Ergänzende Werke

In den Sämtlichen Werken nicht enthalten

„Was ist Glück“

Ein 100 Jahre alter Beitrag zum Thema mit dem Gedicht „Die drei Zigeuner“ von Nikolaus Lenau

Briefe Georg Britting und Günther Herzfeld-Wüsthoff

Georg Britting und Günther Herzfeld-Wüsthoff – Eine Freundschaft mit Brüchen von Ingeborg Schuldt-Britting

Ein Gedicht

Der Wein ist weiß wie Schnee!
Der Wein ist rot wie Blut!
Trinkt! Trinkt! Und seid nicht bange!
Auf eines Kindes Wange
Könnt ihr die beiden Farben sehn
Im Frieden nebeneinander stehn!

Prosa

Tage im Quartier

Es ist wie im Lande der Schlaraffen. Man muß den Platz suchen, wo man den Fuß hinsetzen kann, ohne einen Apfel zu zertreten, Rote pausbäckige und gelbe Edelschöne, braune Lederäpfel und flammende Wunderkugeln – o, du glückseliges Neuville–Day! Vor uns waren hier Preußen im Quartier. Die haben große Haufen von Äpfeln gesammelt; hinterieder Hecke ist einer aufgeschichtet. Aber sie wurden des Segens nicht Herr. Die Neuviller Weiber haben die Keller voll von Äpfeln. Vor jeder dritten Tür knarrt eine Apfelpresse. Der Cidre, der Apfelmost, fließt in Strömen, der Liter zu acht Pfennigen. Aber die Äpfel wollen nicht weniger werden. Eine Luxemburgerin, die aus ihrer jugendzeit noch ein wenig deutsch gerettet hat, erzählt: » Seit den dreißig Jahren, die ich hier bin, habe ich noch nicht so viele Äpfel gesehen!« Wo man hintritt Äpfel. Es ist wie im Lande der Schlaraffen.

Mademoiselle Apolline Longis ist sechsundachtzig Jahre alt und häßlich wie eine Eule. Sie hockt den ganzen Tag vor dem Kamin. Ich habe ihr gestern einen Zipfel Wurst geschenkt – Gott erhalte mir für immer einen gleichen Appetit, wie ihn diese französische Jungfrau besitzt.

Ich schlafe gemeinsam mit Leutnant Michtl in einem Himmelbett. Zuvor lagen wir vier Wochen im Kalkschlamm der Schützengräben der Champagne. jetzt schlafe ich gemeinsam mit Leutnant Michtl in einem Himmelbett.

Ich esse den ganzen Tag Äpfel, die ich selbst in der Glut des Kamins brate. Wenn die Äpfel recht schön singen, träume ich von daheim Germaine ist die schöne Nichte von Fräulein Apolline. Gestern trug sie ein enganliegendes blaues Kleid und lächelte, als ich sie bewundernd anstaunte. Sie ist mittelgroß, rundlich, hat rotblondes Haar und eine kecke Stupsnase.

Hügel an Hügel, leicht gewellt, die Berge der Ardennen. Die Straße ist gefroren. In der blitzenden Luft ein Flieger, der sich langsam höher schraubt. Das dunkle Wasser des Kanals glänzt.
Germaine bringt mir Französisch bei. Wenn ich an meinen Lehrer für Französisch in der Schule denke – – !

Germaine hat so schöne, feuchte, rote Lippen.

Ich lerne den Kanal lieben. Lange kann ich seinen schwarzglänzenden Spiegel betrachten. Stehendes Wasser sieht unergründlich aus. Und ich weiß doch, daß der Kanal nur zwei Meter tief ist.
Mademoiselle Apolline hat eine rotgetigerte Katze mit grünen Augen. Als ich ihr gestern ein Stück Fleisch gab, biß sie mich in den Finger. Ich kann das Vieh seitdem nicht mehr leiden. Michtl will sie erschießen, wenn er es unbeobachtet tun kann. Er haßt die Katze noch mehr als ich.

Germaine trägt über ihren kleinen, schwarzen Lederschuhen Holzpantoffel. Sie hat die Anmut einer Tänzerin, wenn sie beim Betreten des Zimmers aus den Holzschuhen schlüpft. Ich möchte Germaine küssen.

Michtl hat gestern in seinem Hemd eine Laus gefunden. Und wir glaubten, ihnen hier im Quartier entrinnen zu können. Gott sei Dank sollen wir in den nächsten Tagen nach Sedan zur Entlausung kommen.

Ich möchte Germaine küssen. –

Es schneit. »C‘est l‘hiver« sagt Mademoiselle Apolline bedeutungsvoll zu mir. Ich freue mich auf den Winter.

Germaine hat so eine Art, mich plötzlich, unvermittelt, mit großen Augen anzuschauen. Sonst ist sie sehr zurückhaltend, ganz Dame. Ihr verstorbener Vater war Fabrikdirektor in Charlesville.
Dein Franzmann nebenan hat ein deutsches Schrapnell das Dach seines Hauses zerschlagen. Das war im August 1914. Jetzt haben wir November 1915.. Das Dach ist noch nicht geflickt. Ich wünsche, daß es dem Kerl in die Suppe regnet.

Ich habe gesehen, wie eine Frau ihre Kühe mit Äpfeln fütterte. –

Als unsere Musik einen Marsch spielte, fingen die Pferde der Feldküche an, feierlich mit den Köpfen zu nicken und mit den Beinen im steifen Stehschritt auf der Stelle zu treten. Ich lachte, daß mir das Wasser in die Augen kam. Der Fahrer sagte mir, daß es zwei alte Zirkuspferde seien.

Gestern hat man uns in Sedan entlaust. Zweihundert nackte Männerleiber wanden sich in Entzücken unter der Gnade einer heißen Dusche. Auf der Heimfahrt sagte Michtl mit Bedeutung: Endlich allein!
Neuville–Day liegt auf einem flachen Höhenzug. Die alte Kirche ist wenig von Granaten beschädigt, wie das ganze Dorf Die Bevölkerung, Frauen, Kinder, alte Männer, leben fast ausschließlich von Kartoffeln. Zucker, Salz, Reis, etwas Rauchfleisch erhalten sie nur einmal im Monat gegen teures Geld von Amerika geliefert. Unsere Soldaten geben ihnen von ihrem Fleisch ab.

Ein schwarzbärtiger Franzose hat heut ausgeklingelt, daß es in Mourgon Pferdefleisch zu kaufen gebe.

Germaine hat mir ihre Ansichtskartensammlung gezeigt. Wir haben sie gemeinsam angesehen. Mademoiselle Apolline hat dazu unfreundlich geknurrt.-

Der Himmel ist grau, wolkenverhangen. Der Winter hat sich verkrochen. Es sieht nach Regen aus. Ich habe einen Spaziergang nach Semuy gemacht. Ich bin in trüber Stiminung. In fünf Tagen gehts wieder an die Front. Ich habe es Germaine gesagt. Sie lächelte.

Es regnet.
Gestern war Sonntag. Am Abend saßen wir im Kasino, tranken guten Wein und machten schlechte Witze. Der Stabsarzt entwickelte seine Gedanken über die deutsche Einheitsschule. Um ein Uhr nachts trank ich einen Schnaps und ging nach Hause.

Germaine hat Kopfweh. Sie sitzt fröstelnd am Kamm und wickelt sich in ihr Umschlagtuch. Die Alte ist sehr besorgt um sie.

Ich bin der Katze verstohlen auf den Schwanz getreten. Da ist sie fauchend entwetzt.

Es ist wieder kälter geworden. Der Abendweg am Kanal ist so schön. In Mourgon blitzt ein vereinsamtes Licht auf, Die Weidensträuche sind wie geduckte Riesenhennen.

Germaine flieht aus dem Zimmer, wenn ich eintrete. Draußen ists kalt und nebelig. Mademoiselle Apolline kaut Zwiebeln in ihrem zahnlosen Mund. Michtl läßt sich die Haare schneiden.

Der Boden ist mit erfrorenen Äpfeln bedeckt. Es jammert einem. Am Himmel jagen zerrissene Wolkenfetzen, von einem bösen Wind gehetzt. Aus Richtung der Argonnen grollt schon seit zwei Tagen dumpf Kanonendonner.

In dem Leuchter brennt meine letzte Kerze. Ich flühle wie Germaine mich leise, zärtlich mit den Füßen stößt. Sie sieht mich mit entflammten Augen an. Dann bläst sie das Licht ans und fällt mir um den Hals, küßt mich, heiß, wild –

Die Alte hat das Licht wieder entzündet und Germaine von mir weggerissen.

Germaine ist wahnsinnig. Ihr Vater war Epileptiker und hat sich im Kanal ertränkt. Alle Vierteljahr, alle Halbjahr wird Germaine voll ihren Anfällen gepackt. Dann ist sie mannstoll.
Übermorgen geht‘s fort. Klirrend ist der Winter wieder gekommen. Der Kanal will zufrieren. Ich habe beim Marketender Zucker, Kaffee und Schokolade gekauft und Mademoiselle Apolline geschenkt. Germaine habe ich dabei überrascht, wie sie meinen alten verknüllten Schützengrabenmantel streichelte.

Heute war das Begräbnis einer alten Frau. Die Glocken läuteten. Ich habe schon lange keine Glocken läuten gehört.

Ich habe Lebkuchen von zu Hause geschickt bekommen. Die schmecken gut zum Cidre. Mademoiselle Apolline findet das auch. – –

Die letzte Nacht im Himmelbett, der Tornister ist gepackt; der Mantel gerollt. –

Ich ging über die Höhen, nach Mourgon. Die Äpfel faulten am Boden mit starkem Geruch. Den Rückweg machte ich den Kanal entlang.

Mittag habe ich mir selbst gekocht. Gebratenes Rindfleisch mit Kartoffeln und Zwiebel. Michtl hat das Bier dazu geliefert. – –

Ich habe eine Tornisterausgabe vom »Faust«. Ich hab lange drin gelesen heute. Gretchen und Germaine, die Kerkerszene – – – – –

Bataillonsbefehl: Die Kompagnien stehen nachmittag drei Uhr auf der Straße Neuville–Day nach Semuy, Ostausgang Neuville–Day. Reihenfolge 9, 10, 11, 12. – –

Ich trat aus der Haustüre –. Germaine weinte, Mademoiselle Apolline wünschte viel Glück und die Katze sah mir höhnisch nach. Leider hat sie Michtl nicht totgeschossen.