hof, klein, mehr eine Kapelle, und ein niedriger, stumpfer Turm aus grob gehauenen Quadern überragte sie nur wenig. Ein Röhrenbrunnen daneben goß sein Wasser in einen länglichen Steintrog. Grünes Algenzeug hatte sich darin angesiedelt, Entengrütze, und sonst Wasserpflanzen. Das schwankte und wogte, von dem steten Wasserstrahl bewegt, unaufhörlich, und plätscherte und plapperte, redselig und vertraulich. Mit wem sprach der Brunnen? Niemand war zu erblicken, menschenleer war der Hof. Von dem Blitzableiter auf dem Dach des Ziegelhauses fuhr ein Sonnenblitz herab, funkelte durch die Zweige der Kastanie und verlosch gleich wieder.

Wir gingen dann weiter, auf der Landstraße dahin, die endlos und staubig sich dehnte, von hohen Pappeln gesäumt. Brennesseln und Disteln wuchsen üppig im Straßengraben, und gelbe Königskerzen, gar nicht sehr königlich mehr anzuschauen, halb verdorrt schon, zerzaust und zerschlissen, vom Staub dick gepudert. Von schmalen Pfaden, die von der Straße wegführten, ließen wir uns verloccken, stolpernd und rutschend und ziellos unsern Weg auf ihnen zu nehmen, über Maulwurfshügel hinweg, zwischen Getreidefeldern dahin, zwischen Roggen und Weizen, in denen der Mohn rot leuchtete. Voll Bienengesumm war die Luft, voll unbestimmbaren Sommergeräusches, an dem auch die Hummeln ihren brummenden Anteil hatten, und mit einem hohen, gläsernen, gefährlichen Ton surrten die Stechmücken. Sie nahmen uns kein Blut ab, sie hatten keinen Durst heut oder sich schon sattgetrunken, anderswo. Die Kornblumen in dem Halmgestänge waren wie züchtige Jungfern, die ein blaues Strahlenkrönchen tragen, auch Kornraden waren da, diese seltener, hellviolett sie, in der Farbe an kirchliche Gewänder erinnernd.

Ein Hahn krähte von einem Bauerngehöft herüber, zu sehen war es nicht, es lag wohl in einer Mulde geborgen. Ich malte ihn mir, wie er auf einem morschen Lattenzaun saß, bei einem honigbraunen Düngerhaufen, nachlässig und prächtig die krummen, grüngoldenen Schwanzfedern hängen lassend, und auch der Düngerhaufen schimmerte wie Gold, von goldenen Fäden durchzogen. Riesig mußte der Hahn sein, so mächtig war seine Trompetenstimme, frech und herausfordernd. ›Dieser Pascha‹, dachte ich, ›dieser Weiberheld‹, und sah in Gedanken wie die Hühnerschar ihn umwandelte, jederzeit seiner Huld gewärtig.

»Der blöde Gockelhahn«, sagte Egidi, »hat keine richtiggehende Uhr.« Er sah auf seine Armbanduhr, es war am frühen Nachmittag, bei gewaltiger Sonne, blauschwärzlich war der Himmel, nackt und einsam. »Er kann krähen, wann er will und mag«, antwortete ihm der kleine Eglseder gereizt, »nicht nur bei Sonnenaufgang, wie es in deinem Volksschul-Lesebuch stand. Und dich wird er vorher um Erlaubnis bitten!«

Eglseders Gesicht war puterrot, die Hitze hatte ihm arg zugesetzt, wie uns auch. Egidi pflückte sich eine Ähre aus dem Segen um uns, rieb sie zwischen den Händen, daß die Körner sich lösten, steckte sich eins in den Mund und biß darauf herum. »Noch nicht fertiggebacken«, sagte er und spuckte es verächtlich wieder aus. »Der Backofen ist aber gut geheizt«, stöhnte Eglseder und schob den Hut in den Nacken. Sein Gesicht glänzte von Schweiß, seine Stimme knarrte, trocken und böse.

Über den Kornfeldern wogten die Schmetterlinge, ruhelos, aber still und friedlich, als gäbe es keine Feinde für sie, die Unbewaffneten. Kohlweißlinge waren es und Zitronenfalter, lauter gewöhnliches Volk, kein Trauermantel war dabei oder Admiral oder sonst ein adliges Stück.

Ohne Absicht, blindlings dahin auf den verschlungenen Pfaden, die sich trafen und wieder verließen, und von der Sonne geblendet, hatten wir ohne es zu merken einen Bogen geschlagen und waren nun auf der Rückseite der Anstalt, nahe schon einer hohen, weiß gekalkten Mauer, die das Weitergehen verwehrte. Da sahen wir hinter den eisernen Gitterstäben eines offenen Fensters im zweiten Stock ein bleiches Frauengesicht auftauchen, von aufgelöst herabhängenden Haaren umrahmt. Das Gesicht war in Schmerz verzerrt, und jetzt begann die Frau an den Stäben zu rütteln, mit beiden Fäusten, als wolle sie das Hindernis aus den Fugen reißen, mit aller Gewalt, und gellende Rufe schickte sie zu uns herab. Wir verstanden nicht, was sie schrie, zornig klang es und flehend zugleich, in Schmerzen nach Liebe verlangend. An einem zweiten und dritten Fenster zeigen sich Frauen in blau und weiß gestreiften Krankenhauskitteln und rissen an den eisernen Stangen, und schrien – ein Schrei schien sich an dem andern zu entzünden, als brenne ein Feuerwerk knatternd ab.

Die Kittelweiber, alte, runzlige Gesichter hatten manche, mit Falten um den eingefallenen, zahnlos gewordenen Mund, mit Gesichtern auch, jung und zart und lieblich gerundet wie die Unschuld selbst, sie alle streckten die Arme aus den Fenstern, nackt bis zum Ellbogen, weil die Ärmel sich an den Stäben verschoben, und winkten uns zu kommen, zu ihnen hinaufzukommen! Und wenn wir ihre Worte nicht verstanden, wir verstanden, was ihre Arme uns sagten, schauerlich unmißverständlich. Es war, als wollten sie uns ergreifen und zu sich hinaufheben, an ihre arme, entbehrende Brust uns zu drücken, uns zu herzen und uns schön zu tun auf alle Weise. Sie warfen uns Küsse zu mit den Händen, viele tausend, und preßten sich gegen die eisernen Stäbe, aber die waren unbarmherzig und gaben nicht nach.

Nur eine der Frauen verhielt sich anders. Sie war jung und schlank, trug den Krankenhauskittel nicht, war weiß gekleidet und hatte einen kleinen Kranz von weißen Heckenrosen im schwarzen Haar. Sie stand mit den andern am Fenster, rührte sich nicht und schrie auch nicht. Dreimal um den Hals geschlungen hatte sie eine Kette schwarzer Perlen, schwarze Holzkugeln mochten es sein. Erstaunlich war es, daß keine der Hexen sie von ihrem Platz zu verdrängen suchte, daß keine ihr die Blumen vom Kopf zu reißen unternahm, unberührbar schien die schöne weiße Gestalt, vornehm und bevorrechtet. So verharrte sie stumm und reglos im Kreis ihrer aufgeregten Schwestern, die achtungsvollen Abstand von ihr hielten. Sie sah auch nicht zu uns herab, sah zum leeren, wolkenlosen Himmel hinauf, wo doch gar nichts zu sehen war. Dann legte sie ihre Hände so aneinander, wie spielende Kinder es tun, sich ein Fernrohr zu machen, und spähte eifrig hindurch, das Himmelsgewölbe abzusuchen nach allen Richtungen, lange und genau und mit Wichtigkeit. »Was sucht sie denn, was sieht sie denn?« fragte mich flüsternd Eglseder. »Vielleicht Engel«, sagte ich. »Es gibt aber doch gar keine Engel«, murrte der aufklärerisch gesinnte Eglseder, zornig fast, und doch wie an sich selbst zweifelnd. »Vielleicht aber Erzengel!« sagte wütend Egidi. Dunkelrot waren seine Säbelnarben. Die bekränzte Frau am Fenster schüttelte unwillig den Kopf und ließ das Fernrohr sinken, mit einer traurigverzichtenden Bewegung. Sie trat langsam in den Hintergrund zurück und war nicht mehr zu erblicken. Desto lauter zeterten jetzt, die an den Fenstern blieben, mit aller Stimmkraft, ein satanischer Chor.

Wir fingen an uns zu fürchten vor dem Aufruhr, den wir entfesselt hatten. Da war der still-fromme Klosterhof, drüben, auf der anderen Seite, wo der Brunnen sein Wasser in den Steintrog goß, kühl und rein war das, wie die gelehrten Mönche bei ihren Büchern einst zu sein sich bezwangen, in deren verlassenen Zellen jetzt die wilden Weiber tobten. »Ach, gehen wir!« sagte Eglseder, und ich sah, daß er zitterte und meinen Blick vermied.

Wir drehten um und gingen auf den Pfad zurück, auf dem wir gekommen waren. Der Mohn in den Ahren glühte, lautlos schrie auch er, und die Stechmücken surrten, und Bienen und Hummeln machten ihre eintönige Sommermusik. Daß wir gingen, steigerte den Zorn der Verschmähten, ihr Kreischen wurde zu einem heiseren Röcheln, und trauriges Gelächter mischte sich darein. Die Schmetterlinge über den Feldern, als habe ein Windstoß sie getroffen, wirbelten plötzlich durcheinander, einem neuen Gaukelspiel hingegeben – aber kein Wind war zu spüren, wie heut den ganzen Tag nicht, schwarz schwieg der Himmel. Dann vereinigten sie sich zu einer Wolke, und die Wolke flog uns nach und blieb über unsern Häuptern, in einem unaufhörlichen Auf und Nieder. Ein großer Zitronenfalter flog vor Eglseders Gesicht und benahm sich, als gäb es dort Honig zu kosten. Eglseder schlug nach ihm, der aber ließ sich nicht vertreiben, ließ sich auf Eglseders entsetzt abwehrenden Mund nieder, immer wieder.

Mit einemmal dann stieg die Schmetterlingswolke empor, hoch und höher, und flog auf die Getreidefelder zurück, das Faltergeschwader, wie einem Befehl gehorchend, und zerstreute sich zu gewöhnlichem Tun. Auch der Gelbgeflügelte ließ von Eglseder ab, gehorsam dem Gesetz auch er, und folgte den luftigen Brüdern. Immer noch drangen von der Anstalt her abgerissene Schreie zu uns, und jetzt krähte auch wieder der Pascha, der Hahn, seinen mächtigen Goldschrei, durchdringend und triumphierend.

Schneller schritten wir aus, die Landstraße zu erreichen, und erreichten sie, und hatten wieder festen, zuverlässigen Boden unter den Füßen, die sichere Erde, sie war noch da und trug uns, fast verwunderte es uns. Eglseder zumal, der sich mit dem Handrücken ein paarmal barsch über den Mund fuhr, den Falterkuß wegzuwischen, wegzureiben er spürte ihn, sagte er, immer noch, und lachte töricht.